Bauwelt

Projekt C.A.S.E.

Text: Kusch, Clemens F., Venedig

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    Die italienische Stadt L'Aquila wurde am 6. April 2009 von einem Erdbeben erschüttert.

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    Die italienische Stadt L'Aquila wurde am 6. April 2009 von einem Erdbeben erschüttert.

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    Der öffentliche Raum der Abruzzen-Hauptstadt (hier die Piazza del Duomo vor dem Erdbeben) ...

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    Der öffentliche Raum der Abruzzen-Hauptstadt (hier die Piazza del Duomo vor dem Erdbeben) ...

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    ... ist seither weitgehend zerstört. Das Zentrum ist notdürftig abgesichert, bleibt aber Geisterstadt.
    Ulrich Schwarz

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    ... ist seither weitgehend zerstört. Das Zentrum ist notdürftig abgesichert, bleibt aber Geisterstadt.

    Ulrich Schwarz

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    Die ehemaligen Bewohner des zerstörten Zentrums wurden in neu gebaute Siedlungen im Umland von L'Aquila umgesiedelt. Eine von ihnen ist Assergi.

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    Die ehemaligen Bewohner des zerstörten Zentrums wurden in neu gebaute Siedlungen im Umland von L'Aquila umgesiedelt. Eine von ihnen ist Assergi.

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    Die neuen Häuser wurden auf einem erdbebensicheren Luftgeschoss errichtet.

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    Die neuen Häuser wurden auf einem erdbebensicheren Luftgeschoss errichtet.

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    Dieser "Rütteltisch" aus Beton bewahrt die Neubauten vor dem Einstürzen bei einem weiteren Beben.

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    Dieser "Rütteltisch" aus Beton bewahrt die Neubauten vor dem Einstürzen bei einem weiteren Beben.

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    Das Luftgeschoss kann allerdings nur zum Parken genutzt werden. Brutaler und gesichtsloser kann man sich erdbebensichere Architektur kaum vorstellen.

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    Das Luftgeschoss kann allerdings nur zum Parken genutzt werden. Brutaler und gesichtsloser kann man sich erdbebensichere Architektur kaum vorstellen.

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    Für alle Wege sind die Bewohner auf das Auto angewiesen, Busse fahren selten.

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    Für alle Wege sind die Bewohner auf das Auto angewiesen, Busse fahren selten.

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    Insgesamt 185 Häuser mit etwa 4700 Wohnungen für 15.000 Bewohner wurden auf diese Weise im Rahmen des Programms C.A.S.E. errichtet. Hier: Camarda

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    Insgesamt 185 Häuser mit etwa 4700 Wohnungen für 15.000 Bewohner wurden auf diese Weise im Rahmen des Programms C.A.S.E. errichtet. Hier: Camarda

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    Der Weg von Camarda nach L'Aquila erscheint nah, ist aber zu Fuß im Alltag nicht zu bewältigen.

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    Der Weg von Camarda nach L'Aquila erscheint nah, ist aber zu Fuß im Alltag nicht zu bewältigen.

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    Auch in Coppito bietet sich ein ähnliches Bild:

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    Auch in Coppito bietet sich ein ähnliches Bild:

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    Ökologisch korrekte Neubauten ...

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    Ökologisch korrekte Neubauten ...

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    ... auf Wackeltischen.

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    ... auf Wackeltischen.

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    Der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi hatte zwar den Bewohnern medienwirksam fertig eingerichtete Wohnungen zur Verfügung stellen lassen, ...

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    Der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi hatte zwar den Bewohnern medienwirksam fertig eingerichtete Wohnungen zur Verfügung stellen lassen, ...

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    ... doch das öffentliche Leben bleibt zerstört.Im Bild die Siedlung Paganica.

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    ... doch das öffentliche Leben bleibt zerstört.Im Bild die Siedlung Paganica.

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    Bauwelt-Redakteur Ulrich Brinkmann hat die Siedlungen rund um L'Aquila besucht. Mehr dazu im aktuellen Heft.

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    Bauwelt-Redakteur Ulrich Brinkmann hat die Siedlungen rund um L'Aquila besucht. Mehr dazu im aktuellen Heft.

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Ulrich Brinkmann


Projekt C.A.S.E.

Text: Kusch, Clemens F., Venedig

Ein erdbebensicheres Luftgeschoss ist die gemeinsame Basis des neuen L’Aquila. Darauf wurden 16 verschiedene Wohnhaustypen errichtet. Verstreut über 19 Brachen in der Umgebung des Stadtzentrums, wurde die unmittelbar nach dem Erdbeben von Berlusconi fantasierte „New Town“ nun doch realisiert – mit fragwürdigem Ergebnis.
Die Abkürzung C.A.S.E. steht für „Complessi antisismici sostenibili ed ecocompatibili“, was so viel heißt wie „erdbebensichere, nachhaltige und ökologische Baukomplexe“. „Case“ bedeutet im Italienischen aber auch einfach „Häuser“. Dies sind die nach dem Erbeben vom 6. April 2009 in der Umgebung von L’Aquila kurzfristig errichteten Wohnbauten schließlich in erster Linie: Häuser. Das heißt, sie entsprechen den grundsätzlichen Anforderungen: Sie schaffen ein sicheres Dach, unter dem man trocken, geschützt und komfortabel wohnen kann. Dass sich die Ansprüche an „Häuser“ im Laufe der Geschichte entwickelt haben und bei ihrer Planung symbolische und soziologische Aspekte ins Spiel gekommen sind, die die Architektur ausmachen, besonders aber, dass aus einfachen „Häusern“ komplexe Städte entstanden sind – all dies war bei dem Projekt C.A.S.E. zweitrangig. Und so lässt sich in Hinblick auf  diese „Häuser“ feststellen, dass zumindest dem ersten Aspekt, der Erdbebensicherheit, mustergültig Rechnung getragen worden sein mag, etliche andere Leistungen aber ignoriert wurden – was den zweiten und dritten Aspekt, den sie im Namen tragen, konterkariert.
Die Einseitigkeit der „C.A.S.E.“ hat einen Grund: In kürzester Zeit sollte den in Zelten und anderen provisorischen Herbergen untergebrachten Bürgern von L’Aquila eine „ehrenvolle“ Unterkunft angeboten werden. Der Faktor Zeit war also von primärer Bedeutung. Betrachtet man die Chronik der Wiederaufbauleistungen nach den vielen Erdbeben, die Italien im letzten Jahrhundert erlebt hat, so zeigt diese zahlreiche Fehlentwicklungen. Meist wohnten die Opfer noch jahrelang in provisorischen Bauten, in Hütten, Wohnwagen oder Containern. Der Wiederaufbau oder Neubau der Städte zog sich oft über Jahrzehnte hin und führte in vielen Fällen zu fragwürdigen, wenn nicht gar zu niederschmetternden Ergebnissen: Man denke nur an die nach dem Erdbeben von 1968 mit dem Beitrag von internationalen Künstlern und Architekten gebaute Neustadt Gibbelina Nuova im Südwesten Siziliens.
In L’Aquila sollten diese Fehler nicht wiederholt werden, hier sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass es auch anders geht. Die Politik wollte den Bürgern der Abruzzen-Hauptstadt nicht zumuten, lange in provisorischen Bauten zu leben. Mit großem Engagement und vielen Ortsbesichtigungen – die ausführlich und emphatisch in den Medien gespiegelt wurden – zeigte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi seinen Ehrgeiz, die Entbehrungen der Aquilaner zu mindern. Schon bei der ersten Besichtigung der getroffenen Stadt sprach Berlusconi von der Idee einer „New Town“: einer ökologischen Idealstadt, die unmittelbar neben der Altstadt entstehen sollte. Als ehemaliger Immobilieninvestor verfolgte er diese Idee schon vor dem Erdbeben als Ansporn der schwächelnden Wirtschaft – mit dem 6. April 2009 sah er dann eine Gelegenheit, seine Pläne umzusetzen. Zum Glück scheiterte die Idee einer kompletten „New Town“ für 30.000 Einwohner am Widerstand des Bürgermeisters Massimo Cialente, der zu Recht bangte, dass damit die Altstadt für alle Ewigkeit der Verlassenheit anheimfallen würde. Die Idee der „New Town“ wurde jedoch nicht vollends aufgegeben, sondern abgewandelt: Kurzfristig wurde beschlossen, an mehreren Stellen in der Provinz L’Aquila kleine und mittelgroße Quartiere für die obdachlose Bevölkerung zu errichten. Beauftragt damit wurde die „Protezione Civile“, eine Art Katastrophenschutz, der in den Jahren der Berlusconi-Regierung sein Einflussgebiet und seine Macht außerordentlich ausgeweitet hat. Die „Protezione Civile“ darf heute Gesetze und Regelungen aufheben, wenn dies dem Interesse der Umsetzung ihrer Aufgaben oder dem „Schutz“ der Bevölkerung dient. Zuständig ist der Zivilschutz aber nicht nur für Katastrophen aller Art, sondern auch für die „grandi eventi“, Großveranstaltungen aller Art. Dies hat den Vorteil, dass man bei solchen Ereignissen, bei denen große Summen Geld im Spiel sind, bürokratische Hürden wie Flächennutzungspläne oder Regelungen für die Ausschreibung von Arbeiten mühelos umgehen und ungestört Direktvergaben an befreundete Unternehmen praktizieren kann.

Deadline Wintereinbruch
Vorgabe für die Realisierung der C.A.S.E. war es, die Unterkünfte so schnell wie möglich, auf jeden Fall aber vor Einbruch des Winters fertigzustellen. Wenn man die Realisierung der Häuser nur daran misst, kann man sie, wie in einem voluminösen und reich illustrierten Buch, das jedem neuen Einwohner geschenkt wurde, geschehen, durchaus als eine Erfolgsgeschichte erzählen: Mit großem organisatorischem Aufwand wurden in knapp neun Monaten 185 Häuser mit etwa 4700 Wohnungen für rund 15.000 Bewohner gebaut. Dafür mussten zunächst freie Flächen gefunden werden: Die Grundstücke mussten groß genug sein, möglichst nicht an einem zu steilen Hang liegen und geologisch geeignete Merkmale für die Bebauung aufweisen. In dem Umkreis der von Bergen umgebenen Stadt mit einem hohen Grad an Zersiedlung war allein das schon eine große Herausforderung. Schließlich wurden 19 Gebiete rings um L’Aquila ausfindig gemacht. Der größte Teil dieser Gebiete war nach den geltenden Nutzungsplänen nicht bebaubar und teilweise landwirtschaftlich genutzt. Die Grundstücke wurden mit der für Katastrophenfälle zugelassenen Eilprozedur enteignet und für die Bebauung freigegeben.

Häuser auf Rütteltischen
Trotz der unterschiedlichen Lage der Gebiete – einige, wie die von Sant’Antonio und Coppito, liegen auf ebenen Flächen unweit der Altstadt, andere, wie Assergi, Camarda und Arischia, sind in erheblicher Entfernung in der freien Landschaft und teils mit schönem Ausblick auf die Berge platziert, wiederum andere, wie Paganica und Sant’Elia, befinden sich in Vorstadtarealen oder in der Nähe kleinerer Ortschaften – wurde ein Grundtypus der Bebauung entwickelt. Die Priorität bei der Entwicklung dieses Prototyps für einen erdbebensicheren Wohnbau war eine möglichst schnelle Realisierbarkeit als Serienbau. Nach einer kurzen Voruntersuchung entschied man sich für ein aufwendiges erdbebensicheres Tragwerk, das zuvor kaum je in dieser Größenordnung Anwendung gefunden hatte. Eine Konstruktion mit einem traditionellen Stahlbetontragwerk, welches durchaus erdbebensicher realisiert werden kann, wurde ausgeschlossen, da der bewehrte Ortbeton zu lange Bauzeiten mit sich gebracht hätte.
In dem für die „C.A.S.E.“ von der „Protezione Civile“ entwickelten System wird das Gebäude selbst auf eine Art großes „Polster“ aus zwei Betonplatten gestellt. Die untere Platte ist im Erdreich gegründet und trägt ein enges Raster von steifen, 2,70 Meter hohen Stützen (meist als runde Stahlstützen, in einigen Fällen aber auch in Beton ausgeführt). Darauf wird die zweite Platte gelegt, ohne mit den Stützen steif verbunden zu werden. Zwischen den Stützen und der oberen Platte wird eine „Erdbebenisolierung“ eingefügt. Das darüber liegende Gebäude kann sich dadurch im Erdbebenfall horizontal frei in Bezug auf die steife Gründung bewegen, ohne dass Schäden in den Wohngeschossen entstehen. Auch sämtliche Leitungsverbindungen zwischen der steifen Bodenplatte und der Konstruktion darüber sind so ausgebildet, dass sie Schwingungen folgen können, ohne unterbrochen zu werden.
Das eigentliche Wohngebäude kann in verschiedenen Bauweisen realisiert werden: als Holztafelbau, Stahlskelett oder Betonfertigteilkonstruktion. Trotz der Regelmäßigkeit, mit der die Abruzzen von Erdstößen heimgesucht werden, erscheint dieses sehr aufwendige System doch eher überdimensioniert, zudem verhindert das „Polstergeschoss“ eine andere Nutzung des Erdgeschosses denn als Parkebene.
Für den Prototyp wurde die Abmessung der Bodenplatte auf 21 x 57 Meter festgelegt. Der Wohnbau steht auf 40 Stützen, angeordnet in einem Raster von 6 x 6 Meter. Die Geschosszahl wurde auf drei beschränkt, zusätzlich zu dem Parkgeschoss zwischen den beiden Platten. Damit wurde versucht, die Planung in die Umgebung, wo es nur wenige höhere Gebäude gibt, einzufügen. Auf diese Weise  entsteht eine Gesamtwohnfläche von circa 1650 Quadratmetern pro Gebäude-
einheit, verteilt auf Ein-, Zwei- oder maximal Drei-Zimmer-Wohnungen, die von jeweils zwei Treppenkernen erschlossen werden.

Die autogerechte Stadt
Ausgehend von diesem Prototyp wurden sämtliche städtebaulichen Planungen direkt durch das eigens eingerichtete öffentliche Planungsbüro unter der Leitung der „Protezione Civile“ ausgeführt. Da die Abmessungen im Grundriss nicht geändert werden durften, waren die Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt: Es waren nur wenige Varianten von paralleler oder rechtwinkliger Anordnung der Bauköper möglich. In einem simplen Baukastensystem wurden die 185 geplanten Blöcke je nach Größe der insgesamt 19 Areale mit einer Mindestzahl von drei (Collebrinconi), bis zu maximal 25 (Paganica) Blöcken auf die verschiedenen Gebiete verteilt. In den geneigten Gebieten wurden die Bauten parallel zu den Höhenlinien angeordnet, auf den – wenigen – ebenen Arealen so, dass große rechteckige Freiflächen zwischen den Zeilenbauten entstanden. Die grobe Anordnung der Blöcke auf den Grundstücken und die Festlegung, den Grundtypus nicht zu variieren, beides führte dazu, dass die C.A.S.E sehr auffällig geraten sind. Man erkennt sie schon von Weitem, da sie sich von der umgebenden Bebauung in Hinblick auf Größe, Farbigkeit und Materialität deutlich absetzen.
Während die Fertigung sämtlicher Bodenplatten bereits lief, wurde die Planung und Realisierung der Häuser ab oberer Bodenplatte öffentlich ausgeschrieben. Die anbietenden Firmen sollten auch einen Vorschlag für die Gestaltung des Baukörpers machen. Es sollte möglich sein, Aufzüge nachträglich einzubauen und die Häuser mit Solarzellen auszustatten. Die Vorschläge, die die Firmen zusammen mit ihren Architekten unterbreiten konnten, bezogen sich auf die Konstruktion (mit Ausnahme von Ortbeton), die Anordnung der Treppenkerne und Wohnungen, die Materialien und Farben der Fassaden. Dieser Spielraum wurde durch die insgesamt 16 ausgewählten Firmen auch voll ausgenutzt, sodass 16 verschiedene Haustypen entstanden sind. Die Bauten sind unterschiedlich konstruiert, haben entweder ein, zwei oder drei Treppenkerne, was zu unterschiedlich geschnittenen Wohnungen mit beid- oder einseitigem Ausblick führt; fast alle Bauten haben Laubengänge oder Balkone, und die Fassaden zeigen eine große Bandbreite an Holz, Stahl oder Putz mit teilweise kräftiger Farbgebung. In einigen Fällen wird der lange Baukörper in einzelne Blöcke unterteilt, um den Eindruck von kleineren Mehrfamilienhäusern zu erwecken, in anderen Fällen wird die Länge des Baukörpers durch Balkone und Laubengänge noch betont. Bei den größeren Gebieten wurden immer mehrere Varianten miteinander gemischt, und andersherum wurde eine Variante immer in mehreren Gebieten angewandt. Das lässt die Gebiete einerseits zwar nicht zu einheitlich erscheinen, ist andererseits aber den unterschiedlichen landschaftlichen oder städtebaulichen Situationen der C.A.S.E. nicht angemessen: Der deutsche Besucher fühlt sich an die Neubaublöcke aus DDR-Zeiten erinnert, die in ihrer starren Anordnung und seriellen Erscheinung an den Rändern von Dörfern und Städten entstanden. Und dieser Eindruck setzt sich beim Näherkommen fort: Auch wenn mit der Bepflanzung der neuen Wohngebiete gleich begonnen wurde, wirken alle Freiräume doch als reine Restflächen, die kaum genutzt werden und keinerlei stadträumlichen Charakter haben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Erdgeschoss, dessen funktional bedingte Ödnis jede Beziehung zwischen Außenraum und Wohnblock verhindert. Bei den von der Stadt entfernt in der Landschaft liegenden Gebieten mag dieser antiurbane Charakter vielleicht noch angehen, wobei nicht zu vergessen ist, dass auch dort die Bewohner vor ihrer erzwungenen Umsiedlung an die kleinteilige Raum- und Nutzungsstruktur der Altstadt von L’Aquila gewohnt waren. In den größeren Vierteln aber, wo bis zu 28 einzelne Blöcke gebaut worden sind, wie in Coppito oder Paganica, hätte der Charakter eines reinen Wohnghettos unbedingt vermieden werden sollen.
Mit fortschreitender Realisierung der C.A.S.E. wurde offenkundig, dass die Wohnungen nur für einen Teil der anfänglich rund 48.000 Obdachlosen reichen würden. Obwohl sich mehr als die Hälfte der Einwohner von L’Aquila, die nicht im eigenen Heim bleiben konnten, für einen staatlichen Geldbetrag entschieden hatten, um auf eigene Faust eine neue Unterkunft zu suchen, mussten nach der Räumung der Zelte vor Einbruch des Winters viele Bürger provisorisch in Hotels untergebracht werden. Aus diesem Zustand wurde ein weiteres Wohnbauprojekt entwickelt, die M.A.P. (Moduli abitativi provvisori = provisorische Wohnmodule). Hierbei handelt es sich um kleinere, nur zweigeschossige Holzhäuser, die anders als die C.A.S.E. irgendwann wieder abgebaut werden sollen. Bis dahin tragen sie zur Zersiedlung der Landschaft bei. Anfang März 2012 leben von den 33.672 Bürgern, die noch nicht in ihr Zuhause zurückziehen konnten, 12.969 in den C.A.S.E., 7202 in den M.A.P., 11.482 nutzen die staatliche Unterstützung für Mietwohnungen.

Silvio B. und der gefüllte Kühlschrank
Rechtzeitig vor Einbruch des Winters Ende 2009 konnten die ersten Bürgers von L’Aquila in die neuen Wohnungen einziehen. Die Bewohner fanden eine komplett eingerichtete Wohnung vor, die Berlusconi bei der wie üblich medial inszenierten Übergabe der ersten Wohnungen stolz präsentierte. Nach der anfänglichen Begeisterung für das neue Heim zeigten sich jedoch bald schon die Nachteile der neuen Unterkünfte. Was den C.A.S.E. komplett fehlt, sind Serviceeinrichtungen und öffentliche Räume jeder Art. Es gibt in den Vierteln keinerlei Läden, geschweige denn Restaurants oder Cafés, von wenigen Ausnahmen abgesehen auch keine Schulen und keine Sporteinrichtungen und schon gar nicht Piazze, wo sich die Bewohner ungezwungen begegnen können – so, wie sie das von ihrem ehemaligen Umfeld kennen. Die Viertel sind kaum mit öffentlichen Verkehrsmitteln angebunden, die Post wird nur unregelmäßig zugestellt. Die Bewohner sind ganz auf das Auto angewiesen.
Aber auch aus städtebaulicher Sicht geraten die C.A.S.E. immer stärker unter Beschuss. Durch ihre verstreute Platzierung wurde die Zersiedlung des Aterno-Tals verstärkt – und dies bei einer auch infolge des Erdbebens zurückgehenden Bevölkerung. Auch stellt sich die Frage, was mit diesen Wohnungen, für die heute ein zeitlich beschränktes Nutzungsrecht gilt, einmal geschehen soll, wenn die Bewohner wieder in ihre ursprünglichen Wohnungen zurück können. Einige werden wohl in den C.A.S.E. bleiben wollen oder müssen, für die Nutzung als Studentenwohnheime oder für den Tourismus ist das hier geschaffene Angebot von 15.000 Wohneinheiten für eine Stadt von rund 70.000 Einwohnern aber sicher zu groß. Es ist absehbar, dass sie in Zukunft nicht mehr die Attraktivität haben werden, die sie anfangs für die Erdbebenopfer gehabt haben mögen.
Vor allem aber wird dem C.A.S.E.-Projekt vorgeworfen, dem Wiederaufbau der Altstadt Energien entzogen zu haben. Wenn man die knapp 800 Millionen Euro, die für den Bau der 4500 Wohnungen ausgegeben worden sind (mit für den italienischen Markt überdurchschnittlichen Kosten in Höhe von ca. 2700 Euro pro Quadratmeter), und den organisatorischen Aufwand wenigstens teilweise für die Restaurierung der Altstadt eingesetzt hätte, wäre die historische Mitte heute nicht mehr die Geisterstadt, die sie noch immer ist und die sie, nach dem jetzigen Zustand zu urteilen, auch noch lange bleiben wird. Wie eine Bewohnerin erklärt, könne man in den C.A.S.E. vielleicht gut leben, wenn es denn den Ausgleich durch die Altstadt gäbe: „Ein Römer, der in der hässlichsten Peripherie der Stadt wohnt, kann immerhin sagen: Heute fahre ich mal zur Piazza di Spagna.“ So habe er nicht nur einen ästhetischen Ausgleich zu seinem üblichen Umfeld, er werde sich auch seiner Identität und Zugehörigkeit zur eigenen Stadt bewusst – eine Zugehörigkeit und Identität, die die Aquilaner verloren haben.

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