São Paulo unter Echtbedingungen
Architekturbiennale als Stadterlebnis
Text: Schulz, Ole
São Paulo unter Echtbedingungen
Architekturbiennale als Stadterlebnis
Text: Schulz, Ole
Die X. Architekturbiennale São Paulo macht die Stadt und ihre Bewohner zum Thema.
Der Tisch hat eine ungewöhnliche Form. Er besteht aus drei Teilen, die zusammengesetzt ein „Y“ ergeben. Der vom Künstler Luis Berríos-Negrón für den deutschen Beitrag der X. Architekturbiennale in São Paulo nach dem Vorbild des Y-Tisches im Deutschen Architektur Zentrum DAZ entwickelte Tisch mit drei Enden soll als eine „dynamische Plattform übliche Gesprächsgefüge aufbrechen“, sagt Matthias Böttger, der in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut den deutschen Beitrag „Nós Brasil! We Brazil!“ kuratiert hat. Dafür wurden zunächst in den brasilianischen Städten Curitiba, Porto Alegre und Salvador de Bahia Workshops organisiert. Mit Aktivisten, Bewohnern und Architekten wurde anhand lokaler Beispiele die Frage diskutiert, wer die vom Wachstum und Wandel betroffenen Städte Brasiliens von heute macht – und welche Rolle die „neue“ Mittelklasse im Diskurs über die Stadtentwicklung von morgen spielen kann. „Uns ging es eben nicht darum, zwei polare Gegensätze zu beschreiben, sondern Szenarien und Lösungsansätze zu entwickeln, die immer auch Raum für einen dritten Weg offenlassen“, so Böttger.
Präsentiert werden die Workshop-Ergebnisse in mehreren Zeitungen in A3-Format. Sie enthalten nicht zuletzt Reflexionen über die „Classe C“ genannte Schicht, die in Brasilien in den letzten Jahren gewaltig gewachsen ist. Denn aufgrund des Wirtschaftswachstums und der Sozialprogramme der regierenden Arbeiterpartei PT sind rund 40 Millionen Brasilianer aus der Armut in die neue Mittelklasse aufgestiegen. Ob deren Mitglieder sich nur für den Kauf von Kühlschränken, Flachbildschirmen und Autos interessieren oder auch für ein Recht auf Stadt, war ein zentrales Thema der Workshops. Für den Urbanisten Renato Cymbalista, der den abschließenden Workshop in São Paulo in den großzügig gestalteten und lichtdurchfluteten Räumen der „Casa do Povo“ durchgeführt hat – einem einstigen jüdischen Kulturzentrum –, lässt sich darauf keine eindeutige Antwort geben. „Natürlich ist ein großer Teil der neuen Mittelklasse konsumistisch orientiert, aber zugleich wollen alle, dass sich die städtischen Lebensbedingungen verbessern.“ Das gelte gerade für die von endlosen Staus, Lärm, Gewalt und den Betonbauten der brasilianischen Moderne geprägte Megalopolis São Paulo.
Der deutsche Beitrag ist Teil des internationalen Projekts „Weltstadt“ des Goethe-Instituts und des Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und passt fraglos zum diesjährigen Motto der X. Architekturbiennale: „Cidades – Modos de Fazer, Modos de Usar“, „Städte – Wege sie zu gestalten, Wege sie zu nutzen“. Es ist der Versuch, das Renommee einer Veranstaltung zu retten, die neben der Biennale von Venedig lange Zeit als international wichtigstes Ereignis der Architekturwelt galt. Denn die erstmals 1973 und seit 2001 im Zweijahresrhythmus veranstaltete Architekturbiennale ist spätestens seit 2009 konzeptionell wie organisatorisch in die Krise geraten.
Nun hat ein junges Team um die Architekten Guilherme Wisnik, Ligia Nobre und Ana Luiza Nobre das Konzept der Biennale umgekrempelt. Statt sie wie bisher nur an einem Ort zu veranstalten – dem von Oscar Niemeyer entworfenen Pavillon im Parque do Ibirapuera – findet die Biennale dieses Jahr zum ersten Mal an vielen Orten zugleich statt. „Der Ibirapuera-Park ist ein wunderschöner Ort, aber ohne Auto nur schwer erreichbar“, sagt Ligia Nobre. „Wir wollten aber die Stadt und ihre Bewohner zum Thema machen – und gerade auch den prekären öffentlichen Nahverkehr.“
So präsentiert die Biennale weniger gebaute Meisterwerke von Stararchitekten als vielmehr, wie zum Beispiel im wichtigen Centro Cultural de São Paulo (CCSP), Fotoserien, Videoinstallationen und stadtsoziologische Untersuchungen zu den Themen Mobilität, Verdichtung, öffentlicher Raum und städtische Infrastruktur. „Wir haben keine Tradition der Nutzung des öffentlichen Raumes“, so Ligia Nobre. Das ändere sich allerdings allmählich, wie zuletzt die Massenproteste im Juni gezeigt hätten. Schon vorher, so Nobre, habe eine Revitalisierung der Innenstadt von São Paulo begonnen, die jahrzehntelang als No-go-Area galt. Exemplarisch für die neue Aneignung des öffentlichen Raumes steht die umgestaltete Praça Roosevelt, die zum Treffpunkt jugendlicher Skater geworden ist. Ein anderes Beispiel ist der „Minhocão“, eine zur Zeit der Militärdiktatur errichtete Schnellstraßentrasse im Zentrum, die bereits seit 1976 nachts und Sonntags für den Autoverkehr gesperrt ist und dann von Fahrradfahrern, Joggern und Fußgängern frequentiert wird. In einem kleinen Ausstellungsraum mit Blick auf den Minhocão stellt eine unlängst gegründete Anwohnerinitiative zur Biennale ihre Idee vor, die Schnellstraße zu begrünen – Vorbild dafür ist die „High Line“, eine stillgelegte Hochbahntrasse in Manhattans Meatpacking District, die 2006 in eine Parkanlage umgewandelt wurde.
Weil die einzelnen Ausstellungen der Architekturbiennale sehr textlastig sind, ist es nicht einfach, sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Für ausländische Besucher, die des Portugiesischen nicht mächtig sind, kommt erschwerend hinzu, dass nicht alle Schautafeln ins Englische übersetzt sind. Wer die Biennale besucht, braucht auch angesichts der über die Stadt verteilten Orte viel Zeit. Zudem sollte man möglichst stressresistent sein, wenn man tatsächlich der Vorgabe folgt und öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Wer sich darauf einlässt, wird São Paulo unter Echtbedingungen erleben und verstehen, warum sich die Proteste im Juni an einer eher marginal erscheinenden Frage – der Erhöhung der Buspreise um 20 Centavos – entzündet haben.
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