Bauwelt

„Sich selbst bauen“ in veränderten Landschaften – Häuser und Träume in Polen nach 1989

Essay

Text: Kusiak, Joanna, Berlin

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Foto: Juliusz Sokolowski

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„Sich selbst bauen“ in veränderten Landschaften – Häuser und Träume in Polen nach 1989

Essay

Text: Kusiak, Joanna, Berlin

Über schön oder hässlich will unsere Autorin gar nicht urteilen. Sie plädiert dafür, die Bauten der letzten zwanzig Jahre als Spiegel ihrer Zeit zu betrachten und die Verwerfungen der jüngeren polnischen Vergangenheit aus ihnen zu lesen.
„Es gibt keine Verfallszeiten (...) So ist auch mir jede Stadt schön, und ebenso ist mir die Rede von einem größern oder geringern Wert der Sprachen nicht akzeptabel.“  Walter Benjamin 1
Es ist nicht möglich, über gute polnische Architektur zu reden, ohne dabei die schlechte zu erwähnen. Dabei können hässliche oder kitschige Gebäude, von manchen auch als Transformationsmonster bezeichnet, durchaus Ähnlichkeiten mit den besten Neubauten aufweisen. Doch Adjektive wie hässlich oder schön sollen hier nur gewisse Formen einer kollektiven Sichtweise aufzeigen. Wenn es überhaupt irgendeine Wahrheit über polnische Architektur gibt, dann ist es weder ihre Hässlichkeit noch ihre Schönheit. Die Wahrheit einer Architektur hängt immer ab von den Wahrheiten einer jewei­ligen Epoche – einer Gesellschaft und ihrer Träume, die wie­der­um viel mit dem ökonomischen, geschichtlichen und kulturellen Kontext zu tun haben. So wie es – nach Walter Benjamin – einfach keinen Sinn macht, über hässliche Städte zu reden. Es gibt keine solchen, wie es auch keine Verfallszeiten gibt. Es gibt lediglich arrogante Leser, die unter dem Kitsch der Oberflächen nicht jene rohe Schönheit entdecken können – die Schönheit eines vergangenen Traumes von Glück und besserer Zukunft.
Die polnische Architektur der neunziger Jahre, also der ersten Transformationsperiode, könnte – in Anlehnung an Benjamins Zitat – als Trümmer dieser Träume gedeutet werden. Für einen sehr kurzen Moment sah es so aus, als könnte der Traum Wirklichkeit werden, aber er wurde rasch verzerrt durch die Schocktherapie eines wildwuchernden Kapitalismus. In gewisser Weise versuchen die in diesem Heft präsentierten Häuser – sie sind alle in den letzten Jahren gebaut worden – aus den Trümmerhaufen der neunziger Jahre jene ursprünglichen, utopischen Funken zu retten und mit ihrer Hilfe eine neue Qualität zu gewinnen.
Sich selbst bauen – durch ein Haus
Der Schlüssel zum Verständnis der Neunziger heißt radikale Instabilität und Unsicherheit. Das Nachwendejahrzehnt war gleichermaßen aufbauend und traumatisierend; gezeichnet durch eine einzigartige Kombination aus Hoffnung und schierer Gewalt. Nach zehn Jahren Kriegsrecht und Wirtschaftskrise, vor allem aber nach der ständigen Ressourcenknappheit in den Jahren des Staatssozialismus, war die polnische Gesellschaft voller Hoffnung, dass der Wechsel allen zum Besseren gereichen würde. Angestachelt wurde die Hoffnung noch durch die aggressive und gleichzeitig faszinierende Warenwerbung, durch die bunten Verpackungen der importierten Güter sowie die enthusiastischen Prognosen polnischer Politiker und ihrer eleganten ausländischen Berater.
Der kritiklose Enthusiasmus der tonangebenden Medien war komplett abgekoppelt von der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, die von der Mehrheit der Bevölkerung auf sehr brutale Weise wahrgenommen wurde. Sechshundertprozentige Inflation wurde von einer ständig steigenden Arbeitslo-senrate begleitet und sogar von einem Anstieg der Todeszahlen für junge, arbeitsfähige Männer, was eine Studie der Oxford Universität direkt mit den psychischen Nachwirkungen der Privatisierung in Verbindung brachte 2. Gleichzeitig wurde in jenen Jahren manch schneller Anstieg des materiellen Status spürbar, der nichts mit dem Bildungsniveau zu tun hatte, aber viel mit Geschäftemacherei – einer Mischung aus Geschick, guten Kontakten und auch etwas Glück. Die Polen sahen sich täglich mit Risiken konfrontiert, die den Alltag zum Glücksspiel machten.
Inmitten solcher Realitäten ein Haus zu bauen, wurde zum wichtigen Element einer langfristigen Überlebensstrategie – versprach es doch eine relative Unabhängigkeit von politischen und ökonomischen Schwankungen. Erstens erschien es in Zeiten der Hyperinflation sinnvoller, in Grundbesitz zu investieren, als das Geld zu sparen. Zweitens hatte die Vergangenheit gezeigt, dass ein Einfamilienhaus die einzige sichere Form des Besitzes darstellt – selbst während der staatssozialis­tischen Ära war die Mehrheit privater Wohnhäuser nicht verstaatlicht worden. Auch unterlagen Einfamilienhäuser weder den drastischen Steigerungen der Mieten noch anderer zusätzlicher Gebühren, was sich angesichts steigender Arbeitslosigkeit als äußerst wichtig erwies. Selbst heute, bei den hohen Preisen, die Bauträger und Entwickler in polnischen Städten verlangen, ist es auch für weniger Wohlhabende viel sicherer und bezahlbarer, ein Haus in einem Dorf oder einer Kleinstadt zu bauen.
Den größten Teil seiner Geschichte war Polen ein agrarisch geprägtes Land; urbane Kulturmuster entstanden relativ spät. Vorrangig existierten zwei Klassen: Adel und Bauernschaft. Beide Gruppen waren gebunden durch ein patriarchales Modell – immer noch nachweisbar durch jenes Sprichwort, demzufolge ein „echter Mann“ zu Lebenszeiten einen Baum pflanzen, einen Sohn zeugen und ein Haus bauen müsse. Unter solchen Umständen auch noch mit unsteten politisch-ökonomischen Verhältnissen konfrontiert, wurde die Aufgabe, sein eigenes Haus zu bauen, zum identitätsstiftenden Moment. Das spiegelt sich sogar in der Umgangssprache: Im Polnischen sagt man nicht „ein Haus bauen“, sondern „sich selbst bauen“. Also etwa: „Krzysztof und Agnieszka bauen sich in der Nähe von Pabianice.“
Neben Hochzeitsfest und Kindgeburt bleibt „sich selbst bauen“ ein Dreh- und Angelpunkt in der traditionsgeprägten polnischen Provinz, oft wichtiger noch als die berufliche Entwicklung. Da die polnische Gesellschaft um einiges ärmer als ihre westeuropäischen Nachbarn und also unentwegt am Sparen ist, kann man die Redewendung „sich selbst bauen“ geradezu wörtlich nehmen: Die große Mehrheit polnischer Ein-familienhäuser wurde von ihren Besitzern eigenhändig gebaut. Der Kosten wegen, aber auch, um fami­liäre Solidarität unter Beweis zu stellen, „baut sich“ der durchschnittliche Pole eher mit seinem Schwager als mit einem Architekten.
Die Mehrheit der einheimischen Bauten aus dem ersten Übergangsjahrzehnt besteht aus Do-it-yourself-Häusern, wobei ein jedes zur Quelle unermesslichen Stolzes für seinen Erbauer wird. Gefördert durch die neoliberale Propaganda der neunziger Jahre, galten Kostensenkung und Selbstständigkeit ja eher als Vor- denn als Nachteil. Zugleich ließ dieses Sich-selbst-Bauen – ohne Architekten und gegen alle Richtlinien, allenfalls in Anlehnung an ein Projekt aus dem Billigkatalog – die wildesten Freiheitsfantasien blühen. Die Architektur der neunziger Jahre wurde zu einem ästhetischen Reflex des Gemütszustandes einer traumatisierten Gesellschaft. Auslöser für dieses Trauma waren der Staatssozialismus wie der Wildwestkapitalismus gleichermaßen.
Architektonische Ticks und Macken
Wenn der Schlüssel zum Bewusstsein eines Individuums in der Analyse seiner Träume zu finden ist, dann sollten Ein­blicke in die kollektive Psyche einer Gesellschaft durch die Analyse ihrer Architektur möglich sein. In Anlehnung an Sigmund Freud verweist Architektur auf eine Reihe von Symptomen, die charakteristisch für eine bestimmte Gemeinschaft sind und als solche Zugang zu ihren Träumen und Ängsten, zu verbotenen, ja perversen Sehnsüchten bieten. Die polnische Architektur der neunziger Jahre weist etliche Ticks auf (Säulen und Türmchen), Fantasien und Projektionen (blaue Spiegelverglasungen) und sogar Neurosen (eine starke Neigung zu Pastellfarben). Womöglich sind diese architektonischen Sünden der Übergangszeit Produkt eines psychologischen Mechanismus – der Zurückweisung, ja radikalen Verleugnung aller heiklen Vorgeschichten wie auch der realen Umgebung in ihrer ästhetischen wie landschaftlichen Banalität.
Nun ist aber die Beschäftigung mit Symptomen und Visionen, genauso wie die ernsthafte Arbeit am Trauma, unverzichtbar für eine erfolgreiche Therapie – bedeutet Genesung (nach Lacan) doch, dass man lernt, seine eigenen Symptome zu genießen. Ich würde deshalb vorschlagen, viele der besser gestalteten Einfamilienhäuser in Polen als Akte gelungener Therapie zu betrachten. Die Architekten konfrontierten sich mit den „Symptomen“ der osteuropäischen Architektur der neunziger Jahre. Dann wichen sie aber dem elementaren Akt der Verleugnung (des Sozialismus, des Postsozialismus oder Neoliberalismus) mit einem dialektischen Schlenker aus. Sie begeisterten sich plötzlich für die „Nachteile“ der unspek­takulären heimischen Landschaft. Mehr noch: In einem Akt der Synthese wurden die einstigen Nachteile jetzt zu Vorteilen umgedeutet – und damit zum Ausdruck einer neuen architektonischen Subjektivität. So lassen sich die eigenen Symptome genießen, endlich ohne Minderwertigkeitskomplex.
Symptom 1: Von Farbe träumen
Im Allgemeinen gilt das Vorurteil, Polen, ja das östliche Mitteleuropa sei grau, geradezu völlig ohne Farbe. Die klimatischen Bedingungen verstärken diese Meinung noch: Monatelang ist der Himmel hier bedeckt, sind die Bäume unbelaubt. Das Grau der Natur wird von der Architektur aus sozialistischen Zeiten verstärkt. Deren Bauwerke aus Beton oder Sandstein sind heute ebenfalls ergraut, nur Wenige können sich noch an die einst helle, zartrosa leuchtende Fassade des Warschauer Kulturpalastes erinnern. Nicht ohne Ironie beschweren sich die Polen über ihre „graue Realität“, die bewohnt wird von „grauen Menschen“. Später wurde Grau zum Synonym sozialistischer Mangelwirtschaft, die gegen den Taifun an Farben in westlichen Kaufhäusern nie ankam.
In den neunziger Jahren versprach die bunte Konsumflut endlich einen Ausweg aus der Tristesse. Und die Leute ergriffen die Chance, das Image der „grauen Städte“ mit ihrer „grauen Realität“ loszuwerden – mithilfe unendlicher Mengen an Farb­eimern. Plattenbaublocks wurden mit Styropor beklebt und mit auffälligen Mustern bemalt. Einfamilienhäuser und Ladenfassaden leuchteten in Pink, Violett oder Gelb. An neuen Wohntürmen und Einkaufspassagen funkelten blaue Spiegelglasfassaden in Konkurrenz zu alten Sandsteingebäuden, die leuchtend gelb gestrichen wurden. Architekturkritiker fanden bald den passenden Ausdruck für die flächendeckende Ausbreitung dieses neuen Leidens. „Pastellosis“ lautete die Diagnose 3 – eine zusammenhangslose, möglichst grelle Neuinterpretation des Stadtbildes, um nur ja jeden grauen Gedanken zu vertreiben.
Nachdem die Pastellosis so um sich gegriffen hat, kommen viele der architektonisch wertvolleren Bauwerke (darunter auch die in diesem Heft) heute erneut in Grau daher. Allerdings mit einem Unterschied: Anstatt darin die bloße Abwesenheit alles Farbigen zu sehen, spricht man dem Grau nun eigene Farbqualitäten zu – Polnisch-Grau statt Sieneser Ocker.
Symptom 2: Von Hübschheit träumen
Politische Teilungen, Kriege und Zerstörungen, historische Instabilität und die finanziellen Nöte einer Gesellschaft in permanentem Wiederaufbau – all das sorgte dafür, dass man in polnischen Städten heute kaum Bilder einer homogenen Baugeschichte findet, wie es auch (infolge häufiger Umsiedlungen) an ländlichen Baustilen mangelt. Das polnische Stadtgefüge ist eklektisch und wird von Gebautem aus sozialistischer Zeit dominiert, also von großformatigen Plattenbauten und von „Kostki“, den typischen Einfamilienhaus-Würfeln. Die Mehrheit der historischen Bauten und Gutshäuser war zerstört oder befand sich im Stadium fortgeschrittenen Verfalls.
All dies führte zu einem „Hübschheitskomplex“, der verschiedene Ausdrucksformen finden konnte. Symptomatisch erscheint eine geradezu manische Ornamentsucht. Selbst dem Warschauer Kulturpalast blieb solche nicht erspart: Ursprünglich modern in seiner Form (in Anlehnung an das Empire State Building), wurde er mit landesüblicher Ornamentik in gigantischem Ausmaß überzogen. In den neunziger Jahren versuchten Architekten, sich bei den Betrachtern mit weitaus naiveren Verhübschungen einzuschmeicheln, etwa indem sie ihren Häusern Balustraden hinzufügten, italienische Portale, griechische Säulen, Gutshausattrappen oder private Nachahmungen von Gaudí oder Hundertwasser.
Dagegen wagen einige Beispiele besserer Architektur ei­nen bewussten Akt der Überschreitung, indem sie sich auf die schlichte Ästhetik ihres Umfelds einlassen. Ihre Formen sind nicht einfach nur auffällig als vielmehr unorthodox. Sie kommen eher rau daher, frei von überflüssigem Dekor oder architektonischer Koketterie. Selbst wo sie „hübsch“ sein wollen, gelingt ihnen dies eher in Verbindung mit der natürlichen, ruppigen Schönheit der Landschaft rundum.
Symptom 3: Vom Individualismus träumen
Der leicht anarchische Drang vieler Polen zum Individualismus entstammt einer langen Tradition, sich zu widersetzen – dem Staatsapparat, seiner Bürokratie und deren uniformierender Gewalt. Die Verdammung des Individualismus ist übrigens der einzige Bereich, in dem der Katholizismus mit der sozialistischen Standardisierung übereinstimmte. Als Akt der Gegenwehr flüchtete man sich ins Private. An den Plattenbauten sieht nahezu jeder Balkon anders aus. Physische Abschottung, ästhetische Distinktion gegenüber der Umwelt und der Drang zu quasi künstlerischem Ausdruck waren Mittel, die eigene Individualität auszuleben. Noch nach über zwanzig Jahren der Transformation steckt diese Sehnsucht in der polnischen Gesellschaft und findet ihre Verkörperungen in schlechter wie in guter Architektur. Selbst die besten gegenwärtig gebauten Häuser setzen also keine neuen Standards. Jedes von ihnen erzählt in unvergleichlicher, aber auch unwiederholbarer Weise von einer Gesellschaft, die – nachdem sie durch die frühe Transformationsphase traumatisiert worden war – sich nun „selber neu bauen“ muss. 
Aus dem Englischen von Maria Hetzer
1  Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, In.: ders. „Gesammelte Schriften“ Band 5, Frankfurt/M. 1991, S. 571
2  D. Stuckler, L. King, M. McKee: Mass Privatisation and the post-communist Mortality Crisis: A cross-national Analysis [in:] The Lancet, Volume 373, Issue 9661, (2009)
3  Filip Springer: Wanna z kolumnadą. Re­por­taże o polskiej przestrzeni, Wołowiec 2013

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