Bauwelt

Wandelbare Gemeinschaftsflächen

Interview mit Verena von Beckerath und Christoph Heinemann

Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin; Kleilein, Doris, Berlin

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Foto: Andrew Alberts

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Wandelbare Gemeinschaftsflächen

Interview mit Verena von Beckerath und Christoph Heinemann

Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin; Kleilein, Doris, Berlin

Architektin Verena von Beckerath und Christoph Heinemann, Architekt, Bauherr und jetzt selber auch Bewohner, berichten vom gemeinsamen Planungsprozess der individuellen Wohngrundrisse und der Gemeinschaftsräume beim Baugruppenprojekt in der Ritterstraße
Grundstücke in zentraler Lage werden in Berlin immer teurer. Wie haben Sie das Grundstück in Kreuzberg bekommen?
Verena von Beckerath | Es wurde in einem der ersten, konzeptgebundenen Grundstücksver­gabeverfahren vom Berliner Senat gekauft. Ursprünglich war dieses Grundstück eine Verkehrsfläche. Es war als Auffahrt für die in den fünfziger Jahren geplante, quer durch Kreuzberg führende Autobahnschneise vorgesehen; später für den Bau einer KITA vorgehalten. Ohne dass man wusste, ob man das Grundstück überhaupt bekommt, musste im Zuge der Projektentwicklung ein Architektur- und ein Nutzungskonzept erarbeitet und eine Bietergruppe zusammengestellt werden, die den Kaufpreis nachweisen konnte.
Christoph Heinemann | Wir haben gesagt, dass wir an diesem Ort ein ganz einfaches, städtisches Haus brauchen, das kostengünstig und mit einem sozialen Mehrwert gebaut werden kann. Es ging darum, ein Haus mit einem Anteil an Gemeinschaftsräumen zu realisieren, die Schnittstellen nach außen sein können und gleichzeitig ein komfortables städtisches Wohnen zu ermöglichen.
Wie kann man sich den Entwurfsprozess vorstellen? Wie haben sie die 19 unterschiedlichen Wohnungsgrundrisse entwickelt?
CH | Die Prämisse war: Wir bauen das Haus in einem Standard für alle, also keine Individua­lisierung in den Materialien und der Ausstattungen, dafür können wir aber die Grundrisse einzeln entwickeln. Das war ein relativ einfacher, konfliktfreier Prozess und natürlich sehr nachhaltig. Die Bewohner haben ihre Wohnung ganz klar mitgestaltet. Sie wussten beim Einzug, was sie erwartet. Diese Verbundenheit mit dem Haus war schon da, bevor es fertig war.
VvB | Die frühe Identifizierung mit der eigenen Wohnung hat möglicherweise auch dazu geführt, sich mehr für das Haus und seine Gemeinschaftsflächen zu interessieren. Die Übereinstimmung und die Ergänzung zwischen den Architekten und den zukünftigen Bewohnern waren ungewöhnlich hoch. Das hat sich positiv auf den Planunsgsprozess ausgewirkt.
Wie sah der Planungsprozess mit den Bewohnern für die Gemeinschafträume aus?
CH | Wir hatten eine robuste Grundstruktur. Das war die Basis für die architektonische Weiterentwicklung, aber auch für die Arbeit mit der Gruppe. Der Anteil an gemeinschaftlichen Räumen war von Anfang an als ein verschieb­barer, räumlicher Anteil eingeplant. Ist dieser erst einmal in der Kalkulation drin, bleibt er auch im Konzept. Wir wollen in der Stadt wohnen, und wir wissen, dass ein gemeinschaftlicher Raum zwei Vorteile hat: 1. Ich habe einen, auch zum Quartier offenen, sozialen Raum im Ge­bäu­de, 2. Ich kann bestimmte Funktionen – das war auch zunächst unser Hintergedanke – aus dem Wohnen auslagern, die Wohnungen verkleinern, vereinfachen. Die Gemeinschaftsräume haben wir in verschiedenen Treffen abgefragt, verhandelt und weiter entwickelt.
Wieso waren diese Räume für das Baugruppenprojekt so wichtig? Wer hatte die Idee?
VvB | Das Thema Gemeinschaft wurde einerseits von den Architekten und andererseits von der Gruppe in das Konzept getragen. Allerdings hatte die Gruppe Gemeinschaftsräume nicht explizit gefordert. Es war vielmehr ein Dialog zwischen dem architektonischen Konzept und den Bedürfnissen der Bewohner. Gewisse Räume braucht man nicht 19-mal. Das fängt bei der Waschküche an und hört bei von allen genutzten Räumen für Veranstaltungen oder Besprechungen auf.
Welche Gemeinschaftsräume haben Sie vor­geschlagen?
VvB | Die Umgänge waren beispielsweise ein Vorschlag, der über die Architektur kam und der die Wohnungen in den Außenraum erweitert. Dass diese umlaufenden Gänge keine Teilung bekommen haben und nicht zu privaten Balkonen wurden, ist wiederum von den Bewohnern entschieden worden. Weitere, eher informelle räumliche Angebote an die Gemeinschaft sind beispielsweise die Rampe und der leicht abgesenkte, überdachte Eingangsbereich.
Anfangs waren auf jedem Geschoss Gemeinschaftsräume geplant. Im Laufe des Planungs­prozesses wurden sie dann aber zusammen­gefasst. Warum?
CH | Ursprünglich hatten wir die Gemeinschaftsflächen auf alle Geschosse verteilt, um dadurch die Frage zu provozieren: Was passiert, wenn ich meine Wohnung verkleinere und mir auf dieser privaten Ebene Räume teile? Wir sind mit dem Gedanken einer Genossenschaft gestartet. Als wir dann aus verschiedenen Gründen gesagt haben, es soll eine Eigentümergemeinschaft werden – es ging um Flexibilität und Finanzierung, die Genossenschaft wäre teurer und schwerfälliger gewesen – wurde entschieden, die Anteile an Gemeinschaftsflächen zu einem großen Raum zu bündeln. Hier ist eine experimentelle, aber durchaus nachhaltige Entscheidung getroffen worden. Das Wagnis mit einem großen Gemeinschaftsraum ist einerseits viel größer, denn man muss über diesen Raum immer wieder neu verhandeln. Andererseits kann der Raum viel mehr. Er wird für das Quartier in regelmäßigen Abständen zur Verfügung stehen. Sollte sich mit der Zeit ergeben, dass er aus dem Haus heraus nicht mehr benötigt wird, ließe er sich auch vermieten und extern nutzen. Die Gruppe hat den Raum auf eine Größe gebracht, die dauerhaft funktioniert. Er ist nicht so spezifiziert, dass er sich nicht mehr verändern kann.
Hätten Sie, als Architekten, die Gemeinschaftsräume lieber auf den Geschossen gelassen?
VvB | Die Idee war, dass sich beispielsweise drei Wohnungen auf einem Geschoss von diesem Privaten, der Kleinfamilie, der abgeschlossenen Wohnung lösen und zu einer Art „Etagenwohngemeinschaft“ zusammenschließen. Dieser gemeinsam genutzte Raum hätte eine Bibliothek, ein Zimmer für die Kinder, ein Gästeraum oder ein temporärer Arbeitsraum sein können. Er hätte auch Erweiterungsfläche für die eine oder andere Wohnung sein können. Aber am Ende ist der große Raum die schlüssige Entwicklung dieser Idee der Gemeinschaftsräume, die wir, ohne die Gruppe zu fragen, ins Konzept des Hauses eingeschrieben hatten.
Wie sind die Gemeinschaftsräume konzipiert?
CH | Der große Raum im Souterrain wird erst im Selbstbau definiert werden. Wir haben ihn so hergestellt, dass man eine zweite Decke einziehen kann. Es gibt ein kleines Bad, und man kann eine kleine Küche einbauen. Man kann dort arbeiten, spielen, was immer man will. Jetzt sagt man sich, die Kinder sind klein, die brauchen dies und das, oder wir brauchen jenes. Wie erwähnt, könnte sich das in Zukunft ändern, bis hin zu dem  Punkt, dass die Hausgemeinschaft den Raum vielleicht gar nicht mehr braucht und abgibt, an eine KITA oder an einen Laden.
VvB | Mehr noch als der große Gemeinschaftsraum, sind es eigentlich die kleinen Dinge, die stärker zum Thema gemeinschaftliches Wohnen beitragen. Ich finde, dass die Umgänge tatsächlich das radikalste Bekenntnis zur Gemeinschaft sind. Man tritt auf einen gemeinschaftlichen Raum, der allen gehört. Die Art, wie sich dort Privatheit und Gemeinschaft begegnen ist etwas, das sich erst beim Wohnen ergibt, und das stellt sich auch noch nach außen dar. Damit präsentiert sich das Haus.
Welche Beziehung besteht zwischen dem Haus und dem Quartier?
CH | Zunächst ist das eine städtebauliche: Wie haben wir das Gebäude hingestellt? Es steht so auf dem Grundstück, dass es an die Umgebung, die Straße und die offenen Grünflächen anschließt. Außerdem gibt es für den Gemeinschaftsraum tatsächlich die Auflage, ihn in regelmäßigen Abständen für Nutzungen im Quartier zur Verfügung zu stellen. Das ist eine Konsequenz aus dem konzeptgebundenen Verfahren; eine Form von Nutzungsbindung, die vertraglich festgeschrieben ist, an die wir uns gern halten werden.
VvB | Der Gemeinschaftsraum ist eigentlich eine Art Wintergarten und klimatisch eher dem Garten zugeordnet als dem Haus. Wie der Eingang liegt er im Souterrain und hat eine Höhe von 5,20 Meter anstatt 2,65 Meter wie die Wohnungen. Die Gruppe hat entschieden, dass sie diesen doppelgeschossigen Raum mit der Präsenz zur Straße möchte. Aus dem ursprünglich visionären, in die Zukunft gedachten Konzept der Gemeinschaftsräume als Möglichkeit, sie an das individuelle Leben anzupassen, ist ein richtig pragmatisches Konzept für einen Gemeinschaftsraum geworden.
Heute wohnt hier eine homogene Hausgemeinschaft, die sich gut versteht. Wie wird sich das Projekt in Zukunft entwickeln, wenn zum Beispiel Wohnungen verkauft werden und neue Bewohner einziehen?
CH | Das Verhältnis von privaten und gemeinschaftlichen Räumen ist auch rechtlich unterlegt. Der Umgang ist Gemeinschaftseigentum. Ich trete raus, das heißt, ich kann jetzt keine Trennwand aufstellen, wenn ich nicht alle frage, ob das in Ordnung ist. Dieser Raum ist von der Benutzung her super komfortabel und selbstverständlich. Egal, wer da einzieht, er wird sich diesen Raum aneignen. Rein rechtlich bleibt er Gemeinschaftseigentum. Aber so ein Haus entwickelt sich ja auch. Im Moment sind viele junge Familien eingezogen, die haben Ansprüche, und das ist im Alltag spürbar. Jemand der da nicht reinpasst, der hat da keine Lust drauf. Wir werden alle älter, die Kinder gehen weg und dann ziehen vielleicht Leute ein, die was ganz anderes gut finden. Das Haus wird einen Zyklus haben wie jedes andere Haus. Aber: Ist das überhaupt ein Problem? Wir sind jetzt erst mal alle gemeinsam eingezogen, und irgendwann wird es Veränderungen geben. Die Substanz, die jetzt da ist, wird das ermöglichen.
Fakten
Architekten von Beckerath, Verena, Berlin; Heinemann, Christoph, Berlin
aus Bauwelt 36.2013
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