Bauwelt

Wertewandel und Großwohnungsbau

Die ETH untersucht die 70er Jahre

Text: Meyer, Friederike, Berlin

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ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

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Wertewandel und Großwohnungsbau

Die ETH untersucht die 70er Jahre

Text: Meyer, Friederike, Berlin

Großwohnungsbauten der 70er Jahre waren das Thema einer Tagung an der ETH Zürich im zurückliegenden Jahr. Dabei ging es unter anderem um die Mechanismen ihrer Entstehung, den Einfluss der Sozialwissenschaft auf die Architektur und um einen heute weitgehend verschwiegenen Skandal.
Es war 1972, als der Rektor der ETH Zürich dem Gastdozenten in der Architekturabteilung Jörn Janssen und seinen Mitarbeitern wegen marxistischer Agitation kündigte. Sie hatten ein Buch mit dem Titel „Göhnerswil. Wohnungsbau im Kapitalismus“ erarbeitet, das das System des größten Bauunternehmers von Zürich kritisiert: Die Göhner AG baute zwischen 1965 und 1982 rund 9000 Wohnungen in der Schweiz. Das Unternehmen umfasste alles, von der Landakquise über die Betonfertigteilproduktion bis zum Verkauf oder zur Vermietung der Wohnungen. 

Presse und Öffentlichkeit nahmen die von dem Buch ausgelöste Debatte um die kapitalistische Wohnungsproduktion damals dankbar auf. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Universitätspersonals aber ist seitens der Hochschule bis heute nicht aufgearbeitet worden – die politische Neutralität gehört an der ETH noch immer zum guten Ton. Und so war es Angelika Schnell von der AdbK Wien, die auf einer Ta­gung im Herbst in Zürich einen erhellenden Vortrag über das ETH-Geschehen um 1970 und die Rolle von Janssens Nachfolger Aldo Rossi hielt. Die Berufung Rossis war ein gelungener Coup, so Schnell. Denn der bekennende Marxist und Erfinder der „Architettura Razionale“ befriedigte nicht nur das Lager der politisierten Studentenschaft, er etablierte an der Hochschule auch eine von der Sozialwissenschaft unabhängige Lehre der „Autonomie der Architektur“, die bis heute die Architekturausbildung in der Schweiz prägt.  

Den Vorfall an der Hochschule und die von Fabian Furter und Patrick Schoeck-Ritschard am GTA kuratierte Ausstellung über die Geschichte der Göhner AG hatten die Organisatoren der Tagung zum Anlass genommen, die weltweiten Entstehungsbedingungen der Großwohnungsbauten in eben dieser Zeit zu untersuchen. Unter dem Titel „Der Fall Göhner. Die Krise des Großwohnungsbaus der 70er Jahre“ wollten Anne Kockelkorn und Susanne Schindler zusammen mit den Kuratoren der Ausstellung sowie ETH-Pro­fessor Philip Ursprung unter anderem herausfinden, inwieweit sich die Trennung von Sozialwissenschaft und Entwerfen in den 70er Jahren exemplarisch an den Großwohnungsbauten aufzeigen lässt. Dazu hatten sie ein umfangreiches Programm zusammengestellt, bei dem rund 20 Theoretiker, Architekturhistoriker und Soziologen aus sechs Ländern referierten. Da ging es zum Beispiel um die Siedlung Grigny-La Grand Borne bei Paris, um Wolfsburg-Detmerode, das Mainfeld bei Darmstadt, die Co-op City in der New Yorker Bronx und die Schweizer Siedlung Zürich-Unteraffoltern II.

Die Vortragenden, die wahlweise auf Deutsch, Englisch oder Französisch ohne jeweilige Übersetzung sprachen, versprühten die Atmosphäre eines Doktorandenseminars. Jeder schien so tief in seinem Thema zu stecken, dass es selbst auf den anschließenden Panels nicht gelang, für die unbeteiligten Zuhörer die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten dieser Zeit in den jeweiligen Ländern und Städten herauszuarbeiten. Offenbar ist nicht nur die Autonomie der Architektur, sondern auch die Autonomie der Forschung fest in der heutigen Lehre verwurzelt. Umso höher ist es der Tagung anzurechnen, dass sie den Versuch unternommen hat, die Bereiche Archi­tektur, Politik, Wirtschaft und Sozialwissenschaft auf einer derartigen Veranstaltung einander näherzubringen.

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