Noch als Student plante Erich Mendelsohn 1913 sein erstes realisiertes Gebäude, die Kapelle des Jüdischen Friedhofs in seiner Geburtsstadt Allenstein. „Verrückt, aber gut“, sollen es seine Professoren kommentiert haben. Im letzten Jahr wurde das Gebäude renoviert
Allenstein in Ostpreußen (jetzt Olsztyn, Polen) ist die Stadt, in der Erich Mendelsohn am 21. März 1887 geboren wurde. Weniger bekannt ist, dass auch das architektonische Erstlingswerk von Mendelsohn dort entstanden ist. Es handelt sich um zwei kleine Gebäude, erbaut im Jahr 1913: das Bet Tahara, das Haus der rituellen Reinigung vor der Beerdigung, und das kleine Pförtnerhaus des jüdischen Friedhofs. In der Literatur zu Mendelsohns Werk blieben diese Bauten lange Zeit unerwähnt, obwohl der Architekt in seinem Archiv einige Fotografien davon aufbewahrt hatte. Erstmals hatte sie Bruno Zevi 1963 veröffentlicht, doch noch bis vor einigen Jahren war wenig über den Zustand der Anlage bekannt. Dabei sind die Gebäude in der heutigen ul. Zyndrama z Maszkowic wichtig, um zu verstehen, was das architektonische Denken des jungen Mendelsohn beeinflusste. Daraus könnten sich noch besser die Gründe seiner späteren Entfernung von Kollegen wie Mies van der Rohe oder Gropius ableiten lassen. Mendelsohn ließ sich von der damaligen „modernsten“ Architekturbewegung, dem Jugendstil, inspirieren ohne Zugeständnisse zu machen; weder dem Historismus noch der Reformarchitektur. Konsequent berücksichtig das räumliche Konzept, trotz der scheinbaren Symmetrie, die rituellen Handlungen der Besucher und lässt sie die Architektur zugleich aus der Bewegung heraus wahrnehmen, ganz wie im späteren Werk des Architekten. Mit der im letzten Jahr abgeschlossenen Renovierung wurden nun einige Besonderheiten wieder hergestellt.
Die Umstände der Beauftragung Mendelsohns sind unklar. Wahrscheinlich war die Empfehlung von David Mendelsohn entscheidend. Der Vater des Architekten war eine hochgeschätzte Persönlichkeit in der jüdischen Gemeinde Allensteins. Erich Mendelsohn hatte kurz zuvor, im Juli 1912, sein Ingenieurdiplom erhalten und betätigte sich vor allem als Bühnenbildner in der Avantgarde-Szene in München. Dort hatte er schon als Student Kontakte mit den Malern der Gruppe „Der Blaue Reiter“ geknüpft.
Da alle zeichnerischen Unterlagen für den Bau verschollen sind, kann sich eine Analyse nur aus dem Bestand selbst ergeben. Tatsache ist, dass sich Mendelsohn von den führenden Beispielen des Jugendstils, insbesondere vom Spätwerk Olbrichs, anregen ließ. Das gilt für die Innendekoration, die der besonderen Benutzung und religiösen Symbolik angepasst ist, wie für die Architektur selbst, besonders in der Kopplung der beiden Häuser. Die Bauten mit ihren Walmdächern sind an einer schmalen Straße am Rand des einstigen Friedhofs platziert. Der Durchgang zwischen ihnen war der Hauptzugang zum Friedhof. Südlich vom Eingang liegt das größere Bet Tahara, nördlich das schlichte, kleinere Pförtnerhaus. Die Gruppierung der beiden Häuser und ihr Verhältnis zueinander erinnert an Olbrichs Kleinwohnungskolonie auf der Dritten Hessischen Landesausstellung in Darmstadt 1908, welche Mendelsohn noch als Student besichtigt hatte.
Das Innere ist gekennzeichnet durch eine zentrale Halle mit Kuppel – eine pyramidenförmige Konstruktion aus Holz und Putz mit Mosaikdekoration – auf Pfeilern. Ein Fries mit hebräischem Schriftzug zieht sich in Höhe der Widerlager um den Raum. Die Dekoration knüpft nur teilweise an jüdische Symbolik an; den Raum bestimmen vereinfachte geometrische Elemente, die eine Verwandtschaft mit der linearen Dekoration des Jugendstils oder des Expressionismus zeigen, sowie das Purpurrot der Hallenwände.
Leichenhalle, Archiv, Ruine, Kulturzentrum
Die Friedhofsanlage überlebte das Pogrom von 1938, so dass, laut einem Bericht aus dem Jahr 1943, der Bauzustand der Leichenhalle „gut“ war. Während das Pförtnerhaus weiter bewohnt wurde, ist deren Benutzung nach dem Krieg unbekannt. Die ältesten erhaltenen Zeichnungen, eine Vermessung von 1971, zeigen bereits Änderungen der Öffnungen und der Innenräume. Die wichtigste Veränderung war der Einbau einer Treppe, die das Hauptgeschoss und den Keller miteinander verband. Damals wurde das Gebäude vom Staatsarchiv genutzt, nachdem der Friedhof als Folge der antisemitischen Hetzjagd im März 1968 zerstört worden war. Diese Anpassung führte zum Verlust der meisten Wanddekorationen und Originalböden in den Seitenflügeln und aller ursprünglichen Decken. Neue Betondecken zerstörten den Fries in der Haupthalle. Die Kuppel blieb zum Glück verschont. Etwa fünfzehn Jahre später fiel das Gebäude schließlich leer. 2007 begann die im Jahr zuvor in Olsztyn gegründete Kultur-Stiftung Borussia mit der Instandsetzung der gesamten Friedhofsanlage und verhinderte so einen Totalverlust der beiden Gebäude. 2013 wieder zugänglich gemacht, werden die renovierten Räume des „Mendelsohn-Hauses“ heute von der Stiftung als Zentrum für den interkulturellen Dialog genutzt.
Die Instandsetzung darf man als fertig, aber noch nicht als komplett bezeichnen. Durch die Entdeckung der ursprünglich vorhandenen Öffnungen im Mauerwerk hat man die kluge, originäre Innenraumgestaltung erkannt. Der Bau ist noch ein traditioneller Architekturtyp, nahezu symmetrisch in der Fassadengestaltung. Dennoch baute Mendelsohn im Inneren eine Raumfolge, die in logischer Weise die rituellen Etappen vor der Beisetzung nach den Regeln der jüdischen Religion gestaltet: Reinigung des Körpers, Reinigung der Seele und den letzten Gang zum Begräbnisfeld. Die Kuppel in der zentralen Halle symbolisiert ein Zelt, ein traditioneller Trauerraum. Sie ist zugleich vom Hauptdach völlig unabhängige und ermöglicht so auch Familien priesterlicher Abstammung (Kohanim), die nach religiösem Gebot nicht unter einem Dach mit einem Verstorbenen sein dürfen, das Betreten der Nebenräume.
Die Gestaltung der Räume des Bet Tahara und des Pförtnerhauses für die öffentlichen Aktivitäten der Stiftung Borussia hat allerdings einige fragwürdige Auswirkungen gehabt. So wurden zwei Treppen und ein kleiner Lastenaufzug eingebaut, um Dach- und Kellergeschoss weitestmöglich auszunutzen. Außerdem wurden die Räume seitlich der Kuppelhalle nur unvollständig wieder hergestellt, um mehr Nutzfläche zur Verfügung zu stellen. Diese Maßnahmen sind nicht irreversibel. Sollten sich irgendwann doch alte Unterlagen auffinden lassen, wäre eine genauere Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes, sowohl der Raumgestaltung als auch der Innenausstattung, noch immer möglich.
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