Bauwelt

Centraal Beheer in Apeldoorn


Herman Hertzbergers 1972 fertiggestellter Sitz der niederländischen Versicherung in Apeldoorn ist ein Hauptwerk des Strukturalismus. Seit fast zwei Jahren steht es leer – obwohl gut erhalten und mit offensichtlichem Potenzial. Eigens für unseren Beitrag wurde das Gebäude von Christian Richters neu fotografiert


Text: Schmidt, Marika, Berlin


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    Centraal Beheer im Winter; im Sommer ist der Bau quasi unsichtbar; verborgen hinter Grün wie ein Dornröschenschloss. Blick von den Parkplätzen
    Foto: Christian Richters

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    Centraal Beheer im Winter; im Sommer ist der Bau quasi unsichtbar; verborgen hinter Grün wie ein Dornröschenschloss. Blick von den Parkplätzen

    Foto: Christian Richters

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    Die Haupterschließung befindet sich in einer Art Luftgeschoss. Die gebogene Glasfassade umschließt den Eingangsbereich.
    Foto: Christian Richters

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    Die Haupterschließung befindet sich in einer Art Luftgeschoss. Die gebogene Glasfassade umschließt den Eingangsbereich.

    Foto: Christian Richters

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    Rolltreppen waren im Bürohausbau vor über 40 Jah-ren eher eine Ausnahme, an­gesichts der 1000 Arbeitsplätze im Haus aber nötig
    Foto: Christian Richters

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    Rolltreppen waren im Bürohausbau vor über 40 Jah-ren eher eine Ausnahme, an­gesichts der 1000 Arbeitsplätze im Haus aber nötig

    Foto: Christian Richters

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    Von den Büroarbeitsplätzen sind die vorgelagerten Terrassen als Erholungsflächen zu betreten
    Foto: Christian Richters

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    Von den Büroarbeitsplätzen sind die vorgelagerten Terrassen als Erholungsflächen zu betreten

    Foto: Christian Richters

Herman Hertzbergers Bürogebäude für die Versicherung „Centraal Beheer“, realisiert 1968–72, ist bis ins Detail publiziert. Errichtet auf einer Bruttogrundfläche von 30.536 Quadratmetern, besteht es aus 60 drei- bis fünfgeschossigen Türmen von 9 x 9 Metern Grundfläche. Im Zentrum sind die Türme fünfgeschossig, zu den Rändern verspringen sie in der Höhe um jeweils ein Geschoss. Wandscheiben mit Sichtmauerwerk aus Betonsteinen steifen die Türme aus; großflächige, über Eck angeordnete Stahl-Glas-Fassaden in regelmäßig vertikaler Gliederung und Lichtbänder zwischen den Türmen bilden den äußeren Abschluss. Im Innern werden mit-tels der vorfabrizierten Stahlbetonkonstruktion in Systembauweise je Turm und Geschoss frei bespielbare Terrassen ausgebildet, die im Bereich ihrer Mittelachsen über Brücken untereinander verbunden sind. Zwischen den Türmen resultierende Lufträume fassen die horizontal orientierten Arbeitsterrassen der Bürogeschosse zu einer dreidimensionalen Landschaft zusammen. Eine als Straße ausgebildete gemeinschaftlich nutzbare Zone gliedert die Büroebenen in vier radial angeordnete Bereiche.
Als ich das Gebäude im Juni 2014 besuche, glaube ich vieles zu wissen. Ich erwarte einen Bau, dessen Atmosphäre seine schematisch einprägsame Struktur bezeugt und nach über vierzig Jahren der Benutzung deutliche Gebrauchsspuren aufweist. Und ich erwarte die Tristesse eines seit Mai 2013 leerstehenden Hauses. Es ist ein kühler, regnerischer Frühsommertag. Hinter üppig gewachsenen Bäumen wirkt das großflächige Gebäude mit seiner lapidaren Fassade so unscheinbar, dass man es fast übersieht. Die dunkelrote Farbe der filigranen Stahl-Glas-Fenster ist verblichen, der Beton der Fassaden wurde vor ein paar Jahren mit einer hellen Farbe aufgefrischt. Ich gehe um das Haus herum in das Parkdeck des rückwärtigen Erdgeschosses – hier war der eigentliche Hauptzugang. Und was für einer! Massige Pilzkopfstützen mit plattenartigen Kapitellen tragen schwere Balken und Decken aus Beton, schräg einfallendes Licht gliedert die Räume in kubistische Eleganz. Heute betritt man das Gebäude über ein ebenfalls von Hertzberger entworfenes Konferenzzentrum, welches seit 1995 den ursprünglichen Bau mit der Erweiterung der Architekten Kaman und Davidse von 1977 verbindet. Der Gebäudemanager führt mich über eine Brücke in den Ursprungsbau. Cafeteria, Verwaltung und Lobby befinden sich im Erdgeschoss. Von dort gelangt man über Rolltreppen in die oberen Büroebenen.
Das Gebäude ist penibel gepflegt, daran trägt auch ein dreißig Jahre währendes Mitspracherecht des Architekten an Veränderungen Anteil. Ein interessantes – eigentlich im Konflikt zu Hertzbergers Theorien stehendes – Detail, das sich heute jedoch als Glücksfall erweist. Vieles ist im Original erhalten: die Bestuhlung von gemeinschaftlich genutzten Bereichen, Aufzug, Rolltreppen, WC-Anlagen, die Oberflächen der Räume. Anfang der siebziger Jahre war das Gebäude hochmodern: hauseigenes Netzwerk, stromerzeugendes Heizungssystem, Grauwasserversorgung für WC-Anlagen, Lüftung, Klimaanlage, ein frei bespielbares offenes Raumkonzept, ganztägig zugängliches Restaurant und Kaffeebar für die Mitarbeiter, Telefonkabinen für private Anrufe entlang der inneren Straßen und auf den Dachter-rassen, eigens entworfene Möbel und Leuchten für gemeinschaftlich genutzte Bereiche wie Straßen und Cafeteria – dies alles verband sich zu einem Ganzen, das typologisch, technisch und gestalterisch in die Zukunft wies. Der zentrale Technikturm, von wo aus im Bereich der Achsen sämtliche Leitungen horizontal durch das Gebäude geführt werden, beinhaltet geschossweise getrennt die Technikzentralen. Das ganze Gebäude ist so sorgfältig geplant und detailliert, dass die handwerkliche und haptische Qualität in ihrer einfachen, robusten Schönheit beeindruckt. Alles Dekor generiert sich aus praktischem Fügen und sinnfälliger Funktionalität. Der Gebäudemanager, der seit vielen Jahren das Gebäude betreut, gerät immer wieder ins Schwärmen, wenn er versucht, die entspannte Arbeitsatmosphäre und das akustisch wuselige Hintergrundsummen des Hauses im Gebrauch zu beschreiben.
Heute sind Haustechnik, Brandschutzkonzept und Bauphysik in die Jahre gekommen. Verkabelung und Netzwerk sind veraltet; die im Original erhaltenen Stahl-Glas-Fenster und die Oberlichter haben eine Einscheiben-Verglasung; Heiz- und Kühllasten sind hoch, Lüftung, Klimaanlage und Heizung sind nicht nach Raumbereichen differenziert steuerbar. Ebenso ist das ganze Gebäude ein einziger Brandabschnitt; die vier radial angeordneten Bürobereiche spiegeln die Gliederung in Rauchabschnitte. Doch das Gebäude wirkt erstaunlicherweise nicht baufällig. Selbst die in Blechkanälen offen geführte Regenentwässerung in den horizontalen und vertikalen Verglasungen zwischen den Türmen funktioniert – bei aller Wartungsintensität – nach wie vor.
Das Raumkonzept dagegen ist heute wahrscheinlich näher am Zeitgeist, als es je war. Beim Besuch denke ich unweigerlich an moderne Bibliotheken und Schulen – warum nur zieht die Medienbranche hier nicht ein? Das Innere ist deutlich heller als erwartet. Sicher helfen nachgerüstete Deckenfluter, aber selbst bei wechselhaftem Wetter hat man den Eindruck eines von Licht strahlenden Gebäudes. Von der inneren Straße mit Kaffeebar, Galerie und Brunnen hat man Sichtbezug zu den geschossweise zentral angeordneten informellen Aufenthaltsorten; die vier Büroabschnitte sind als innere Häuser zur verbindenden Straße mit Glasbausteinen eingefasst. Die flächigen Raumeinheiten der Büroterrassen werden durch die Reduktion der lichten Höhe auf rund 2,30 Meter im Bereich der axialen Durchwegung voneinander unterschieden und mit den hölzernen Brüstungen der Balkone zum Luftraum hin ausgerichtet, so dass ein jeder Arbeitsplatz Ausblick genießt. Das weit verzweigte Raumkontinuum lädt zum Durchwandern, Erobern und Bewohnen ein, die perspektivische Verdichtung bietet trotz aller Offenheit Schutz. Von den Büroflächen zugängliche Terrassen dienen der Erholung. Die Räume behagen, ohne gefallen zu wollen, ohne zu überfordern, ohne heutiges Pomp und Drama. Sie sind zur Aneignung da. Und das ist dann doch einigermaßen überraschend: die dem Gebäude implementierte Zwanglosigkeit. Darauf lassen die stringente Struktur, Gedankengerüst und Erklärungen des Architekten nicht unbedingt schließen. Wie kann es sein, dass so ein Gebäude, das in seiner mehr als 40-jährigen Geschichte von unzähligen Architekten und Studierenden besichtigt wurde, seit fast zwei Jahren leersteht und niemand sich dafür interessiert?
Hertzbergers Centraal Beheer ist reinster Seelentrost für Architekten: Das Raumkonzept beruht auf einer vom Bauherren mitgetragenen Idee für eine bessere Gemeinschaft; die Gebäudestruktur geht zurück auf die Suche nach einer nachhaltig wirksamen und architektonisch prägenden Baugestalt; Gebäudetechnik und Programmatik des Bauwerks waren für die damalige Zeit visionär. Heute könnte sich das Gebäude in jeder Beziehung als Fallbeispiel eignen: als Objekt einer anstehenden Umnutzung und Weiterentwicklung vor dem Hintergrund des städtischen Kontexts; als Beispiel für die energetische Optimierung einer Konstruktion der Spätmoderne und ihre programmatische Neukonzeption; als praktische Fortschreibung von Hertzbergers Theorien zu Polyvalenz, Kompetenz und Performance (Forum 3/1962); für die kreative Neubewertung von Immobilie und Grundstück; als ganzheitliches Forschungsprojekt für den Umgang mit der jüngeren Gesellschafts-, Kultur- und Architekturgeschichte.
Alles wäre denkbar, nur eines bitte nicht: Stillstand. Das Centraal Beheer gehört heute Propertize, die als „Bad Bank“ aus der im Zuge der Immobilienkrise in den Niederlanden verstaatlichten Bank SNS REAAL hervorgegangen ist. Die Firma ARRA Management verwaltet das Gebäude und bewirbt mit ihm den Apeldoorn Business Campus, der sich in den jüngeren Bauteilen des Ensembles befindet. Hertzbergers Bau von 1972 steht seit Mai 2013 leer. Der Versuch, eine Berufsschule hier zu beheimaten, scheiterte, für die Institution wurde neu gebaut. Überlegungen, studentisches Wohnen anzusiedeln, erwiesen sich schnell als nicht wirtschaftlich. Momentan wartet man ab. Der Markt ist in den gesamten Niederlanden schwierig, allein in Apeldoorn, die Stadt zählt 155.000 Einwohner, stehen etwa 200.000 Quadratmeter Bürofläche leer. Aber ist deshalb die Struktur an sich nicht mehr leistungsfähig? Das Centraal Beheer-Gebäude ist das Mutterschiff noch heute gültiger Überlegungen zu räumlicher Effizienz, programmatischer Mehrfachbelegung und Adaptierbarkeit; von nachhaltigen Strukturen. Seinen Verfall geschehen zu lassen, strafte alle Überlegungen über effiziente Strukturen und nachhaltige Gebäudesysteme Lügen.



Fakten
Architekten Hertzberger, Herman, Amsterdam
Adresse Prins Willem-Alexanderlaan 651 7311 NB Apeldoorn Niederlande


aus Bauwelt 5.2015
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