Bauwelt

Der zwölfte Serpentine-Pavillon



Text: Brensing, Christian, Berlin


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    Foto: Paul Raftery

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In diesem Jahr haben Ai Weiwei und Herzog&de Meuron die Quersumme aus allen elf vorherigen Pavillons gebildet und eine selbstreferenzielle Installation in die Kensington Gardens graben lassen. Die Besucher steigen hinab wie in eine archäologische Stätte. Was können sie dort sehen und was bleibt ihnen verborgen? 
Die Entstehungsgeschichte des diesjährigen Serpentine-Pavillons in den Kensington Gardens geht zurück auf die ersten Kontakte zwischen dem chinesischen Künstler Ai Weiwei und den Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Sie planten gemeinsam das Olympiastadion in Beijing, das sogenannte „Vogelnest“. Die Direktoren der Serpentine Gallery, Julia Peyton-Jones und Hans Ulrich Obrist, bewiesen Weitsicht, als sie mit der Einladung des erfolgreichen Bau-Trios die letzten Olympischen Sommerspiele mit den diesjährigen in London verknüpften. Auch wenn die Bauaufgabe hier um ein Vielfaches kleiner ist, so ist den Initiatoren doch die künstlerische wie auch die politische Aufmerksamkeit sicher.
Da Ai Weiwei zurzeit durch die chinesischen Behörden am Verlassen seines Hauses in Beijing gehindert wird, konnte die Konzeption des Entwurfs und auch dessen konstruktive Ausarbeitung durch das Ingenieurbüro Arup in London nur mittels Videokonferenzen erfolgen. Stuart Smith, der in diesem Jahr bei Arup für den Pavillon verantwortlich ist, nahm Ende 2011 an einem Treffen im Basler HdM-Büro Teil, in dem Ai Weiwei über eine Skype-Verbindung den beiden Direktoren der Serpentine Gallery seine Ideen vorstellte.
Für die Wiese vor der Galerie schlug der chinesische Künstler eine horizontale Scheibe vor, die in nur gut einem Meter Höhe über dem Boden zu schweben scheint. Sie bildet das Dach eines in die Erde gegrabenen Pavillons. Ihre Oberfläche ist vollständig mit Wasser bedeckt. Julia Peyton-Jones erkannte sofort das Potential dieser Dachkonstruktion. Für bestimmte Veranstaltungen kann das Wasser abgelassen werden, die Fläche ist dann begehbar. Für eine solche Sondernutzung wurden entsprechende konstruktive Änderungen vorgehalten. Wie schon bei manch anderem Pavillon der Vorjahre, ließ sich die unter enormem Zeitdruck und anderen Erschwernissen umzusetzende Konzeption nur verwirklichen, weil sich die Beteiligten schon aus vorherigen Bauvorhaben kannte. Stuart Smith fasst dies so zusammen: „Arup hatte bereits bei der Allianz Arena in München und dem ‚Vogelnest‘ in Beijing mit Herzog & de Meuron zusammengearbeitet, ich selbst bin an der Erweiterung der Tate Modern beteiligt, die zurzeit im Bau ist. Der diesjährige Serpentine-Pavillon ist allerdings das erste Projekt, das ich zusammen mit diesen Architekten fertiggestellt habe.“ Die Grundidee, sagt Smith, habe durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem „Vogelnest“, dessen irrationale Anordnung der Stützen und Streben von den Rissen in der Glasierung traditioneller chinesischer Töpferei inspiriert war. Ähnlich volatil durchzögen nun die Streifenfundamente aller bisherigen Serpentine-Pavillons den Grundriss des diesjährigen. „Wasser spielt offensichtlich eine große Rolle, aber wir hatten auch eine Reihe von Dingen zu berücksichtigen, die auf den ersten Blick nicht erkenntlich sind, sich aber aus der Form und Funktion ergeben. Zum Beispiel die Belange der Geotechnik, des Brandschutzes, der Entwässerung, der Beleuchtung und der spezifischen Materialeigenschaften von gepresstem Kork“, führt Stuart Smith aus.
Witz und Wagnis
Und dennoch: Waren die vergangenen elf Pavillons oft kühne und wagemutige Entwürfe, die das Konventionelle und Machbare architektonisch, ingenieurtechnisch, materiell wie inszenatorisch herausforderten, so scheint die flache Wasserscheibe mit der darunter befindlichen Korkgrotte das krasse Gegenteil zu sein. Der Witz und das Wagnis lagen für alle Beteiligten wohl eher in der diplomatischen Kühnheit, die Prominenz eines aktuell unter Hausarrest stehenden Künstlers mit einer solchen quasi-rebellischen Aktion zu steigern, als in der Absicht, ein bestechendes Exempel von überwältigender Baukunst abzulegen. Die Intention, zu den Überresten der Pavillon-Geschichte buchstäblich hinab zusteigen, sie zu dokumentieren und für die Besucher begehbar zu machen, kommt wie ein gegenstandsloses Unterfangen daher, da kein einziges Fundament oder Überbleibsel irgendeiner Art im Boden verborgen lag. Was sich im Halbdunkel unter der circa 300 Quadratmeter großen Dachscheibe, umfangen vom moderigen Geruch portugiesischen Korks, offenbart, ist die „mind map“ einer idealisierten Baugeschichte. Für den gewöhnlichen Besucher mag dies alles etwas kurios, fremdartig und an den Haaren herbeigezogen sein. Folgt man jedoch der romantischen Passion der Briten für Gärten und für Gartenbaudenkmäler, so ist der Hinweis auf die mystisch-barocke Grotte Grund genug, auch diesen zwöften Pavillon für eine gelungene Inszenierung einer britisch-internationalen Gartenbaukunst zu halten.
Wasser unten, Wasser oben
Konstruktion, Werkplanung und Bauausführung des Pavillons standen, wie all die Jahre zuvor, unter hohem Zeitdruck, wodurch einmal mehr besondere Anforderungen an das Baumanagement gestellt waren. In nur sechs Wochen wurde das Bauwerk vor Ort errichtet. Die Grundrisse aller bisherigen Pavillons liegen innerhalb eines Kreises mit einem Durchmesser von 22,50 Metern. Die unterschiedlichen Fundamentschichten treppen sich bis zu einer Tiefe von 1,70 Metern ab. Zunächst befürchtete man, dass Grundwasser auftreten würde, aber der Lehmboden hielt dicht. Es war dann das Regenwasser, das sich wie in einer großen Pfütze sammelte. Die vom Künstler, den Architekten und den Ingenieuren beschworene tiefgründige Archäologie, hinab zu den vermeintlichen Fundamenten aller bisherigen Pavillons, versank zunächst im Schlamm. Seit dem ersten Aushub halten nun mehrere Drainage-Pumpen die Grube trocken. Das launische Wetter erschwerte den Aufbau in diesem Jahr ungemein, denn nachdem es im März überhaupt nicht geregnet hatte, schüttete es den ganzen April hindurch wie aus Kübeln. So legte man zunächst eine Kiesdrainage an, um für alle Widrigkeiten des Wetters gewappnet zu sein. Darüber zimmerte man aus Holz die „Landschaft“ der „alten“ Fundamente, die wiederum vollständig mit fünf Zentimeter starken Platten aus dunkelbraunem Kork verkleidet wurden. Alle zwölf, das Dach tragenden Stützen (davon eine Doppelstütze) wurden ebenfalls bis hinauf zur Decke mit Kork beklebt. In dieser Korkgruft erzeugen die niedrige Decke, das schummerige Licht und der feucht-modrige Geruch die Impression einer urwüchsigen Moorlandschaft – ein wohlgesetzter Gegensatz zu den blühenden Olympialandschaften im Osten Londons.
Das zwölf Zentimeter starke Stahldach hat einen Durchmesser von 20 Metern. Sein Rand besteht aus einer 15 Zentimeter hohen Lippe, die es gestattet, das Dach komplett zu fluten. Ein jedes der in Yorkshire vorgefertigten und vor Ort zusammengeschweißten Dachsegmente wiegt 5000 Kilogramm. Das ist die maximale Kapazität des Krans. Zunächst verschraubte man die Segmente mit 480 Bolzen, danach wurden sie miteinander verschweißt, und schließlich erhielt das gesamte Dach einen Anstrich mit einer wasserdichten Schutzschicht. Das Ganze wird von dreizehn unterschiedlich dimensionierten Stützen getragen, die auf liegenden T-Stücken ruhen, welche ihrerseits auf vorgefertigten Bohrpfählen gegründet sind. Von Anfang an plante man das Dach so, dass es auch Besucher tragen kann, die bei besonderen Anlässen das Dach betreten werden können. Nach dem Sommer wird der Pavillon, wie üblich, wieder abgebaut und an einem anderen Ort neu errichtet. Dieses Jahr hat einer der Hauptsponsoren den Pavillon vom Fleck weg gekauft: Der Stahlmagnat Lakshmi N. Mittal und seine Frau Usha werden ihn im Oktober abmontieren und in einem ihrer privaten Gärten aufstellen lassen. Wo genau, steht noch nicht fest. 



Fakten
Architekten Weiwei, Ai, Beijing; Herzog & de Meuron, Basel
Adresse Kensington Gardens‎ London, Greater London United Kingdom


aus Bauwelt 25.2012
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