Die Nürnberger Versandmaschine
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Der Quelle-Konzern hinterließ nach seiner Insolvenz der Stadt Nürnberg ein Gebäude von Ernst Neufert, groß wie ein Stadtteil. Die Autorin hat in ihrer Schulzeit lange Nachmittage im Quelle-Kaufhaus verbracht und kürzlich das leere Versandhaus wieder besucht. Auch wenn es derzeit nicht so aussieht: Es muss eine Alternative zur Shopping-Mall geben
Zwei Erinnerungen melden sich zurück wie verblichene Polaroids, als ich an einem Novembermontag 2011 das leer stehende Versandhaus der Quelle besichtige: die Frauen in den Kittelschürzen, die am späten Nachmittag müde und mit Einkaufstaschen beladen von der Quelle zum Busparkplatz an der Adam-Klein-Straße laufen – Hunderte, Tausende von Schichtarbeiterinnen, die noch eine Stunde Busfahrt ins Umland vor sich hatten, bevor ihr Arbeitstag zu Ende war. Und: das Highlight des Quelle-Besuchs, die Camping-Ausstellung auf dem mondänen Flachdach, eine bunte Landschaft aus Kuppelzelten, aufgebaut zum Testliegen mit Blick über den Nürnberger Westen bis hinauf zur Kaiserburg. Schaltzentrale unserer kleinbürgerlichen Hölle Nichts davon ist heute mehr zu sehen. Das Dach ist leer, ebenso die Busparkplätze, die sich an den Quelle-Koloss anlagern wie die Landebahnen eines Flughafens. Am 1. September 2009 meldete das Traditionsunternehmen Quelle Insolvenz an, wenige Monate später wurde das Stammhaus an der Fürther Straße geräumt. Seitdem stehen 253.000 Quadratmeter Fläche weitgehend leer – eine Zahl, bei der nicht nur Projektentwicklern der Kopf schwirrt. Die „Versandmaschine“, das zwischen 1955 und 67 in mehreren Bauabschnitten errichtete fordistische Vorzeigestück von Ernst Neufert, ist das größte Gebäude der Stadt. Hier wurden die Waren aus dem 1400-seitigen Quelle-Katalog gesammelt, gelagert, verpackt und verschickt, und im Quelle-Kaufhaus auch verkauft. Hier war jahrzehntelang die Schaltzentrale „unserer kleinbürgerlichen Hölle“, wie Hans Magnus Enzensberger 1960 die aufkommenden Versandkataloge charakterisierte. Heute bestellen die Konsumenten längst im Internet, doch die Architektur hat überdauert: Als wäre nichts geschehen, steht der Großbau neben der Bahntrasse und dem „Frankenschnellweg“ und empfängt die von Norden kommenden Besucher: Taucht linker Hand der Quelle-Turm auf, fährt man noch eine ganze Weile entlang der Bandfassade aus Hartbrandstein – und dann ist man angekommen in Nürnberg, der Industriestadt. Als das Quelle-Imperium unterging, war ich bereits zwanzig Jahre lang fort aus Nürnberg, und so habe ich den Showdown nur in den Medien verfolgt: Angela Merkel, die staatliche Hilfen nach langen Verhandlungen ablehnt; die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz im Pelzmantel, die beklagt, fortan von 500 Euro im Monat leben zu müssen; das Nürnberger Arbeitsamt, das im Versandhaus eine Sonderstelle für die 4500 entlassenen „Quellianer“ einrichtet. Unwirkliche Bilder eines Konzerns, der mit dem Medium „Katalog“ irgendwie im 20. Jahrhundert kleben geblieben ist. Mit der Quelle hat der Nürnberger Westen innerhalb kurzer Zeit den dritten großen Produktionsstandort verloren, erst 2005 hatte die AEG auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Produktion nach Polen verlagert, Triumph-Adler verabschiedete sich bereits 1993. Nicht, dass die Stadtteile Eberhardshof, Muggenhof, Gostenhof und Bärenschanze, die sich entlang der Fürther Straße aufreihen, in der Nachkriegszeit eine besondere Blüte erlebt hätten. Sie waren auch schon zu meiner Schulzeit in den achtziger Jahren eher vernachlässigte „Gastarbeiterviertel“ mit einem Patchwork aus gründerzeitlicher Bebauung und Großstrukturen, die das Stadtgefüge unterbrechen: Neben den Industriearealen wären ein Straßenbahndepot, die JVA Nürnberg mit Justizgebäude und ein Klär-
werk zu nennen. Aber dass jetzt das Albrecht-Dürer-Gymnasium, das ich bis 1989 besucht habe, in einer Broschüre zum „Stadtumbau West“ auftaucht, führt mir deutlich vor Augen, dass sich die Verhältnisse nicht gerade verbessert haben. Ein kürzlich entschiedener städtebaulicher Wettbewerb soll zumindest das Quelle-Umfeld durch Wohnungen aufwerten – doch was wird aus dem Neufert-Bau? Seit 2005 steht das Ensemble unter Denkmalschutz, eine Abrissdebatte gibt es nicht. Die Stadt bekennt sich zu ihrem Erbe, auch wenn das die Suche nach einem Investor nicht leichter macht: Wer würde alleine die energetische Sanierung der kilometerlangen einfach verglasten Fassade bezahlen können? Hinzu kommen die typischen Schwierigkeiten bei der Konversion großer Industrieflächen (wie die Gebäudetiefen von 45 bis 60 Metern) und vor allem die Besonderheiten eines beinharten Funktionalismus: Der große Standardisierer Neufert hat, ausgehend von „Greifhöhe“ und „Füllmöglichkeit“ der eigens entwickelten Paletten, ein Gebäude von brutaler Schönheit entworfen, das rücksichtslos auf seinen Zweck zugeschnitten ist: Die durchlaufende Brüstungshöhe von 1,60 Metern etwa war auf die Höhe der Fließbänder abgestimmt, so dass man, vor allem bei Dunkelheit, das Sortiment im Vorbeifahren durchs Gebäude schweben sehen konnte. Heute erschweren gerade die hohen Brüstungen eine neue Nutzung als Hotel oder Büro: Es ist zu dunkel, der Blick fällt nicht auf die Straße. Nicht Mies stand hier Pate, sondern Gropius. Nachdem der letzte Eigentümer, die niederländische Valbonne B.V., ebenfalls in Insolvenz gegangen ist, verhandeln die Stadt Nürnberg und der Insolvenzverwalter derzeit mit dem Shopping-Konzern ECE. Rund 18.000 Quadratmeter Einkaufsfläche hatte das Quelle-Kaufhaus, die verbliebenen 90 Prozent waren Lager und Versand. Mehr Shopping will die Stadt auch in Zukunft nicht zulassen, um die mit wenigen U-Bahn-Stationen erreichbaren Innenstädte von Nürnberg und Fürth nicht „auszutrocknen“. Doch wie lange wird es dauern, bis die Stadt in die Knie gezwungen wird? Braunschweig hat nun anstelle eines Schlosses die „Schloss-Arkaden“ der ECE. Wird in Nürnberg hinter der Neufert-Fassade bald der „Bauhaus-Point“ eröffnet? Lieber Camping als Serienabfertigung Es gab kleinteilige, temporäre Nutzungen in den vergangenen beiden Jahren. Eine freie Schule war im obersten Geschoss eingezogen und hat es nun doch wieder verlassen, die Umstände sind unklar. Es gab Architektur-Ausstellungen, Veranstaltungen, sogar eine Modenschau ehemaliger Mitarbeiterinnen mit Konfektion aus dem Quelle-Katalog. Die Verbundenheit mit dem Traditionsunternehmen ist groß in Nürnberg. Das Quelle-Areal ist eine kleine Stadt in Wartestellung: Die Betriebsfeuerwehr ist noch besetzt, die Küche der 900-Mitarbeiter-Kantine noch eingerichtet, die Topfpflanzen wachsen weiter, ganz so, als könne bald wieder Leben einziehen. Die Messe Nürnberg denkt über einen zweiten Standort für Konferenzen auf dem Quelle-Areal nach. Könnte man alle Interessen bündeln und eine kleinteilige Mischnutzung entwickeln? Das Areal ist bestens angebunden, innenstadtnah, und es verfügt über einen gewissen Kult-Status. Doch alle „Kreativen“, alle Unternehmen, die den Standort beleben könnten, versammeln sich bereits gegenüber „Auf AEG“, wo sanierte Gewerbeflächen und Ateliers zur Verfügung stehen, und im „Mittelstandszentrum TA“. Daher ist es verständlich, dass sich die Stadt Nürnberg den einen großen Investor wünscht, schon alleine wegen der Denkmalpflege. Es mag hauptstädterisch klingen (und Berlin hat ja noch nicht einmal seinen „Elefanten“ im Griff, das mit 300.000 Quadratmetern im Verhältnis zur Stadt kleine Flughafengebäude Tempelhof) – aber sollte die Stadt nicht mutiger sein und auch an Wohnen, Sport, Grün, eine Art vertika-len Stadtteil denken? Ein Konzept, das eher an die ehemalige Camping-Ausstellung auf dem Dach anschließt als an die Serienabfertigung? Sollte man das zarte Pflänzchen „Selbstorganisation“ nicht weiter gießen? Dazu müssten freilich die Auflagen des Denkmalschutzes gelockert und, vor allem, alternative Enwickler und Geldgeber gefunden werden. Man könnte ja mal im „Neufert“ blättern und nachsehen, was da alles hineinpasst.
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