Ersatzneubau am Triemliplatz
Text: Simon, Axel, Zürich
In seiner Kritik an den Wohnbauten der Architekten von Ballmoos Krucker im Zürcher Stadtteil Albisrieden geht es dem Autor nicht um die Details der – unbestritten herausragenden – Architektur.
Zweierlei Formen von „Masten“ sind in den Vorgärten des Zürcher Stadtteils Albisrieden zu sehen: Die einen – hölzerne Baugespanne, die nach Schweizer Vorschrift die Ausmaße künftiger Bauten anzeigen – künden vom Maßstabssprung, der diesem grünen Quartier am Fuße des Üetlibergs bevorsteht. Die anderen – Fahnenmasten mit Werbebannern – stehen eher dafür, dass die Heimat so bleibt, wie sie immer war. Zumindest gefühlt. Am untersten Zipfel von Albisrieden haben die Fahnenmasten ihr Terrain verloren. Beim Triemliplatz verändern zwei Neubauten das Bild. Sich krümmend kriechen sie den Hang hinauf, sechs bis sieben Geschosse hoch, betonverkleidet. Es sind sogenannte Ersatzneubauten der Baugenossenschaft Sonnengarten (BGS), und sie ersetzen die Stammsiedlung dieser Genossenschaft, die der Architekt des Zürcher Hallenstadions, Karl Egender, in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs erbaut hatte. Locker staffelten sich die Satteldächer der dreigeschossigen Zeilen den grünen Hang hinunter. Nun sind sie weg.
Die Bewohner des Quartiers verstehen das nicht. Sie verstehen nicht, wieso ihnen plötzlich siebengeschossige Wände das Licht nehmen können. Sie verstehen nicht, warum die Neubauten so endlos lang sind, so geschlossen, auch wenn sie nun den Lärm der Birmensdorferstraße fernhalten. Der neue große und grüne Hof, sicher, der wird schön. Ein Weg wird hindurchführen, Kinder werden hier spielen. Doch noch ist der Hof grau, noch wächst dort keine der Baumgruppen, die die lange Betonfassaden unterteilen werden. Die Hoffassade des oberen Riegels wirkte lange sogar noch wuchtiger, denn für eine (erfolglose) Geothermiebohrung grub man den Hang zwei Geschosse tief ab und schüttete ihn erst wieder auf, nachdem die ersten Mieter schon eingezogen waren.
Verdichten oder Bewahren?
Christine Seidler lebte eine Zeit lang in einem der abgerissenen Häuser. Als Raumplanerin findet sie Verdichtung wichtig, als Gemeinderätin bemüht sie sich, diesen abstrakten Begriff auch zu vermitteln. Sie bot den interessierten Quartiersbewohnern Führungen an, in die Siedlung Triemli, vor, während und nach dem Abriss. Ihr Eindruck: „Die Leute sind erschüttert.“ Emotional habe sie großes Verständnis für den Unmut der Menschen dort. „Ihr Quartierbild wurde überformt, und das neue wird, trotz schönem Innenhof, auch nicht akzeptiert.“ Verdichtung führe unweigerlich zu einer Veränderung des Stadtbilds, so Seidler. Aufgabe der Behörden sei es, bestehende Qualitäten eines Quartiers – seien sie sozialer, ökologischer oder ästhetischer Art – zu schützen und mit Sorgfalt weiter zu entwickeln. Leitbilder und Strategien seien dafür Voraussetzung, fehlten hier jedoch bisher. Das Fazit der Raumplanerin: „Schaut man in die Zukunft, ist eine Verdichtung an dieser Stelle richtig. Schaut man nostalgisch zurück, ist sie falsch.“ Man müsse verdichten, aber man müsse sich bei jedem konkreten Beispiel fragen: „Was ist die neue Qualität?“
Grundfrage neue Qualität
Die entscheidende Qualität der neuen Siedlung Triemli ist eben jener grüne Hof. Zwischen den alten Zeilen wurde wenig mehr gemacht, als die erwähnten Fahnen gehisst. Der neue Hof aber ist ein Raum der Gemeinschaft. Auf diesem zentralen Quartiersplatz werden die Bewohner im nächsten Sommer Pétanque spielen und irgendwann auch im Schatten der Bäume sitzen können. In einigen Jahren wird der Hof wohl ganz selbstverständlich der Identitätsort des Quartiers sein – sein „Sonnengarten“. Zum zweiten großen Qualitätssprung, den die Siedlung bietet, gelangt man über helle, mit Wandbildern von Jürg Moser geschmückte Treppenhäuser. In den großen, lichten Wohnungen lebt es sich modern, zwischen hell gestrichener Betondecke und dunklem Boden aus Zementguss. Doch hat die Architektur hier auch von der Vergangenheit gelernt – „Gründerzeitwohnungen unserer Zeit“ entdeckte die Jury im Siegerprojekt des Wettbewerbs und lobte den „Gebrauchswert“. In den ökonomisch dicken Baukörpern reichen durchgesteckte Wohnräume von einer Außenwand zur anderen, die Wohnküche an einem Ende. Seitlich dieses Zentrums scharen sich Räume und Bäder zu „Zimmerclustern“. Im Sü-den blickt man in jeder Wohnung von einer Loggia auf den Hang des Üetlibergs, hier findet selbst ein großer Esstisch Platz. Vom schmalen Nordbalkon schauen die Raucher der höheren Wohnungen auf die Stadt hinunter, die anderen in den gemeinschaftlichen Raum – wer hier wohnt, wohnt nicht anonym, auch das gehört zum Quartier.
Abriss oder nicht?
Urs Erni ist seit einem Vierteljahrhundert Präsident der Baugenossenschaft Sonnengarten und einer der Initiatoren des Ersatzneubaus Triemli. Er schildert die Mängel der Stammsiedlung: Die in großer Wohnungsnot gebauten Wände waren dünn, die Decken meist aus Holz. 90 Prozent der 144 Wohnungen hatten drei Zimmer auf knappen 67 Quadratmetern. In ihnen hörte man den Fernseher der Nachbarn ebenso deutlich wie den Verkehr der stark befahrenen angrenzenden Straße. Die letzte Sanierung lag eine Generation zurück, eine weitere war nötig. Aber auch sie hätte die alten Gemäuer nicht auf den notwendigen Energiestandard gehoben. Als dann ein Bewohner mit der Idee daherkam, größere Balkone anzubauen, begannen weitere Vorstellungen zu entstehen.
Ein Immobilienberater wird herangezogen, dessen Studien zeigen, dass ein Ersatzneubau mehr Vorteile bieten würde als Sanierung, Teilabriss oder Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen: ein besserer Wohnungsstandard und -mix, größere Wohnungen und über neue die Architektur ein frisches Image. Lediglich beim Punkt Realisierung schnitt das Szenario Ersatzneubau etwas schlechter ab – weshalb wohl die Berater in ihrer Schlussfolgerung empfahlen, nur die Häuser entlang der beiden großen Straßen abzureißen und dort neu zu bauen, die Häuser im Inneren der Siedlung jedoch „strukturell zu verändern“, also stark umzubauen. So könne man die bestehenden Raumreserven ausschöpfen und die Ziele, bessere Wohnungen und gehobenere Mieter, am besten erreichen. Die Genossenschaft war dann sogar noch mutiger als der Immobilienberater und riss alles ab. Weil, so Urs Erni, „alles für den Ersatzneubau sprach“.
Marcel Scherrer ist Partner bei der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner und Co-Autor der bereits erwähnten Studie von 2002. Was ließ ihn damals zu der vorsichtigeren Variante raten? Vielleicht der damals größere Respekt vor höheren Mieten, so sagt Scherrer heute. Man habe stärker quartierbezogen gedacht. Aber man solle eine Empfehlung wie die damalige nicht überbewerten. Entscheidend sei, was dann mit dem Auftraggeber als Diskussionsgrundlage erarbeitet werde.
Umsiedlung und neuer Wohnstandard
Die Genossenschaftler diskutierten und entschieden. Auf ihrer Generalversammlung 2003 sprachen sie sich mit nur wenigen Gegenstimmen für einen Ersatzneubau und für die Durchführung eines Architekturwettbewerbs aus. Bald da-rauf begann die Umsiedlung der rund 200 Bewohner, viele sozial schwach, viele davon Senioren, alleinstehend oder zu zweit. Die meisten fanden eine andere Wohnung der Genossenschaft im Quartier oder sie nutzten die Situation für einen Umzug ins Altersheim, wobei die Schweizer Stiftung Pro Senectute half. Wo Wohnungen weit vor dem Abriss frei wurden, zogen befristet Studenten ein.
Über eine grundsätzliche Zielrichtung des Auftraggebers aber bestand kein Zweifel: Dass die Genossenschaft mit dem Neubau eine andere, gehobenere Klientel ansprechen wollte. „Die demografische Zusammensetzung im Triemli-Quartier ist recht homogen“, sagt Urs Erni. „Wir brauchen Jüngere, brauchen Menschen, die soziale Verantwortung tragen, die in unseren Gremien und Kommissionen mitarbeiten.“ Luxuswohnungen allerdings baut die Genossenschaft hier nicht. Als sie vor sieben Jahren ihre Siedlung Hagenbuchrain am anderen Ende von Albisrieden fertigstellte, wurde ihr genau das vorgeworfen. Allein die Wohnräume sind dort üppige 44 Quadratmeter groß, die Fenster aus Bronze, 3,5 Zimmer auf 109 Quadratmetern mit zwei Bädern für 2350 Franken im Monat. Urs Erni hat daraus gelernt: „Wir bauen jetzt ökonomischer – günstiger und kleiner.“ 4,5 Zimmer im Triemli-Neubau kosten weniger als 3,5 im Hagenbuchrain. Und kommen mit weniger Fläche aus.
Ein Automatismus zu immer größeren Dimensionen
2005 schrieb die Genossenschaft dann zusammen mit dem Amt für Hochbauten (AHB) der Stadt Zürich den offenen Wettbewerb aus. 66 Vorschläge gingen ein. Mit verschiedensten Bautypen und -strukturen versuchten die Architekten die Quadratur des Kreises, sprich eine dichte Packung von annähernd 200 Wohnungen mit dem kleinteiligen Quartier zu verknüpfen – ein „städtebauliches Dilemma“ nannte das der Bericht der Jury. Die meisten Teilnehmer scheiterten an dem Di-
lemma, die Zeilenstruktur beizubehalten, dafür aber immer dickere Baukörper anzubieten. Die Zeilen wurden breiter, länger und höher, um größere Wohnungen aufzunehmen und die hohe Ausnutzung des Areals zu garantieren. Das Grün dazwischen wurde von hohen Wänden bedrängt. „Es braucht neue Formen von Außenräumen, die diesem Maßstabssprung gerecht werden“, fordert Patrick Gmür, heute Direktor des Zürcher Amtes für Städtebau, der damals noch als privater Architekt Lösungen zum tiefen Grundriss entwickelt hatte (siehe auch Bauwelt 27.06 und 26.08). Eines wurde beim Wettbewerb klar: Nur wenn die Außenräume eine gewisse Größe erreichen, bieten sie eine Qualität, die über pures Abstandsgrün hinausgeht. „Beim Ersatzneubau Triemli führten alle Anforderungen und Auflagen dazu, dass der Maßstab des Quartiers transformiert wurde, um dafür einen in der Größe sinnvollen Außenraum zu schaffen“, sagt Gmür.
Das Problem ist nicht nur von der Triemli-Bebauung her bekannt: Zeitgemäße Anforderungen und Auflagen katapultieren Neubauten in andere Dimensionen: mehr und größere Wohnungen, nachhaltige Bauweise, eine üppigere Erschließung, mehr Parkplätze, die Feuerwehrzufahrt usw. Manche Areale können heute so stark ausgenutzt werden, dass die Strategie, den Charakter der Quartiere unangetastet zu lassen, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Patrick Gmür: „Einige der neuen Zürcher Wohnbauten offenbaren, dass wir diese Strategie hinterfragen und ergänzen müssen.“
Architektenästhetik kontra „Architektur der Herzen“?
Wichtig bei solch gravierenden Veränderungen und Maßstabssprüngen ist die ständige Information der Bevölkerung. Ihren eigenen Leute hat die Genossenschaft immer wieder erläutert, was hier entstehen würde. Die bestehenden Quartiervereine allerdings wurden nicht einbezogen, was der Genossenschaft zum Teil schlechte Presse einbrachte. Der Kritik an Größe und Farbe der neuen Siedlung folgte dort immer wieder der Satz: „Wir wurden nicht gefragt!“ In Zukunft werde man die Kommunikation verbessern, so die Genosseschaft.
Und wie verhält sich die Architektur in diesem Prozess? Wie bringen die Architekten den „verstörten Leuten“ den neuen, massiveren Maßstab näher? Wie machen sie die nötige bauliche Verdichtung verdaulich? Das Zickzack der Baukörper bricht ihre Wucht, macht sie „weicher“. An ihren Enden nimmt ihre Höhe ab, sie betten sich in den Hang, neigen sich etwas herunter zu den alten Häusern. Und die „Brutalität“ der Betonfassaden? Die Architekten von Ballmoos Krucker sind, soviel ist sicher, keine „Architekten der Herzen“. Sie bauen keine dekorierten Fassaden, die die Seele wärmen. Sie pochen auf die Langlebigkeit und damit Nachhaltigkeit ihres Betonreliefs gegenüber verputzem Styropor. Als Entwerfer verhalten sie sich eher wie Spartaner. Schon die streng gezeichneten Bilder, die auf den Baustellenschildern zu sehen waren, richteten sich eher an Architekten denn an Laien. Wie das Streiflicht auf dem profilierten Beton und dessen wechselnde Farbtöne von rötlichbeige bis schwarz. Das ist gekonnt, das ist stilsicher. Den Gefühlen der Quartiersbewohner aber zeigt es die kalte Schulter.
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