Haus H
Auf welchem Level bist du gerade?
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Ein dichtes Geflecht von Ebenen, Treppen und Beziehungen, untergebracht in einer offenen Struktur: Haus H von Sou Fujimoto Architekten in Tokio kommt mit wenigen Details aus und stellt die gängigen Vorstellungen vom Leben einer Familie auf den Kopf.
Er habe sich, schreibt Sou Fujimoto über sein erstes Haus in Tokio, eine „majestätische Ruine“ vorgestellt, die irgendwann einmal von einer Gruppe von Leuten bevölkert sein wird. Tatsächlich ist das Wohnhaus seit August von den Auftraggebern, einem Ehepaar mit Kind, bewohnt, das Auto parkt in der Garage. Und doch steht der Neubau an der Straßenecke, als sei er noch nicht ganz fertig: ein Rohbau aus Sichtbeton mit sechs großen Öffnungen zu jeder Seite. An der Fassade sind keine Hierarchien abzulesen. Garage, Wohnraum und Terrasse werden gleich behandelt, lediglich die Wohnräume sind mit einer feststehenden Verglasung geschlossen.
Ein Haus wie ein Baum
Den Wunsch der Bauherren nach möglichst vielen verschiedenen Räumen hat Fujimoto übersetzt in eine geometrische Variation auf die Zahl Vier: Vier Geschosse sind in dem zehn Meter hohen Baukörper untergebracht, der das nur 72 Quadratmeter große Grundstück fast ganz ausfüllt. Jedes an sich schon winzige Geschoss ist in vier Räume unterteilt, die jeweils unterschiedlich hoch und mit einer der großen Öffnungen zur Stadt hin ausgestattet sind. Sechzehn Räume auf einer Grundfläche von 124 Quadratmetern – so will es die Entwurfstheorie. Im Ergebnis sind es dann immerhin zwei Schlafräume, ein Gästezimmer, eine Bibliothek, ein Wohn- und ein Essraum, nicht mitgerechnet Bad, Küche, Terrasse und die zahlreichen Lufträume. Statt von Räumen sollte man wohl eher von Ebenen sprechen, da auch die Innenwände und Geschossdecken durchlöchert sind mit großen Öffnungen, die nach dem gleichen Prinzip wie die Fassade zum Teil verglast sind, zum auch Teil nicht. Der Architekt vergleicht das räumliche Konzept mit „einem großen Baum, auf dem man von Ast zu Ast springen kann, auf dem es Plätze zum Ausruhen, Essen und zur Unterhaltung gibt und man sich immer der Gegenwart der anderen Bewohner bewusst ist“. So kann man von der Kinderebene aus mit den Beinen in die Küche baumeln, und vom Schlafzimmer hat man einen freien Blick auf die Eingangshalle.
Die Detailarmut der Fassade setzt sich im Inneren fort, wenn auch nicht mehr so roh: weiß verputzte Wände, heller Holzboden, Milchglas, wo nötig. Im Überfluss vorhandene Holztreppen verbinden die Splitlevels. Im Kontrast zu der rationalen Aufteilung des Grundrisses sind sie wie zufällig angeordnet, mehr Objekt als funktionales Element. Man würde sich kaum wundern, wenn eine Treppe, wie auf einer Zeichnung von Escher, in einen noch unentdeckten Raum führte. Zwei der Treppen – eine auf der Kinderebene und eine auf der Terrasse – enden ohne Ziel, als Kanzel, als Ausguck.
Die Präsenz der anderen
Der 38-jährige Fujimoto, der bislang vorwiegend in seiner Herkunftsprovinz Hokkaido und in anderen ländlichen Gegenden Japans gebaut hat (
Heft 39–40), fügt mit „Haus H“ den vielen experimentellen Minihäusern in Tokio eine Struktur hinzu, die den Bewohnern unübersehbar einen bestimmten Lebensstil vorschreibt: Rückzugsmöglichkeiten sind rar, akustische Abgrenzungen fast unmöglich, die Barrierefreiheit ein großes Fragezeichen. Raum ist hier als ein dichtes, dreidimensionales Geflecht von Beziehungen definiert. Die Offenheit privater Auftraggeber scheint in Japan erstaunlich groß zu sein. Ich frage mich, wo hierzulande die Bauherren sind, mit denen Wohnexperimente verwirklicht werden können.
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