Im Windschatten der Infrastruktur
London 2012
Text: Goevert, Tobias, London
Schon jetzt durchlöchert die nächste Großbaustelle die Stadt: Die von Ost nach West verlaufende Regionalexpresslinie Crossrail soll 2018 in Betrieb gehen. Das milliardenschwere Vorhaben ist das aktuell größte Bahnprojekt Europas. Entlang der Strecke erwarten Investoren solvente neue Pendler.
Die Architektur- und Städtebauabteilung des Londoner Bürgermeisters arbeitet seit Jahren daran, dass auch die altansässigen Bewohner profitieren. Dabei wird hart kalkuliert, wo die immer knapperen Fördermittel in Zukunft eingesetzt werden.
Londons Bevölkerung wächst weiter beachtlich – trotz unsicherer Wirtschaftsentwicklung und trotz absurd aufgeblasenem Immobilienmarkt. Für die nächsten Jahre werden ca. 30.000 neue Wohnungen jährlich benötigt. Um das Wachstum innerhalb der Stadtgrenze zu halten, den Grüngürtel sowie die Parks nicht anzutasten und einen Verkehrskollaps zu vermeiden, konzentriert sich die Stadt auf die Nachverdichtung an wichtigen Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs. Deutliche Verbesserungen der Infrastruktur sollen die Situation von Füßgängern gegenüber Autofahrern stärken und benachteiligte Gebiete langfristig aufwerten. Große Hoffnungen werden dabei in das derzeit größte Infrastrukturprojekt Europas gesetzt, die Regionalexpresslinie „Crossrail“, die ab 2018 den Westen besser mit dem Osten Londons verknüpfen und veraltete Pendlerzüge ergänzen wird (siehe S. 68/69). Es wird erwartet, dass das mit 16 Milliarden Britischen Pfund veranschlagte Megaprojekt zahlreiche private Investitionen entlang der neuen Bahnlinie auslöst – so wie es der Fall war, als in den neunziger Jahren die „Jubilee“-Linie erweitert wurde, die von Westminster über das bis dahin kaum an die U-Bahn angebundene Südufer der Themse und Canary Wharf bis nach Stratford führt. Crossrail könnte sich allerdings als Segen und als Fluch zugleich für bisher isolierte, sozial schwache Gebiete im Außenbereich der Stadt erweisen. Sie werden von ihrer neuen Attraktivität für kaufkräftigere Bevölkerungsschichten profitieren, aber auch der Gefahr der Verdrängung ihrer bisherigen Bewohner begegnen müssen und versuchen, hochverdichtete Investorenarchitektur zu verhindern.
Dalston – der coolste Ort Englands?
Wie die örtliche Bevölkerung mithilfe städtebaulicher Steuerung von Infrastrukturprojekten profitiert, kann man sich in den Stadtteilen Dalston (Hackney) und Woolwich heute schon ansehen. In beiden Gebieten wurden die Investitionen, die der Bau eines neuen Bahnhofs auslöste, durch städtebauliche Fördermittel ergänzt und so öffentliche Räume aufgewertet.
„Making Space in Dalston“ (Bauwelt 36.10) ist ein Pionierprojekt, das in London neue Maßstäbe für die Bürgerbeteiligung gesetzt hat. 2010 eröffnete der Bahnhof „Dalston Junction“, über ihm wurde u.a. ein Komplex mit Wohnungen zu Marktpreisen errichtet. Für das Projekt wurden Teile des historischen Ortskerns sowie ein Theater abgerissen. Die Bewohner reagierten auf diese „Aufwertung“ ihrer Gegend mit vehementem Protest, der in der gewaltsamen Räumung des Theaters gipfelte. Der Widerstand konnte durch eine kleinteilige, auf die Bedürfnisse des Quartiers zugeschnittene Strategie beruhigt werden. Gemeinsam mit J+L Gibbons und muf (siehe S. 42) entwickelte Design for London 76 Projekte rund um den neuen Bahnhof, die in der ersten Phase mit 1 Million Britischen Pfund gefördert wurden. Mobile Spielgeräte, Schilder und Vordächer für die Geschäfte, Begrünung der Straßenränder, Gemeinschaftsgärten – was unspektakulär klingt, verband sich in Dalston zu einer spürbaren Aufwertung des öffentlichen Raums, an der nun die ganze Bevölkerung aktiv beteiligt war.
In Woolwich wurde weit früher in die Entwicklung eingegriffen. Als klar war, dass die Gegend durch die Anbindung an Docklands Light Railway (2009) und Crossrail (2018) eine drastische Aufwertung erleben würde, holte Design for London 2003 die Architekturbüros Sergison Bates und East (siehe S. 46) für die Masterplanung mit ins Boot, um den Entwicklungsdruck auf das Gebiet von Beginn an abzufedern. Ein Teil der Steuergelder, die der Bezirk durch die Vergabe der Baugenehmigungen einnahm, wurden dazu verwendet, Busrouten und Wegverbindungen zu verbessern und den öffentlichen Raum aufzuwerten. Dafür erstellten Witherford Watson Mann eine Materialpalette, die, passend zum rauen Charme des ehemaligen Industriegebiets, auf schlichte, belastbare Materialien wie Granit zurückgreift. Bisher wurden im Schatten der durch die neue Infrastruktur angestoßenen Investitionen – derzeit sind allein 6000 neue Wohnungen sowie Büros und Einzelhandel geplant – mehr als 10 Millionen Britische Pfund in Projekte in Woolwich investiert. Sowohl in Dalston als auch in Woolwich sind die positiven Veränderungen kaum zu übersehen. 2009 wurde Dalston sogar von der italienischen Zeitschrift Vogue zum „coolsten Ort Englands“ gekürt.
Der Outer London Fund
Für Gebiete, die nicht von Großprojekten wie Crossrail oder den Olympischen Spielen profitieren, wurde 2011 das Förderprogramm „Outer London Fund“ aufgelegt. Es umfasst 50 Millionen Britische Pfund, die Vergabe der Gelder erfolgt über eine offene Ausschreibung. Jeder der Außenbezirke kann sich mit Projekten bewerben. Bisher wurden u.a. Straßenfeste, Fassadensanierungen oder die Entfernung überflüssiger Straßenmöbel und Werbetafeln gefördert. Die Unterstützung erfolgt nicht nur durch Geld, sondern auch durch Beratung, z.B. beim Grundstückserwerb oder der Firmengründung. In Willesden Green, im westlichen Bezirk Brent nahe Wembley, wurden innerhalb von nur zwei Monaten 25 Geschäfte mit 25 Designern zusammengebracht, die die Schaufenster der örtlichen High Street in einen riesigen Adventskalender verwandelten, der von der Architecture Foundation kuratiert wurde. In Waltham Forest, nördlich des Olympiaparks, wurden in die leerstehenden Räume des überdachten Wood-Street-Markts 21 Geschäfte und Organisationen geladen, die den um seine Existenz kämpfenden Markt wieder belebten; die High Street erhielt unter anderem neue Beleuchtung, Beschilderung und Begrünung.
Wie in Waltham Forest konzentrieren sich viele der Projekte entlang der High Streets. Damit folgt man der neuen Strategie des Bürgermeisters, Fördermittel dort zu bündeln, um diese linearen, mischgenutzten Zentren zu stärken (siehe S. 26/27). Addiert man die Mittel des Outer London Funds zu denen anderer Förderprogramme, kommt man auf 221 Millionen Britische Pfund öffentlicher Gelder, die über die nächsten zwei Jahre in 70 Gebieten Londons eingesetzt werden. Es wird davon ausgegangen, dass durch den Outer London Fund allein bereits 700 neue Arbeitsplätze geschaffen, 300 Ladenfronten verschönert und dutzende Kreative leerstehende Räume günstig nutzen werden können.
Good to Grow, Ready to Go
Allein der Bau eines der acht neuen Bahnhöfe für Crossrail kann schnell so viel kosten, wie dem Outer London Fund an Geldern zur Verfügung steht. Das macht klar, welche finanziellen Mittel diese Infrastrukturprojekte binden und wie sorgsam mit den vergleichsweise geringen Fördermitteln umgegangen werden muss. Als Entscheidungshilfe für deren Vergabe hat Design for London eine Art Werkzeugkasten zusammengestellt, der zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt die Potenziale aller ihrer verschiedenen Quartiere vergleicht. Zunächst nur entlang der Crossrail-Strecke angelegt, umfasst die Analyse inzwischen 550 Gebiete, für die wichtige Daten – z.B. Grad der Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und Zugang zu städtischer Infrastruktur (s.o.) – auf einen Blick abgerufen und mit weiteren Daten wie den durchschnittlichen Immobilienpreisen und Gewerbemieten oder zur Sozialstruktur der Gegend angereichert werden können. Um die Unterstützung der Stadtverwaltung zu erhalten, muss eine Gegend zwei Kriterien erfüllen: Sie muss „good to grow“ sein, der Markt muss sich also schon für sie interessieren, und sie muss „ready to go“ sein, es muss öffentliche und private Partner geben, die bereit sind, die Entwicklung zu steuern und zu finanzieren. Design for London bringt die vielen Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen an einen Tisch und sorgt dafür, dass die gestalterische Qualität gewahrt wird. Solcherart durch Beteiligung der Anwohner entwickelte Projekte im öffentlichen Raum sind das Scharnier, um öffentlichen Nahverkehr und Quartiere besser miteinander zu verbinden und soziale und wirtschaftliche Potenziale zu nutzen.
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