Inseln im Büchermeer
Minna no Mori Gifu Media Cosmos heißt das neueste Werk von Toyo Ito. Die kommunale Bibliothek der Stadt Gifu nördlich von Nagoya beeindruckt mit schirmartigen Hauben über den Leseräumen
Text: Adam, Hubertus, Zürich
Inseln im Büchermeer
Minna no Mori Gifu Media Cosmos heißt das neueste Werk von Toyo Ito. Die kommunale Bibliothek der Stadt Gifu nördlich von Nagoya beeindruckt mit schirmartigen Hauben über den Leseräumen
Text: Adam, Hubertus, Zürich
In einem Gespräch im November letzten Jahres bezeichnete Toyo Ito die Mediathek von Sendai als sein wichtigstes Bauwerk. Seit der Eröffnung 2001 ist das siebengeschossige Gebäude mit einem Grundriss von 50 x 50 Metern ein Erfolg und gilt als Touristenattraktion der ansonsten eher gesichtslosen Stadt 350 Kilometer nordöstlich von Tokio (Bauwelt 13.2001). Mit der Kombination von Glasfassaden, dünnen Betondecken und verzerrten Stahlgitterröhren, die die Vertikalerschließungen aufnehmen, gelang Ito eine Verbindung der damals dominierenden minimalistischen Architektur mit aufkommenden Tedenzen des Organischen; die Mediathek mit ihren gläsernen, durch die Geschosse schwebenden Liftkabinen avancierte zum gebauten Manifest einer Bibliothek im Informationszeitalter. Und noch etwas kam hinzu: Der Bau, der Geschosse für audiovisuelle Medien und für Bücher, aber auch Galeriegeschosse und eine Kinderbibliothek birgt, ist ein extrem öffentlicher Ort, ein Ort ohne Zugangsbeschränkungen, ein Ort für alle. Die programmatische Öffnung der Mediathek zur Stadt und zur lokalen Gemeinschaft war ein typisches Phänomen der damaligen Zeit und resultierte nicht zuletzt aus der Identitäts- und Legitimationssuche der durch die Digitalisierung scheinbar bedrohten Institution Bibliothek. Theoretiker des Digitalen wie William J. Michell („City of Bits“) sahen die Ära von Bibliotheken als physische Gebäude als beendet.
Heute mag man die Debatte etwas gelassener betrachten: Die digitalen werden die traditionellen Medien nicht grundsätzlich verdrängen, sondern ergänzen, wo sie mehr Potenzial besitzen. Bibliotheken zeigen sich damit hybridisiert. Und Bücher verschwinden nicht. Dies anzunehmen ist ähnlich naiv wie die Behauptung, durch Live-Übertragung via Internet würde der Kongresstourismus überflüssig. Viele Menschen schätzen nicht nur die Präsenz und Haptik von Büchern, sie suchen auch Orte auf, an denen sie mit anderen Menschen zusammentreffen. In dieser Hinsicht war die Mediathek Sendai wegweisend: Sie steht am Beginn einer Reihe von weiteren Bibliotheksbauten, die diese öffentliche Funktion für sich reklamieren. Dazu zählen zum Beispiel die Public Library von Rem Koolhaas in Seattle (Bauwelt 23.2004) oder die Idea Stores von David Adjaye im Londoner East End (Bauwelt 8.2006).
Wieder mehr Bibliothek
Nach kleineren akademischen Bibliotheken, wie der Tama Art Library in Hachioji im Westen von Tokio 2007 oder der Bibliothek des College of Social Sciences in Taipei 2013, hat Toyo Ito knapp fünfzehn Jahre nach Sendai ein weiteres kommunales Bibliotheksgebäude, im zentraljapanischen Gifu, fertiggestellt; 2011 hatte er den Wettbewerb gewonnen. Der Minna no Mori Gifu Media Cosmos – auch hier taucht der Begriff Bibliothek bezeichnenderweise nicht im Titel auf – ist in mancherlei Hinsicht mit dem Projekt in Sendai vergleichbar, auch wenn die klassische Funktion einer Bibliothek hier wieder stärker das Programm bestimmt, besitzen die beiden Volumina ungefähr die gleiche Größe. Und auch in Gifu ging es darum, einen öffentlichen, für alle zugänglichen Ort zu schaffen, der nicht zuletzt als kultureller Magnet die Identität der Stadt positiv beeinflusst.
Anders aber als in Sendai, wo die Mediathek in beengtem innerstädtischen Kontext ohne Vorplatz in die Höhe schießt, stand in Gifu genügend Platz zur Verfügung. So besitzt das 90 x 80 Meter messende Gebäude lediglich zwei Geschosse und ist von weiten Freiflächen umgeben, wie man sie aus japanischen Metropolen kaum kennt: Die Straße, die, vom zwei Kilome-ter entfernten Bahnhof her kommend, den Media Cosmos westlich flankiert, ist in diesem Bereich als breite Allee ausgebildet, vor der Südfassade des Neubaus liegt ein 45 Meter breiter Park. Und das ringsum verglaste Gebäude selbst verzahnt sich mit seiner Umgebung, weil vorgelagerte Terrassen und wie ausgestanzt wirkende konkave Einschnitte die strikte Trennung zwischen Innen und Außen unterlaufen. Das Restaurant tritt als separater Pavillon über polygonalem Grundriss aus dem Volumen heraus.
Ein verglaster Korpus mit einem zweigeschossigen Buchmagazin für 600.000 Bücher, an das die Räume der Verwaltung angegliedert sind, bildet den Kern des Erdgeschosses. Um diesen herum gruppieren sich diverse andere Funktionen: ein kreisförmiger, gegen außen zu öffnender Multifunktionsbereich im Süden, Galerieräume im Osten, frei nutzbare pädagogische Zonen im Norden, kleinere Räume für Workshops im Westen. Ein Convenience Store und die Rolltreppen zum Obergeschoss stärken den öffentlichen Charakter eines Forums mit zum Teil hektischer Betriebsamkeit.
Polyester-Globes
Kommt man im Obergeschoss an, so verändert sich die Atmosphäre. Die Ebene ist als ein einziger Raum konzipiert, der von einer ondulierten Dachstruktur überfangen und durch elf schirmartige Hauben bzw. Kuppeln gegliedert wird – Toyo Ito spricht von „Globes“. Das Dach setzt sich aus einer Struktur von Holzlatten zusammen, die im Winkel von 120 Grad miteinander verbunden sind. Die Dachstruktur schwingt auf und ab und umfängt die Spitzen der Globes; dort ist sie nicht geschlossen, sondern verglast, sodass Tageslicht einfällt, die Globes zum Leuchten bringt und damit den Raum indirekt erhellt. Die Globes selbst sind mit weißem Polyestergewebe in unterschiedlichen Punktmustern bespannt. Unter den Globes finden sich distinkte Räume, um die Regale für insgesamt 300.000 Bücher aufgestellt sind. Über sie hinweg kann der Blick frei durch den Raum schweifen. „Reading Globe“, „Reference Globe“, „Parent-Child-Reading-Globe“, „Studying Globe“ heißen die Bereiche unter den Hauben. Insgesamt 910 Sitzplätze gibt es in der Bibliothek.
Die Globes haben zunächst einmal eine thermische Funktion. Wie Kamine geformt, wird die Luft unter ihnen im Winter durch das Sonnenlicht erwärmt und strömt dann in den Raum, im Sommer sammelt sich die warme Luft unter den Globes und wird stoßweise durch Öffnung im Dach nach draußen geführt.
Ankerpunkte
Jenseits dieses praktischen Zwecks gliedern die Hauben das schier unendliche Kontinuum des Raums und geben Orientierung. Durch Variationen hinsichtlich Größe und Ausstattung – die einen laden zum intimen Arbeiten ein, die anderen zur Kommunikation, mal finden sich Spielecken für Kinder, mal Arbeitsbereiche für Erwachsene – werden sie deutlich unterscheidbare Orte, ja Ankerpunkte innerhalb eines Meers aus Regalen.
Das kompakte Büchermagazin im Erdgeschoss ist für die Benutzer nicht zugänglich. Die Bücherregale im Obergeschoss erinnern an das Bild eines wogenden Felds. Sie sind, wie Eisenspänen im Magnetfeld, um die Globes angeordnet. Das Wissen zeigt sich im Media Cosmos nicht mehr als Inszenierung, die durch das Studium angeeignet werden will, und tritt auch nicht mit dem Anspruch der Universalität auf. Die Geometrie der Kreisform im Media Cosmos bezieht sich – anders als zum Beispiel bei Gunnar Asplunds Meisterwerk in Stockholm – auf die Menschen. Die Hauben mit ihren unterschiedlichen kommunikativen Angeboten bilden gleichsam eine unhierarchische „Galaxie“ inmitten des „Bücherkosmos“. Die Mediathek in Sendai repräsentiert Wissensaneignung im Medienzeitalter. Gifu ist viel gelassener, auch unangestrengter. Bücher und Besucher begegnen sich auf gleicher Ebene – in einem Raum, der subtil differenziert ist. Entscheidend für die sehr angenehme Atmosphäre ist nicht zuletzt die geschwungene Form des Daches aus Holzlamellen. Angesprochen darauf, was sich seit Sendai in seinem Architekturverständnis geändert habe, erklärt Toyo Ito, dass nach der Idee der „blurring architecture“ jetzt die Materialität an Bedeutung für ihn gewinne. Der Gifu Media Cosmos ist ein beredtes Beispiel dafür.
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