Lehrerseminar Cleric der Bündner Kantonsschule
Bewahren und interpretieren
Text: Gabler, Christiane
Am ehemaligen Lehrerseminar Cleric der Bündner Kantonsschule in Chur wurde, für den Betrachter kaum wahrnehmbar, ein großer Teil der Beton-Fassadenelemente ausgetauscht. Das Gebäude sollte wärmetechnisch aufgerüstet werden. Architekt Pablo Horváth sieht das Projekt als ein Plädoyer für den Werteerhalt.
Bis heute gibt es in der Schweiz nur wenige Gebäude aus der Nachkriegszeit, die unter Denkmalschutz stehen. Wohl haben die größeren Städte ihre Denkmalinventare ergänzt, doch in vielen Teilen der Schweiz herrscht großer Nachholbedarf. Der Schweizer Heimatschutz hat 2008 die Kampagne „Aufschwung“ ins Leben gerufen, um der breiten Öffentlichkeit die baulichen Zeugnisse der internationalen Moderne als wichtigen kulturellen Beitrag näher zu bringen und ihr häufig schlechtes Image zu korrigieren.
Die Bündner Kantonsschule in Chur besitzt mehrere solcher Bauten aus den sechziger und siebziger Jahren. An verschiedenen Standorten rund um die historische Altstadt gelegen, prägen die öffentlichen Gebäude den einzigartigen Charakter der bedeutenden Bildungsanstalt mit ihrer über 200-jährigen Tradition. Vor gut zehn Jahren waren sowohl die Schulgebäude „Halde“ vom Architekten Max Kasper 1968–72 erbaut, als auch das ehemalige Lehrerseminar „Haus Cleric“, ein Gebäudeensemble des Architekten Andreas Liesch von 1964/65, stark sanierungsbedürftig. Mit dem Abriss des Gebäudes „Halde“ und einem Ersatz-Neubau plante die Stadt Chur, den traditionellen Schulstandort aufzugeben und das lukrative Grundstück wertschöpfend zu verkaufen. Sämtliche Schulgebäude sollten an einem neuen Campus konzentriert werden. Doch es kam anders.
Im Mai 2004 wurde die Abstimmungsvorlage für den Neubau mit 62 Prozent der Stimmen verworfen. Der Schweizer Heimatschutz trug mit einer entsprechenden Kampagne im Vorfeld maßgebend zur Sensibilisierung der Bevölkerung bei. Dabei spielten nicht nur die hohen Baukosten eine wichtige Rolle: Es ging um den Weiterbestand des geschichtsträchtigen Standorts und um den Erhalt des erst gut 30 Jahre alten Schulhauses im Rebgelände von Chur, das gemeinsam mit dem bischöflichen Schloss und der Kathedrale die Stadtkrone bildet. Das Abstimmungsergebnis war ein deutliches Verdikt für den Standort und für den Erhalt des bestehenden Schulhauses.
Dieses Ergebnis bewirkte zwangsläufig einen Paradigmenwechsel für den Umgang mit den bedeutenden Zeitzeugnissen der Kantonsschule seitens der Stadt. Nach der daraus folgenden behutsamen Sanierung des zum Abriss bestimmten Schulhauses Halde durch das Architekturbüro Jüngling und Hagmann aus Chur ist seit 2012 nun auch die Sanierung des ehemaligen Lehrerseminars Cleric abgeschlossen. Aus den gu-
ten Erfahrungen bei der Sanierung der Halde wurde auch für die Arbeiten an Planung und Realisierung des Cleric ein Gesamtleistungswettbewerb unter einer Auswahl von Generalunternehmern ausgelobt. Dieses Verfahren hat sich für die Stadt bewährt, wenn ein Bauvorhaben besonders komplex und mit vielschichtigen Aufgaben versehen ist, die eines hohen Koordinationsaufwandes bedürfen: Die garantierte kosten- und termingerechte Abwicklung durch einen Verantwortlichen unter Berücksichtigung klarer Qualitätsvorgaben war für die Behörden maßgeblich. Die Wettbewerbsvorgaben waren pragmatisch: Das Gebäude sollte komplett an den heutigen Stand der Technik angepasst werden. Selbstverständlich sollte es ebenfalls die „Minergie“-Anforderungen erfüllen, denn die Zertifizierung aller öffentlichen Gebäude mit dem schweizerischen Energieeffizienz-Label gehört mittlerweile zum Standard. Es fordert eine optimale Wärmedämmung der Außenhülle sowie eine kontrollierte Lüftung aller Räume. Die Erfüllung sämtlicher aktueller Normen stellte erhöhte Anforderun-
gen, beispielsweise an Erdbebensicherheit, an Barrierefreiheit und an Schalldämmwerte. Neben der Ertüchtigung der Substanz waren vom Planungsteam natürlich auch Antworten auf die räumlichen Anforderungen eines modernen Schulbetriebs zu geben.
Die farbigen Pläne des sanierten Gebäudes bilden deutlich ab, dass diesem Potpourri aus Anforderungen zum Teil starke Eingriffe in die Substanz des ehemaligen Lehrerseminars folgten. Umso überraschender präsentiert sich augenscheinlich das aus dem Wettbewerb siegreich hervorgegangene Projekt des Churer Architekten Pablo Horváth als nahezu identisch mit dem Originalzustand.
Die Antwort der Architekten auf die gestellten Aufgaben entspricht nicht unbedingt der reinen Lehre der klassischen Denkmalpflege von möglichst maximalem Erhalt der Originalsubstanz. Ihr Streben galt vor allem, den Charakter und das Erscheinungsbild der Anlage zu bewahren. Neu Hinzugefügtes ordnet sich der Grundidee des Gebäudes so selbstverständlich unter, dass es schwerfällt, Neues von Altem zu unterscheiden.
Hinter den einfach und wie selbstverständlich wirkenden Lösungen steckt eine akribische, sorgfältige, dem stimmigen Gesamtwerk dienende Planung im Detail. Um die notwendigen Dämmwerte für die Fassade zu erreichen, musste das Gebäude aus seinem Sommerkleid schlüpfen – hinein in den dicken Wintermantel, wie der Architekt es bildhaft beschreibt. Die original an die tragende Wand betonierte äußere Sichtbetonschicht wurde zunächst abgebrochen und eine zwanzig Zentimeter dicke Wärmedämmschicht aufgebracht. Vorgehängte Betonfertigteile in gleicher Stärke wie zuvor kopieren nun die Fugeneinteilung und die – abwechselnd horizontal oder vertikal angeordnete, rustikale Brettschalung der ehemaligen Sichtbetonhaut. Neue Metall-Holzfenster – in gleicher Farbgebung wie die originalen Holzfenster – sind so in die Dämmebene montiert, dass die plastische Wirkung der neuen Fassade wieder hergestellt wurde. Die Brüstungen mussten, den heutigen Normen entsprechend, erhöht werden, die neuen Fertigteile für Lisenen und Brise Soleil haben breitere Abmessungen als die originalen Bauteile: So mussten die Proportionen der Fassade unter den neuen Gegebenheiten fein austariert werden.
Kleine Eingriffe
Im Schulhaus Cleric werden vor allem die musischen Fächer und Bildende Kunst unterrichtet. Die Schule wirkt eher wie eine große Kreativwerkstatt, es gibt Musikzimmer für Einzel- und Gruppenunterricht, Klassen für künstlerische Gestaltung, ein Fotostudio und einen Proben-Raum für eine Band, Werkräume und sogar Küchen. Die alles verbindenden großzügigen Erschließungsbereiche sind geprägt durch die originale Substanz der Sichtbetondecken und die stark strukturierten Kunststeinplatten. Die kräftige Betonrippenstruktur rhythmisiert die Korridore, zwischen den Rippen sorgen subtil eingefügte Ausfachungen aus Heraklithplatten für einen verbesserten Schallschutz. Die vorhandenen Kugelleuchten erhielten lediglich ein neues Leuchtmittel. Großflächige Verglasungen in kräftigen Eichenholzrahmen gewähren Einblicke in die angrenzenden öffentlichen Räume. Die breiten Treppenanlagen sind geblieben. Eine zusätzlich erforderliche Trep-pe nimmt die Formensprache der originalen Substanz auf. Lediglich die Oberlichter der Klassenräume zu den Korridoren wurden eliminiert. Die kontrollierte Lüftung wird bei den angrenzenden Klassenzimmern in der ehemaligen Schrankzone geführt.
Die Oberflächen in den Klassenräumen wurden komplett erneuert. Linoleum und Metalldecken prägen die Räume für künstlerisches Gestalten. Musiksäle und Übungsräume sind mit Parkett und schallschluckenden Gipsdecken ausgestattet. Teilweise wurden zwei kleine Klassenräume zu einem großen Atelier mit Schrankflächen im hinteren Teil zusammengefasst. Anspruchsvoll und kostenintensiv war der Rückbau der Originalsubstanz, neben Asbest mussten ebenfalls Materialien wie PCB und PAC entfernt werden. Der einzige Eingriff der Architekten ist die Ausbildung eines Lichthofs im Untergeschoss des Klassentrakts. Die Räume erhielten eine Verglasung mit Blick in diesen teilweise gedeckten Hof, in dem auch gearbeitet werden kann. Er wurde vom Zürcher Büro Hager in Zusammenarbeit mit der Schule konzipiert.
Derzeit ist die sanierte Anlage noch von Provisoriumsbauten für die Mediathek und für weitere Klassenräume umgeben. In wenigen Jahren wird der Blick auf das Ensemble wieder frei sein. Ab 2014 werden in der Nachbarschaft Neubauten für eine Mensa und die Mediathek errichtet, die hoffentlich die herausragende Qualität der nun sanierten Gebäude erreichen werden. Danach wartet dann nur noch das Konvikt, ein Wohnheim für die Kantonsschüler, erbaut 1968/69 von den Architekten Otto Glaus, Ruedi Lienhard und Sep Marti, auf seine Sanierung, als letzten Baustein in der Gesamtsanierung Bündner Kantonsschule.
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