Bauwelt

Liberté des Formes – Formes de Liberté



Text: Rebiai, Hakim, Algier


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    Das Studentenhaus bildet den Kopf der Anlage.
    Andreas Rost

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    Das Studentenhaus bildet den Kopf der Anlage.

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    Große Halle der Mensa hinter einer internen Betonwand mit Rundfenstern.
    Andreas Rost

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    Große Halle der Mensa hinter einer internen Betonwand mit Rundfenstern.

    Andreas Rost

Der Campus der Universität in Algier von Oscar Niemeyer wurde 1974 in Bab-Ezzouar, 15 Kilometer östlich des Stadt­zentrums, eröffnet. Das Ensemble verkörpert die in den sechziger Jahren errungene Freiheit des Landes. In Niemeyers Œuvre spielen die Bauten kaum eine Rolle. Es gab zahlreiche Veränderungen am ursprünglichen Konzept.
Oscar Niemeyer lernt Algerien im Alter von 58 Jahren kennen. Er hatte eine sehr privilegierte Beziehung zum damaligen Präsidenten Houari Boumediene. Le Corbusier datiert seine Begegnungen mit dem Brasilianer auf das Jahr 1965. Damals ging es um dessen Masterplan für ein „Nouvel Alger“, ein neues Algier. „Ich war an jenem Plan zwar beteiligt“, erinnert er sich später, „doch nicht damit einverstanden. Ein Unfall der Geschichte, für die junge Republik Algerien ging es dabei ausschließlich um die Wirkung in der Öffentlichkeit – Makulatur.“
Niemeyer beschreibt in seinen Erinnerungen den Aufenthalt in Algerien ausführlich: „Ich bin genau zum richtigen Zeitpunkt in Algerien eingetroffen, kurze Zeit nach dem Sieg über den Kolonialismus. Große Heiterkeit und Ausgelassenheit waren allgegenwärtig, dazu eine gewisse Ernsthaftigkeit gegenüber den gewaltigen Bedürfnissen des Volkes, das von den Kolonialherren stets mit Verachtung behandelt worden war. ... Ich liebte Algier sehr, diese lichtdurchflutete, gastfreundliche Stadt, die offene Bucht, die zerklüfteten Küsten ... Und die Kasbah, ein herrliches kulturelles Erbe, mit ihren gleißend weißen, zum Schutz vor dem Wind nahezu blinden Häusern. Oft war ich dort zu Fuß unterwegs, treppauf und treppab, durch die vielen Gässchen, die zum Meer hinunter führen. Zugleich ist die Stadt ein Ort von Kampf, Leben, Geschichte. ... Nach dem Ende der kolonialen Herrschaft waren die Hoffnung groß, man musste sich aber auch mit Enttäuschungen auseinandersetzen. Präsident Boumediene kannte meine Arbeit, und er hatte ehrgeizige Pläne für sein Land. In all diesen Jahren, die ich wegen der Diktatur in meiner Heimat im Exil verbrachte, bot er mir immer wieder seine Unterstützung an. Eines Tages meinte er zu mir: ‚Ich möchte, dass du mein Berater in Architekturdingen wirst.‘ Wir besprachen alles, natürlich tauschten wir uns über die vielen Bauvorhaben aus, die damals im Entstehen waren: die Universitäten von Algier und Constantine, die Architekturschule (Seite 20) und eine Sporthalle im Olympia-Komplex ... Außerdem über den Gesamtplan für ein neues Algier. In Bezug auf die Planungen für die Universität in Algier war ich ganz anderer Meinung, auch weil mein eigener Vorschlag dazu abgewandelt worden war, und ich habe mich dann nicht mehr damit befasst.“
Der Campus
Die Universität von Algier (heute Université des Sciences et de la technologie Houari Boumediene) befindet sich auf der Mitija-Hochebene. Sie nimmt ein Areal von 105 Hektar ein. In seinen ersten Entwurfsskizzen zeichnete Niemeyer die Universität als offenen Campus, der die Funktionen Lehre, Wohnen und Freizeit in sich vereinte. Thema war die größtmögliche Freizügigkeit. Es gibt zahlreiche Analogien zu Bauten, die der Architekt bereits anderswo realisiert hatte.
Niemeyer sah bei der Planung vier voneinander getrennte Zonen vor. In Zone I platzierte er das Rektorat mit dem daran angeschlossenen zentralen Universitätssekretariat und das Audimax. Die Zone II bilden die Fakultätsgebäude Biologie, Chemie, Physik, Verwaltungswissenschaften, Elektrotechnik, sowie die Fakultät für Geografie und Flächenwirtschaft und die Fakultät für Maschinenbau und Prozesssteuerung mit einem separaten Gebäude, dem Technologie-Saal. Zu Zone III zählen die Seminarräume und Hörsäle. Die Zone IV sollte eine Sporthalle, ein Schwimmbad und Außenanlagen für Freizeitaktivitäten umfassen.
Da die vorbereitenden Maßnahmen wegen Problemen mit dem Grundwasser deutlich höhere Summen verschlangen als ursprünglich veranschlagt, konnte Niemeyer sein Projekt nicht zum geplanten Abschluss bringen. Auch 35 Jahre nach Eröffnung ist die im ursprünglichen Entwurf vorgesehene Zone IV nicht realisiert. Auf Teilen des dafür bestimmten Areals zwischen Studentenhaus und der südöstlichen Einfriedung lagert ein Bauunternehmen Abraum.
Das Audimax ist ein trapezförmiges Gebäude mit beeindruckenden Abmessungen. Der bis zu 22 Meter hohe Block stellt das bauliche Bravourstück auf dem Campus dar, errichtet in Beton ohne ergänzendes Tragwerk. Er ist von einem kleinen See umgeben. Der Architekt wollte den Bau als ein schwimmendes Schiff sehen. Diese Idee ließ sich allerdings nicht richtig verwirklichen. Der Hauptsaal bietet 1800 Plätze.
Die Universitätsbibliothek verfügt über einen Lesesaal für 1200 Studenten. Daneben gibt es einen Saal mit 72 Plätzen für die Lehrenden und die Studierenden im Abschlussjahr. Die sieben „Balken“ der Fakultätsgebäude fächern sich zur Umgebung hin auf und lassen Innen- und Außenraum ineinanderfließen. Jede Fakultät hat ein eigenständiges Gebäude. In den Erdgeschossen sind die jeweiligen Forschungseinrichtungen untergebracht, in den Obergeschossen die Arbeitszimmer der Forscher, die Fakultätsverwaltung und die jeweiligen Fachbibliotheken. Die Verbindung zwischen den einzelnen Fakultätsbauten stellt ein aufgeständertes Querelement her, das mit einer extrem schmalen Büroschiene im Obergeschoss umgesetzt wurde. Zurzeit können diese Räume wegen Bauschäden nicht genutzt werden.
Der Zusammenhalt von Fakultätsgebäuden und Verbindungsriegel wird durch eine überdachte Passage zusätzlich unterstrichen. Sie bindet die Bauten an das Studentenhaus an. Dieses Haus bildet den Kopf des Universitätsareals und bietet auf 18.000 Quadratmetern drei Mensen, eine Ausstellungshalle, Postamt, Internet-Saal, Musik-Proberäume, einen Veranstaltungssaal für Theater und Kino mit 500 Sitzplätzen und einen internen offenen Hof.
Die Universität war für 9000 bis maximal 12.000 Studenten ausgelegt. Heute sind hier mehr als 28.000 Studierende immatrikuliert, was eine große Herausforderung darstellt. Als Antwort auf den gewachsenen Raumbedarf stellte man zahlreiche Erweiterungsbauten ohne jede Anbindung an den ursprünglichen Entwurf dazu. Sie lassen jegliche Reflexion über die architektonischen Qualitäten des Kulturerbes vermissen.
Im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht von Oscar Niemeyer, einen Universitätskomplex so zu gestalten, dass er sich seinem Kontext gegenüber öffnet, hat der Campus heute mit zahlreichen Einschränkungen zu kämpfen: Eine Umfassungsmauer aus Beton schottet das Areal rundum ab und sorgt für eine distanzierte und isolierte Atmosphäre. Außerdem führt die deutlich zu weit auseinander gezogene und fragmentierte Gestaltung auf der sehr ausgedehnten Fläche zu Problemen bei der Orientierung und Anbindung. So ist die überdachte Passage, die den Fakultätskomplex mit dem Studentenhaus verbindet, mit 430 Metern übertrieben lang. Die sieben 200 Meter langen charakteristischen „Balken“ der Fakultäten kann man von außen nur schwer unterscheiden, und in ihrem Inneren machen sich vielerorts funktionale Probleme bemerkbar. Der überall verwendete Sichtbeton wirkt trist und ist darüber hinaus klimatisch eine Katastrophe: eisig kalt im Winter, im Sommer gibt es Hitzestaus. Hinzu kommt, dass inzwischen bei vielen Gebäuden die Armierungseisen bloß liegen und korrodieren.
Die Meinungen über das Großprojekt von Niemeyer, dass 1974 eingeweiht wurde, gehen weit auseinander. Viele, die ich auf dem Campus gesprochen habe, begreifen es als ein Relikt eines nicht wahr gewordenen Traums.
Die Große Moschee
„In Algier“, erinnert sich Niemeyer, „arbeitete ich einmal wie in Trance bist tief in die Nacht in meinem Hotelzimmer weiter. Das Ergebnis war eine Moschee, die über dem Meer schwebt (Modellfoto Seite 28). Als ich Boumediene die Pläne vorlegte, lautete dessen spontaner Kommentar: ,Was für eine revolutionäre Moschee‘. ,Nun ja, Herr Präsident, die Revolution muss überall sein!‘, gab ich ihm damals lachend zur Antwort. Ich liebte es, die Gesetze von Physik und Materie bis an die letzten Grenzen auszureizen und auf diese Weise das Unerwartete zu schaffen. Boumediene war vom Entwurf für die Moschee von Algier völlig überrascht. Sein unvermittelter Tod ist die einzige Erklärung, warum der Bau, ebenso wie manch anderes Projekt, aufgegeben wurde.“ Der Entwurf dieser exorbitant teuren Moschee wurde von den Militärs wegen seiner Weltlichkeit kritisiert. Sie sollte „die größte Moschee der Welt werden, nach jenen an den heiligen Orten des Islam“, kommentierten euphorisch die algerischen Medien. Deren Hang zu Superlativen für alles, was das eigene Land betrifft, ist bekannt. 45 Jahre sind mittlerweile vergangen. Die Große Moschee von Algier ist an einem anderen Standort in Bau – viel größer als die von Niemeyer erdachte.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke



Fakten
Architekten Niemeyer, Oscar, (1907-2012)
aus Bauwelt 27.2013
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