London Renaissance – Entwicklung der Themse-Metropole seit den 80ern
London 2012
Text: Goevert, Tobias, London; Polinna, Cordelia, Berlin
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Abb.: Design for London/GLA
Abb.: Design for London/GLA
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Canary Wharf
Foto: Cordelia Polinna
Canary Wharf
Foto: Cordelia Polinna
Zu bürokratisch, zu teuer, zu unbequem: 1986 schaffte Margaret Thatcher die Londoner Stadtregierung ab. London rutschte in eine tiefe Krise. Immobilienpreise explodierten, Straßen und Plätze verwahrlosten, ein Verkehrskollaps drohte. Die neoliberale Radikalkur provozierte die Rückkehr zur Planung. Seit 2000 gibt es den Prototyp einer schlanken, unbürokratisch agierenden Verwaltung. Sie setzt heute Maßstäbe im Umgang mit dem öffentlichen Raum und testet Konzepte für die Stadterneuerung in Zeiten der Sparpolitik.
Eine Anekdote erzählt, warum London nach dem großen Stadtbrand von 1666 nicht nach den barocken Plänen wieder aufgebaut wurde, die Christopher Wren vorlegte: Der Aufbau mit herrschaftlichen Achsen und großen Gesten hätte viel zu lange gedauert und zu hohe Kosten verursacht. Die Grundstücksbesitzer brauchten schnell wieder eine Existenzgrundlage und haben die Stadt deshalb wieder auf dem mittelalterlichen Grundriss aus der Asche auferstehen lassen.
Auch heute spielen die Kräfte des Marktes und damit die häufig privat co-finanzierte Infrastruktur eine wichtigere Rolle für die Londoner Stadtentwicklung als in vielen anderen europäischen Städten. Zugleich gab es nirgendwo in Europa in den letzten Jahrzehnten derart wechselnde politische Voraussetzungen für Planung. Diese außergewöhnliche, von Unsicherheit und radikalen Umwälzungen gekennzeichnete Situation hat mit dazu beigetragen, dass sich in London in den ersten 12 Jahren des 21. Jahrhunderts eine völlig neue Herangehensweise an Stadtplanung entwickelt, die – wenn auch in vielen Aspekten nicht als ideal – dennoch als wegweisend für viele europäische Städte bezeichnet werden kann.
Seit Mitte der 80er Jahre wächst London beachtlich. Derzeit leben ca. 7,8 Millionen Menschen in der Stadt, Prognosen rechnen bis 2030 mit einem Wachstum um 1,2 Millionen und mit zusätzlichen 776.000 Arbeitsplätzen. Wirtschaftlich bietet das große Chancen, für viele Bewohner ist die daraus resultierende Wohnungskrise aber ein großes Problem. Familien finden innenstadtnah keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, Privathaushalte verschulden sich auf beängstigend hohe Weise mit Immobilienkrediten und die Bezirke können Bedürftigen kaum noch Mietzuschüsse zahlen. Die Stadt ist gezwungen, in der räumlichen Planung neue Wege einzuschlagen.
Die Krise der Neunziger
Die Weichen für eine neue Herangehensweise an den Städtebau wurden in der Ära Thatcher gestellt. 1986 hatte die Premierministerin die Londoner Stadtregierung kurzerhand abgeschafft. Sie erschien ihr zu bürokratisch, zu teuer, zu links und zu unbequem. Fortan lagen die planerischen Geschicke der Millionenmetropole in den Händen der finanziell mau ausgestatteten 32 Bezirke sowie einiger demokratisch nicht legitimierter Institutionen wie z.B. dem London Planning Advisory Committee. Die Folgen dieser Politik ließen nicht lange auf sich warten. Zu Beginn der 90er rutschte London in eine tiefe Krise, deren Folgen bis heute spürbar sind. Rasant steigende Kosten für Wohn- und Büroimmobilien, ein überlastetes Nahverkehrssystem sowie zunehmende Angst vor Kriminalität erschwerten das tägliche Leben. Das gerade fertiggestellte Büro- und Finanzzentrum Canary Wharf startete als bankrotte Geisterstadt. Zahllose Industriebrachen in der ganzen Stadt warteten auf neue Ideen. Die öffentlichen Räume befanden sich in einem bedauernswerten Zustand. Straßencafés und fußgängerfreundliche Wege waren nahezu unbekannt, Radfahrer eine selten vorkommende Spezies. Die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit Londons drohte auf der Strecke zu bleiben. „Wir hinken 20 Jahre hinter Städten wie Amsterdam und Barcelona hinterher“, stellte Richard Rogers noch 1999 fest.
Endlich wieder Planung
Als Reaktion auf diese Krise forderten Architekten, Wissenschaftler, aber auch Vertreter aus der Wirtschaft ein radikales Umdenken und die Wiedereinsetzung einer demokratisch legitimierten Stadtregierung, die eine strategische Planung für den Großraum London erstellen und die Stadt vor dem Kollaps bewahren sollte. 1997 machte New Labour die Situation der Hauptstadt zu ihrem zentralen Wahlkampfthema. Nach einem eindeutigen Wahlsieg konnten Tony Blair und New Labour die neue Regierung bilden. Seitdem versuchen die Stadtplaner, den Städtebau entsprechend der wachsenden Bedeutung des Marktes und der Standortkonkurrenz zu steuern.
Die planungsfeindliche Politik der Regierung Thatcher hatte ein „Zurück-zur-Planung“ provoziert. Im Jahr 2000 – parallel zum mit spektakulären Bauprojekten gefeierten Millennium – wurde die Greater London Authority (GLA) neu gegründet und ein Bürgermeister gewählt. Der direkt gewählte Londoner Bürgermeister – von 2000 bis 2008 regierte der Labour-Politiker „Red Ken“ Livingstone, seit 2008 der Tory Boris Johnson – ist mittlerweile eine der mächtigsten politischen Figuren im Land. Umgesetzt wird seine Politik von der Greater London Authority, dem Prototyp einer schlanken, unbürokratisch agierenden und strategisch ausgerichteten Verwaltung, die nur aufgrund der Radikalkur von Abschaffen und Neuerfinden entstehen konnte. Viele Entscheidungen, etwa die Genehmigung von großen Bauprojekten, sind das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und Kompromissen. Die Macht des Bürgermeisters gegenüber den Bezirken und dem Staat ist zwar gesetzlich eingeschränkt, wächst aber stetig durch seine starke Medienpräsenz und durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen, z.B. die Vergabe von Fördermitteln.
Im Jahr 2001 berief Livingstone Richard Rogers zum „Chief City Architect“ und forderte, London zu einer Modellstadt der „Urban Renaissance“ zu machen. Um diese Forderung mit Modellprojekten an strategisch wichtigen Orten umzusetzen, gründete Rogers die Architecture and Urbanism Unit, die parallel zu den anderen Planungsabteilungen der GLA arbeitet. Unter dem heutigen Namen Design for London fordert sie hohe Qualitätsstandards in der architektonischen und städtebaulichen Gestaltung ein und versucht diese in Planungsprozessen, Projekten und Leitlinien zu verankern. So berät die Abteilung z.B. lokale Planungsämter und Projektentwickler, die städtische Liegenschaften betreuen, in Gestaltungsfragen bei Städtebauprojekten und bei der Bau- und Freiraumplanung. Zudem greift sie in einer möglichst frühen Phase in Planungsprozesse ein – bei Projekten im öffentlichen Raum genauso wie bei der Entwicklung stadtweiter Strategien wie zum Beispiel den Qualitätsrichtlinien für öffentlich geförderten Wohnungsbau. Design for London hat eine besondere Position innerhalb der Verwaltung. Sie kann keine rechtlich bindenden Entscheidungen treffen und muss sich die Zustimmung städtischer Akteure zu ihren Vorschlägen bei jedem Projekt aufs Neue erarbeiten.
Nach vierzehn Jahren ohne Stadtregierung musste sich die GLA erst Gehör verschaffen und Handlungsspielraum gewinnen. Ken Livingstone wagte Radikales. Er führte die Innenstadtmaut „congestion charge“ ein, setzte durch, dass bei großen Wohnungsbauprojekten ein Anteil von 50 Prozent subventionierter Wohnungen angestrebt wird, und er warf die Frage auf, ob der Blick auf StPaul’s Cathedral denn wirklich auf keiner Seite verstellt werden dürfe. Mit diesen zunächst unverschämt anmuteten Forderungen verband der Londoner Bürgermeister erfolgreich seine selbstbewusste Vision vom ökonomisch wachsenden, nachhaltigen und sozialen London. Die staatliche Instanz GLA wird seitdem als starker Verhandlungspartner wahrgenommen.
Wohin mit dem Wachstum?
Wie London auf das für europäische Verhältnisse immense Bevölkerungswachstum reagiert, bleibt das zentrale Thema der Stadtplaner. Schon bevor Livingstone gewählt wurde, hatten Privatinvestoren aufgrund des anziehenden Immobilienmarktes mehrere „Ladenhüter“ aus den Schubladen gezogen: die Entwicklung von Industrie- und Verkehrsbrachen im Umfeld der Bahnhöfe King’s Cross, Liverpool Street, London Bridge, Victoria und Paddington. Inspiriert von Rogers’ Vision einer kompakten Stadt, erklärte Livingstone die Nachverdichtung durch Wohn- und Gewerbeprojekte an Verkehrsknotenpunkten zu einem wichtigen Pfeiler seiner Entwicklungsstrategie, dem so genannten London Plan. Das Schienennetz „London Overground“ der nationalen Eisenbahn wurde ins Londoner Tarifgebiet aufgenommen und erweitert, um außerhalb des Zentrums gelegene Stadtteile mit Entwicklungspotenzial, wie Dalston oder Hoxton, besser anzubinden. Das Netz der Docklands Light Railway wurde ebenfalls verlängert und eröffnet Hafenbrachen wie den Royal Docks im bisher schlecht erreichbaren Osten Londons eine Perspektive. Dabei ging es vor allem darum, das dynamische Wachstum der Stadt – die ja eher für ihre lockere Reihenhausbausweise bekannt ist – innerhalb der Stadtgrenzen zu unterstützen und somit der Verlockung zu widerstehen, den Londoner Grüngürtel oder innere Grünflächen zu bebauen. Dies sollte über Masterpläne gesteuert werden, die auf Flexibilität und zügige Umsetzung ausgerichtet waren – auch wenn die Realisierung nicht immer so schnell wie beim Masterplan für den heutigen Olympischen Park gelang.
Seit ihrem nationalen Wahlerfolg 2010 setzen die Tories ihre Priorität auf die Verknüpfung von Stadtentwicklung und wirtschaftlicher Dynamik. Weil im Zuge der Haushaltskonsolidierung viele Förderprogramme gekürzt oder gestrichen wurden, konzentrieren sich öffentlich finanzierte StädtebauMaßnahmen jetzt auf jene Bereiche, in denen neue Büro- und Gewerbebauten sowie Wohnhäuser vorrangig zu erwarten sind – an den High Streets, den Hauptgeschäftsstraßen, die die Londoner Stadtteile untereinander und mit der Innenstadt verbinden.
Öffentliche Räume gestalten
Einen Quantensprung erlebte London in der vergangenen Dekade bei der Neuerfindung öffentlicher Räume. Richard Rogers waren die Dominanz des Autos und die inakzeptable Situation für Fußgänger – die eingezäunten Bürgersteige oder die komplizierten Zickzack-Straßenüberquerungen – schon lange ein Dorn im Auge. Als Londoner Stadt-Architekt konnte er dieses Thema nun ganz vorne auf die Agenda des Bürgermeisters setzen. Zunächst wurden die touristisch bedeutsamen „Wohnzimmer der Stadt“ neu gestaltet, allen voran der Trafalgar Square. Vor allem aber gelang die Neuinterpretation der Themse als zentrale Lebensader Londons mit dem durchgängigen Fußweg am Südufer, dem Riesenrad und neuen Fußgängerbrücken wie der Millennium Bridge.
Schließlich sollte die Aufwertung von öffentlichen Räumen eine positive Entwicklung in den Quartieren anstoßen. Hierbei konnte Design for London mehrere Vorzeigeprojekte anschieben und ein weiteres wichtiges Programm des Bürgermeisters Boris Johnson ins Leben rufen: „London’s Great Outdoors“. Im Zentrum von Barking Town entstand ein Stadtplatz mit Bibliothek der dazu beiträgt, dass das Gebiet den Wandel vom kleinteiligen, zweigeschossigen Arbeiterquartier zum verdichteten Stadtteilzentrum mit mehr als 500 neuen Wohnungen und Gewerbeflächen verträgt und dass auch die Alteingesessenen eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität spüren.
Bei der Neugestaltung von Straßen und Plätzen, beispielsweise in Woolwich, gewinnt eine integrierte Sichtweise der Themen Verkehr und öffentliche Räume an Bedeutung. Tiefbaumaßnahmen etwa werden so erweitert, dass gut gestaltete Straßen entstehen. Mit Projekten wie dem umgestalteten Oxford Circus oder der Exhibition Road in Kensington (
Bauwelt 6.12) wurde eindrucksvoll belegt, dass fußgängerfreundliche Plätze und Shared-Space-Konzepte auch in innerstädtischen, vom Autoverkehr dominierten Gebieten möglich sind.
In Zusammenarbeit mit lokalen und regionalen Partnern entstand ein neues planerisches Instrument, das East London Green Grid. Es benennt alle Grün- und Resträume im Osten der Stadt, zeigt deren Veränderungsbedarf auf und bringt die Akteure an einen Tisch. So sollen etwa die Erholungsgebiete in diesem räumlich fragmentierten Teil der Stadt besser zugängig werden. Ein wichtiger Meilenstein bei der Umsetzung des Green Grid sind die Rainham Marshes. Dieses Gebiet, zuvor Müllkippe und Militärsperrgebiet, wurde renaturiert und hat sich inzwischen zu einer Attraktion für Vogelbeobachter entwickelt. Angrenzende Quartiere und der Bahnhof Rainham wurden durch eine Fußgängerbrücke besser an das neue Erholungsgebiet angebunden (
Bauwelt 43.10).
Doch nicht alle Projekte für die öffentlichen Räume konnten bisher umgesetzt werden. Der fußgängerfreundliche Umbau des Parliament Square sowie der Schnellstraße Victoria Embankment, die eine kaum überwindbare Barriere zwischen City of Westminster und Themse darstellt, fielen den massiven Sparmaßnahmen der Regierung zum Opfer und wurden 2008 auf Eis gelegt.
Was kommt nach den Spielen?
Nach den Olympischen Spielen werden die Londoner 18 Monate warten müssen, ehe sie den Olympiapark in Besitz nehmen können. In dieser Umbauphase soll er mit den umliegenden Gebieten verknüpft werden. Erst dann wird sich zeigen, ob das so genannte Legacy-Konzept, der Plan vom nachhaltigen Erbe der Spiele, aufgeht. Ebenso werden der Bau der Hochleistungsregionalbahn Crossrail und die Konversion aufgelassener stadtnaher Hafengebiete wie der Royal Docks die Städtebaudebatte bestimmen.
Private Investitionen machen den Hauptteil des Bauvolumens in London aus und werden das Stadtbild in den kommenden Jahren sichtbar verändern. Unübersehbar ist dies schon jetzt am Bahnhof London Bridge, wo im Schatten des Hochhauses „The Shard“ von Renzo Piano ein neues Quartier entsteht. Allerdings werden Großprojekte wie King’s Cross, Chelsea Barracks, WhiteCity oder die Battersea Powerstation mittlerweile häufig als Erbe einer vergangenen Ära bezeichnet, in der Spekulation, einfache Kreditvergabe und Renditemaximierung zu den Antriebsfedern der Stadtentwicklung zählten. Vordenker wie Tony Travers von der London School of Economics sehen die Zukunft Londons in kleinen, von lokalen Initiativen angestoßenen und auf lokalen Ökonomien beruhenden Projekten, die denen ähneln, die bereits jetzt durch den Outer London Fund oder im Olympic Fringe umgesetzt werden; kleine oder auch temporäre Eingriffe, die Nutzungen testen, bevor große Summen in langfristige Lösungen fließen, Erneuerungsstrategien, die die Produktion vor Ort fördern und Potenziale aufgreifen und so eine nachhaltige Entwicklung von Quartieren anstoßen. In Zukunft wird es immer stärker darauf ankommen, innovative Aushandlungs- und Steuerungsprozesse zu entwickeln, um Projekte umzusetzen, die langfristig tragfähig sind, in physisch-gestalterischer, aber auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht. Design for London testet bereits neue Wege, wie dies mit stark eingeschränkten finanziellen Mitteln, dafür aber mit umso mehr Erfindungsreichtum gelingen kann.
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