Lüchow
Architekt vor Ort
Text: Moser, Thomas, Wien
Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich hier eine Art Lebensreform-Modell etabliert. Die neu gegründete Landschule war ideeller Kristallisationspunkt der Gemeinschaft, aber auch Impulsgeber für erstaunliche Expansionspläne.
Lüchow ist der kleinste Ortsteil der mecklenburgischen Gemeinde Altkalen. Einen ersten Aufschwung nahm der Ort um 1900, als fast alle Gutsanlagen neu gebaut oder aufgewertet wurden. Es bildete sich eine räumliche Grundstruktur, die auch heute noch abzulesen ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg verlor das Dorf an Einwohnern, 1989 gab es noch drei Haushalte mit Rentnern, die leerstehenden Gebäude verfielen. Seit 2003 erfährt das strukturschwache Dorf eine nachhaltige Wiederbelebung. Heute leben wieder fünfzig Menschen im Dorf, mehr als die Hälfte sind Kinder, und es gibt keine leerstehenden Häuser.
Die glückliche Wendung des Dorfs ist in erster Linie auf das Engagement des Architekten Johannes Liess und seiner Frau zurückzuführen. Während seines Studiums in Berlin begann er 1998, ein verfallenes Bauernhaus in Lüchow zu renovieren, um dort die Wochenenden und Ferien zu verbringen. Vor etwa zehn Jahren entschied sich Liess, seine feste Anstellung in einem international tätigen Ingenieurbüro aufzugeben, mit seiner Familie nach Lüchow zu ziehen und dort den Schritt in die berufliche Selbständigkeit zu wagen.
Sein Ziel war ein Dorf, das sich selbst versorgen kann, den Anforderungen aller Generationen gerecht wird, in dem es genug Arbeit gibt und wo das Leben im Einklang mit der Natur verläuft. Diesem Konzept schlossen sich immer mehr Mitstreiter an. Die Vorstellung von Lüchow als Dorf mit Zukunft ist eng mit der 2006 eröffneten Landschule verknüpft. In den Diskussionen um das Schulkonzept begann sich die neue Gemeinschaft zu verfestigen. Bis zur Fertigstellung des Schulgebäudes im Jahr 2009 fanden die ersten Schüler und ihre Lehrerin in verschiedenen Provisorien Platz. Der wachsende Schulbetrieb, bedingt durch den Zuzug junger Familien oder durch jene, die ihre Kinder hierher zur Schule schicken wollten, konfrontierte die Gemeinschaft mit der Frage, ob Räume bestehender Gebäude genutzt werden könnten oder ob neu gebaut werden sollte. Denn ausgerechnet das Projekt, mit dem Leute nach Lüchow „gelockt“ werden sollten – die Schule – war quasi unsichtbar. Mit dem durch EU-Mittel geförderten Neubau sollte ein selbstbewusstes Zeichen gesetzt und die Zukunftsentwicklung öffentlich wahrnehmbar werden.
Für die weiteren Ausbaumaßnahmen des Dorfes musste die Frage geklärt werden, mit wie vielen Bewohnern künftig zu rechnen wäre. Man orientierte sich an der Situation nach dem Krieg, als ca. 150 Bewohner durch Bewirtschaftung des 350 Hektar großen Guts versorgt wurden. Alle Maßnahmen werden nun auf 100 Bewohner hin dimensioniert, eine Größenordnung, in der die Gemeinschaft ihre persönlichen Beziehungen noch glaubt pflegen zu können.
Seit 2003 wird die Infrastruktur kontinuierlich ergänzt und dabei auf den historischen dorfräumlichen Charakter Bezug genommen. Bislang umfassen die baulichen Maßnahmen das Dorfhaus, als Treffpunkt für die Gemeinschaft, sowie die Werkstatt und die neue Schule als Herzstück. Sie bilden ein Ensemble, das einen Dorfplatz entstehen lässt. Bestehende Wohnhäuser werden nach und nach saniert. Johannes Liess hat für seine Familie neu gebaut.
Nächster Baustein ist ein Gebäude, das von Feriengästen genutzt werden kann. Im Anschluss daran soll ein Projekt in Angriff genommen werden, das Wohnen und Arbeiten für alle Generationen verbindet: acht Häuser für rund zwanzig Bewohner: Kinder, Erwachsene und Senioren. Die Mehrgenerationen-Wohnanlage soll in der ersten Ausbauphase vier energieautarke Doppelhäuser und jeweils ein bis zwei Wohnungen umfassen. Eine neue Gärtnerei, die an die Wohnanlage anschließt, soll sowohl diese als auch die Schule und den Hort mit eigenen Produkten versorgen. Allen Generationen soll es dadurch ermöglicht werden, bis ins Alter einen sinnvollen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. In der Verwaltung, für die Betreuung der Senioren und in der Gärtnerei entstanden fünf neue Arbeitsplätze.
2011 entzog das Land Mecklenburg-Vorpommern der Dorfschule aus „pädagogischen und konzeptionellen Gründen“ die Genehmigung; die Dorfgemeinschaft kämpft seither um die Wiederaufnahme des Schulbetriebs. Doch auch zu Zeiten, in denen die Schule geschlossen ist, scheint die Bevölkerungsentwicklung im Ort stabil. Mit Projekten wie dem Generationen-Wohnen und dem Ferienwohnhaus würde das Dorf mit einer durchgängigen sozialen und baulichen Infrastruktur ausgestattet und zusätzlich attraktiv. Das Umland profitiert, da die Dorfbewohner ihre Lebensmittel aus der Region über eine Einkaufsgemeinschaft beziehen und Aufträge an lokale Handwerker vergeben. Die Energieversorgung von Lüchow ist regenerativ und CO2-neutral ausgelegt. Der Verbrauch soll durch Erdwärme, Solarenergie und Windkraft abgedeckt werden.
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