Mainz - Das moderne Monument
1968-72
Text: Maier-Solgk, Frank, Düsseldorf
Das blockhafte Rathaus am Rhein von Arne Jacobsen/Dissing + Weitling ist nach jahrelanger Debatte wohl nicht mehr akut vom Abriss bedroht. Dennoch ist seine Zukunft unklar. Eine Sanierung ist nicht allein kostenintensiv, sie ist auch schwierig: Der die Fassaden prägende Stein etwa ist heute nicht mehr zu bekommen.
Wen hatte man sich da in die gute Stube geholt? Fast auf den Tag genau vierzig Jahre steht das Mainzer Rathaus nun als mächtiger, hellgrau schillernder, vom Rhein aus betrachtet fast festungsartig wirkender Block direkt am Fluss, vor dem ehrwürdigen Dom im Hintergrund. Bis heute scheint dieser markante Monolith des großen Architekten und Designers Arne Jacobsen (1902–1971) in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt nicht recht angekommen zu sein.
Nach langen Diskussionen über den geeignetsten Standort hatte die Stadt 1968 einen internationalen Wettbewerb für das Rathaus und ein benachbartes Geschäftszentrum ausgeschrieben und sich einstimmig für den Entwurf des Dänen entschieden (nach Jacobsens Tod wurde der Bau – ohne Geschäftszentrum – bis 1973 von Dissing + Weitling vollendet). Seit 2006 steht das Gebäude unter Denkmalschutz – allerdings wurde es nur zögerlich in die Liste aufgenommen. Die seit je in Mainz kursierenden Karikaturen – „Fuchsbau“, mit Bezug auf den Bürgermeister Fuchs, der den Neubau seinerzeit initiiert hatte, mehr noch aber wegen des kleinen Eingangs, und „Beamtengefängnis“ wegen der den Fenstern vorgehängten Sonnenschutzgitter –, sie sind im Bewusstsein der Mainzer gegenwärtiger als alle Ideen von Bürgerstolz und kommunaler Repräsentation, die sich in diesem Bau manifestieren. Zwar will (außer der örtlichen ÖDP), wie Landeskonservator Michael Glatz sagt, niemand mehr einen Abriss, die anstehende Sanierung aber wird teuer, so dass die Diskussionen darüber nicht selten in Überlegungen über Sinn und Zweck eines Denkmalschutzes für Gebäude jener Jahre generell münden. Erst nachdem der seit gut einem Jahr im Amt befindliche Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) sich für den Erhalt des Rathauses als Kulturdenkmal ausgesprochen hat, geht man die Aufgabe mit mehr Überzeugung an.
Der Norden im Süden
Jacobsens Bau war der erste Rathausneubau in der Stadt am Rhein seit rund 500 Jahren. Er erfolgte im Rahmen des nach dem Krieg in Mainz erst spät begonnenen Wiederaufbaus. Schon die „Geburt“ war schwierig, die Standortfrage beherrsch- te die Debatte. Lange Zeit favorisierte man das Schloss als neue Unterkunft der Verwaltung. Nachdem schließlich jene zuvor als Parkplatz genutze Freifläche am Rhein gewählt worden war, folgte die Fassadenfrage – Granit oder Sandstein –, die manchmal ideologische Züge annahm. Als der Bau fertig war, riss die Kritik nicht ab. Zitiert sei ob ihrer Prägnanz die folgende Äußerung eines damaligen Stadtrats: Mit dem Bau „wird ein fremder Keil in das Stadtbild geschlagen, der dadurch entsteht, dass der Preisträger eine zu eigenwillige Architekturpersönlichkeit ist, die sich wegen der zu starken architektonischen Begabung nicht in das Gesamtgefüge einer in Jahrhunderten gewachsenen Stadt einordnen lassen will“.
In der Tat: Der Ort, das weite, mit einer Tiefgarage untertunnelte Plateau oberhalb der Rheinpromenade, das mit einer Fußgängerbrücke in die kleinteilige Struktur der Altstadt hineinführt, könnte profilierter kaum sein. Außerdem ist nicht zu leugnen: Die einheitliche, hellgrau schattierte, vorgehängte Natursteinfassade (Jacobsen hatte eine solche schon bei seinem Bau der Nationalbank in Kopenhagen verwendet) strahlt eine ungewöhnliche Gravität aus, gewissermaßen eine nordische Strenge, die den Kontrast zum süddeutschen Couleur der Stadt mit ihren heiteren barocken Palaisbauten, deren rötliche Sandsteinfassaden wieder rekonstruiert wurden, nicht deutlicher hätte unterstreichen können. Hinzu kommt die ungewöhnliche Form des aufgebrochenen Dreikants, dessen Eingangsfassade ganze 80 Meter misst und sich in sieben spitzwinkligen Ausbuchtungen auffaltet, wobei die dunklen Sonnenschutzgitter aus eloxiertem Aluminium, die den Fensterflächen vorgehängt sind, die hermetische Wirkung des Baus noch betonen. Andererseits dürfte die Hauptfassade eine der originellsten Gliederungen einer großen Fläche darstellen, die der Nachkriegsmoderne in Deutschland gelungen ist; sie zeigt ein Maß an Originalität, das man bei vielen heutigen Verwaltungs- und Gerichtsgebäuden schmerzlich vermisst. Doch wie man dieses Ausrufezeichen einer selbstbewussten architektonischen Formgebung auch bewerten mag – zwischen dem sanft dahinziehenden Rhein und dem ehrwürdigen romanischen Dom im Hintergrund musste es wohl auf Reserviertheit stoßen. Die Architektur ist erklärungsbedürftig, zumal in einer Stadt, in der an erwähnenswerten Bauten der Nachkriegsmoderne oder der jüngeren Vergangenheit, mit Ausnahme der neuen Synagoge (Bauwelt 37.2010), kaum etwas entstanden ist.
Sanierungsnöte
Nun aber steht die Stadt, deren Schulden auf eine Milliarde Euro gestiegen sind, vor der erforderlichen Erneuerung des Rathauses, die alte Diskussionen wieder aufleben lässt. Eine vor kurzem bei Dissing + Weitling in Auftrag gegebene, intern gehaltene Machbarkeitsstudie rechnet für die Sanierung eine Summe von 40 bis 50 Millionen Euro aus, deutlich mehr, als der Bau seinerzeit gekostet hatte (40 Millionen DM). Sanierungsbedürftig ist die Natursteinfassade aus Porsgrunner Granit. Viele Platten sitzen nicht mehr fest, andere brechen bereits auf, was auf ihre geringe Dicke von nur 3 Zentimetern zurückzuführen ist. Auch die Gitter vor den Fenstern sind vielfach locker und müssen neu befestigt werden; ebenso bedarf das Flachdach einer Sanierung, und natürlich steht eine energetische wie auch eine technische Erneuerung auf der To-do-Liste. Die Kosten, die durch die veraltete Klimaanlage verursacht werden, werden auf 600.000 Euro jährlich geschätzt. Verschärft wird das Fassadenproblem noch dadurch, dass der Steinbruch in Norwegen nicht mehr arbeitet, der identische Stein also kaum mehr zu beschaffen sein wird. Das Institut für Steinkonservierung (mit Sitz ausgerechnet in Mainz) ist auf der Suche nach Ersatzmaterial.
Gesamtkunstwerk
Ausdrücklich hinzuweisen ist auf das Innere, das in seinen Sitzungssälen stärker noch als das Äußere den Denkmalrang seinerzeit begründet hat und das, zumindest was den Ratssaal angeht, auch in der Bevökerung Akzeptanz erfährt. Entsprechend seiner Auffassung von Architektur hatte Jacobsen auch in Mainz vom Möbeldesign bis hin zur handwerklich perfekten Raumausgestaltung das Haus als ein Gesamtkunstwerk verstanden, mit dem Ratssaal als gestalterischem Höhepunkt. Dieser Saal, ein an einer Ecke leicht eingeschnittenes, annähernd quadratisches Rechteck, ist, von innen kaum wahrnehmbar, wie eine Art Baptisterium vom übrigen Baukörper abgetrennt und ganz in hellem Buchenholz getäfelt. Licht fällt vor allem durch einen schmalen runden Lichtspalt in der Mitte der Decke. Der Teppichboden in der Mitte zeigt die alte Landkarte von Mainz mit den nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen rechtsrheinischen Stadtteilen. Schön im Kontrast zum wamen Holz ist auch die breite, weit in den Raum hineinragende weiße Galerie. Das Schaustück aber ist die von Jacobsen entworfene einheitliche Bestuhlung mit lederbepolsterten Sitzen, deren Bequemlichkeit spätestens dann erfahrbar wird, sobald man sich setzt. Stühle, gepolstert oder einfach aus Holz, findet man allerorten im Gebäude: als runde Sitzgruppe in der Mitte des großen Ausstellungssaals im Erdgeschoss oder an Erweiterungen der langen Gänge, die den sechsgeschossigen Verwaltungsbau durchziehen. Auch sie sind zum Teil überholungsbedürftig. Sehenswert sind schließlich auch die holzvertäfelten Sitzungssäle im Erdgeschoss mit ihren ebenfalls aus Buche gefertigten Zargen und Laibungen, die den harmonischen Gesamteindruck verstärken. Mit einer niedrigen Deckenhöhe und den vielen, in die Decke eingelassenen kleinen Rundlampen beschwören manche Passagen die Kajütenatmosphäre einer etwas in die Jahre gekommenen Segelyacht herauf.
Renaissance des Gebäudetypus?
Das Konzept eines Gesamtkunstwerks gehört fraglos zu den Qualitäten des Mainzer Rathauses. Auch diese Besonderheit lässt sich mit den erwähnten städtebaulichen und formalen Eigenschaften als Bestandteil einer Idee interpretieren – der Idee einer schon damals zur Ausnahme gewordenen Renaissance des Bautypus Rathaus. Hält man sich vor Augen, dass bei zahlreichen bundesdeutschen Rathäusern der Nachkriegszeit die Hochhausdominante vorherrschte und diese sich von Kaiserslautern (1968) und Offenbach (1970) über Erlangen (1971) und Frankfurt (1972) bis Bonn (1977), Ludwigshafen (1979) und schließlich Essen (1979) entweder in Form von Sichtbetonburgen oder als gläserne, spiegelnde Monumente reiner Sachlichkeit manifestierte, die sich im Laufe der Jahre immer weniger von einem Verwaltungsbau der Privatwirtschaft unterschieden, so wird deutlich, dass hier in Mainz eine ganz ungewöhnlich entschiedene und mutige künstlerische Interpretation des Gebäudetypus realisiert wurde, wie man sie ähnlich nur in wenigen Städten, zum Beispiel in Castrop-Rauxel, ebenfalls von Jacobsen, antrifft.
Zwar wird man dem Mainzer Bau mit Ausnahme des runden Ratssaales kaum attestieren wollen, er verkörpere die Idee demokratischer Transparenz. Die Kritiker haben damals, sofern sie zustimmend eingestellt waren, denn auch von der Verkörperung von der „gebündelte(n) Kraft der Kommune“ gesprochen. Jedoch ist die Analogie zwischen dem konsequenten Gestaltungswillen dieses Gesamtkunstwerks, das auf der Rheinseite mit den Treppenaufgängen beiderseits des Ratssaals auch skulpturale Qualitäten gewinnt, und der Gestaltung einer Kommune durch eine Stadtverwaltung sicherlich gewollt. Hinzu kommt in diesem Fall besonders explizit die städtebauliche Situation. Architektur und Vorplatz verbinden sich durch die an den Bau angepasste Möblierung – von den ungewöhnlich hohen Lichtmasten über Brunnen und Treillagen bis hin zu der nach dem Krieg erneuerten Rheingoldhalle (sie erhielt 2007 von Dissing + Weitling einen gläsernen Kubus als Anbau) ergibt sich ein aufeinander abgestimmtes Ensemble als neuer Mittelpunkt der Stadt. Hier lebt die Idee eines öffentlichen Platzes als Versammlungsort, wiederum also eine tradierte Idee kommunaler Organisationsform. Indem man den Bau von Jacobsen mithin als Verkörperung kommunaler Repräsentation und als Gestaltungsorgan ernst nimmt, plädiert man für die Beibehaltung einer herausgehobenen Rolle des Rathauses, die im Hinblick auf seine rein sachlichen Verwaltungsfunktionen als eigenständige Bauaufgabe sonst vielleicht kaum zu rechtfertigen wäre. Jacobsen zeigte sich hier als konservativer Modernist, der sich nicht scheut, dieser selbstbewussten Verkörperung kommunaler Gestaltungskraft noch eine leicht sakrale Note hinzuzufügen. Aus all diesen Gründen wird man das Mainzer Rathaus kaum genügend würdigen können.
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