MuCEM und Villa Méditerranée
Schwarz und weiß
Text: Maier-Solgk, Frank, Berlin
Die zwei markantesten Neubauten der Kulturhauptstadt 2013 stehen am ehemaligen Pier J4 von Marseille: das MuCEM von Rudy Ricciotti und die Villa Méditerranée von Stefano Boeri. Beide Ausstellungsgebäude nehmen, so wie es gefordert war, die Höhe der Festung Saint-Jean auf, die das Entree zum Alten Hafen bildet.
Weiß neben schwarz – l’Europe à côté de l’Afrique. Die beiden wichtigsten neuen Gebäude der Kulturkapitale 2013, Marseille, die hintereinander im ehemaligen Handelshafen liegen, evozieren ganz unmittelbar Assoziationen solcher Art. Zum Einen der große quadratische Block des MuCEM (Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée), das dem Betrachter durch ein dunkles Beton-Gitternetz wie hinter einem Schleier verborgen ist; zum Anderen die etwas aufgeregt wirkende, teils transparente, teils mit hellen Betonplatten eingekleidete „Villa Mediterranée“, die sich mit einem mächtig vorkragenden Obergeschoss waghalsig in Richtung Meer streckt. Beide Gebäude besitzen die gleiche Traufhöhe, beide Rückseiten bilden eine Linie, und beide, der Bau von Rudy Ricciotti, einem der Stars der französischen Architektenszene aus der nahe gelegenen Ortschaft Bandol, und der vom Mailänder Architekten und umstrittenen Kultur-Politiker Stefano Boeri, sind von Wasserbecken umgeben, die man auf der ausgedehnten Fläche des ehemaligen Freihafens mit großem Aufwand ausgehoben hat; mehr Kontakt zum Wasser, zum Meer, ist kaum möglich.
Beide Bauten liegen an einer neuralgischen Stelle der Stadt, auf einer der Altstadt Le Panier vorgelagerten Landspitze zwischen dem Vieux Port und dem Industriehafen, in unmittel-barer Nachbarschaft der mächtigen historischen Festung Saint-Jean. Die Gemeinsamkeiten beider Bauten erklären sich aus den Auflagen der Stadt und des Denkmalschutzes. Diese schrieben sowohl die Ausmaße der beiden Parzellen als auch die Höhe der Gebäude vor. Weder die Sicht auf die Festung noch auf die städtische Silhouette mit den Kuppeln der neobyzantinischen Kathedrale Sainte-Marie-Majeure durfte eingeschränkt werden. Dennoch könnten die beide Gebäude, die in separaten Wettbewerben 2002 und 2004 entschieden wurden, in ihrem funktionalen Konzept wie in ihrem Gestus unterschiedlicher kaum sein. Eine aufeinander abgestimmte Planung gab es nicht. Beide sind Solitäre, die auf ihre Weise das Thema der Kulturhauptstadt, das Mittelmeer und die Bindungen zu den Anrainern, feiern sollen.
Die Festung Saint-Jean wird zurzeit, mitsamt ihren Kasematten, den Wehrgänge und dem offenen Festungshof, zu ei-nem inszenierten Parcours umgebaut. Die Freiraumplanung „Jardin des migrations“ stammt von ASP, Valencia. Die Aussellungen in den beiden Neubauten werden Anfang Juni eröffnet – eine eher multivisuelle in der Villa Mediterranée, und eine traditionell objektbezogene, mit Exponaten des ehemaligen Pariser Musée des Arts et Traditions Populaires (MNATP) und des Musée Quai Branly im MuCEM. Von der Architektur kann man sich jedoch schon ein Bild machen, die Außenarbeiten sind abgeschlossen, und auch die städtebauliche Umgebung hat inzwischen klarere Konturen bekommen.
MuCEM
Rudy Ricciottis MuCEM ist in seiner Grundform sehr einfach: Ein quadratischer Block von 72 Meter Länge, 19 Meter hoch, Im Verhältnis zur Festung besitzt er durchaus eine angemessene Schwere, ohne aufzutrumpfen. Um einen Kern, das eigentliche Ausstellungshaus, führen öffentlich zugängliche Rampen. Die äußeren Kanten des Bauvolumens bildet, zumindest auf zwei Seiten sowie in Form eines teilweise vorkragenden Dachs, ein netzartiges Gitterwerk, das dem Bau seine ins Ornamentale spielende Sprache verleiht. Das zehn Zentimeter starke „Gewebe“ aus matt-dunklem, ultra-hochfestem Spezialbeton (UHPC) wurde in acht verschiedenen Varianten geformt. Es ergibt in der Fläche ein flirrendes arabeskes Muster.
In den letzten zehn Jahren fand dieser, besonders in Frankreich entwickelte Beton mehr und mehr Beachtung. Seine Druckfestigkeit ist mit mehr als 150 Mpa sehr hoch. In Marseille wurde er auch beim Bau der 135 Meter langen, ganz leicht gekrümmten Passarelle eingesetzt, die vom Museum hinüber zur Festung Saint-Jean führt, und bei einer zweiten, die den Neubau mit der Altstadt verbindet. Das Materialgemisch hatte Ricciotti gemeinsam mit seinem Sohn, einem Tragwerksplaner, zuvor bereits bei der Pont de Diable in der Nähe von Montpellier erprobt. Und auch für sein aktuelles Projekt, das Stadion Jean Bouin in Paris, setzt er es ein. In Marseille sind die markanten Rundstützen aus diesem Material. Sie wachsen entlang der Glasfassaden, V-förmig sich gabelnd, wie ein feingliedriges Kapillarsystem in die Höhe und bergen als Hohlkörper zugleich die Technik. „Wir haben“, erklärt der deutsche Projektleiter Tilman Reichert, „aus dem Material heraus den gesamten Bau konstruktiv entwickelt“, einem Material, das sich angesichts des Salzgehaltes der Luft auch wegen seiner Härte und seiner Wasserdichte anbot. Nicht zuletzt stellt seine samtweiche, glatte Oberflächen auch haptisch eine Bereicherung dar. Für die 23 Meter langen Deckenplatten in den großen Ausstellungsräumen des MuCEM wurde C70-Beton verwendet. Die Platten sind in einem Vorspannverfahren hergestellt und sichern mit den Stützen die Stabilität des Baus.
Der Beton verleiht dem Bau insgesamt eine eigentümliche, zwischen Zerbrechlichkeit und Stärke oszillierende Ästhetik, der Ricciotti selbst eine, wie es scheint, bewusst antimodernistische Ausrichtung attestieren möchte. Für ihn antwortet der Museumsneubau „auf die Massivität der Festung Saint-Jean mit seiner Dematerialisierung. Und dennoch ist er der Festung freundschaftlich gesonnen. Seine Farbe ist matt, er besitzt weder die bereits überholten Zeichen der Neomodernität noch die neurotischen Merkmale der Dekonstruktion. Es ist vielmehr knochig, weiblich, fragil; in einem Wort: provinziell, provenzalisch und kontextuell.“
Auf zwei der insgesamt fünf Geschosse (Erd- und zweites Obergeschoss) sind, entlang einer mittig angeordneten Erschließungs- und Technikspange, die bis zu neun Meter hohen, teils fließend ineinander übergehenden Ausstellungsräume angeordnet. Insgesamt stehen 3600 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung. Auch hier zeigen sich die Vorteile dieser Haus-im-Haus-Konzeption: Die Stützen, die vor zwei der Fas-saden laufenden Übergänge sowie der netzartige Vorbau und ein durchsichtiger Vorhang ergeben eine mehrschichtige Hül-le, die das mediterrane Licht stark filtert und für ein lebendiges Spiel aus Licht und Schatten in den Räumen sorgt. Ziel war es, auch in den offenen Gängen entlang der durchbrochenen Fassaden mit ihrem dunklen Beton ein besonderes Raumerlebnis zu schaffen.
Man darf gespannt sein, wie sich die ethnologischen Objekte in den Ausstellungssälen vor diesem Hintergrund ausnehmen. Für die meisten Besucher wird die Dachterrasse, wo ein Café etwa die Hälfte des Fläche einnimmt, sowie der anschließende Gang über die schmale Passarelle zur Festung Saint-Jean, den Höhepunkt des Besuchs darstellen. Eine andere Klientel wird hingegen in den nordöstlichen Eckräumen, die zum Meer hin orientiert sind, Platz nehmen, um sich vom regionalen Drei-Sterne-Koch bewirten zu lassen.
Villa Mediterranée
Die von der Regionalregierung Provence-Alpes-Côte-Azur initiierte und zu großen Teilen finanzierte Villa Méditerranée (Kosten ca. 70 Millionen Euro) ist Ausstellungs- und Veran-staltungsort. Im Schnitt formt das Gebäude ein großes C, das sich zum Meer hin öffnet. Über der Ebene in Untergeschoss liegt ein Wasserbassin. Die obere ist als 40 Meter vorkragende, massive und stützenlose Konstruktion ausgebildet. Durch die Fensterfront sind die Zickzacklinien der Stahlträger zu erkennen. Das als räumliches Scharnier fungierende Atrium ist atmosphärisch nüchtern und wird von einer zentralen Rolltreppe geprägt, die die Besucher ins Ober- und ins Untergeschoss leitet. Die Idee war, an möglichst vielen Punkten auf Wasser schauen zu können. So gibt es jetzt zahlreiche schmale, rechteckige Fensteröffnungen im Boden der oberen Ebene und in den Decken des unteren Ausstellungsraums sowie des angrenzenden, sechs Meter hohen Konzert- und Veranstaltungssaals. Insgesamt hat man durch diese Platzierung „zwischen Himmel und Meer“ allerdings erheblich Fläche und damit eine räumlich großzügige Präsentation verschenkt. Der untere Bereich bleibt ein, wenn auch ausgedehnter, Kellerraum. Das Obergeschoss, 12 Meter über dem Außenbecken „schwebend“, erscheint mit seinem knapp 800 Quadratmeter großen Raum durch ansteigende Bodenstufen und die niedrige Deckenhöhe auch ohne Einbauten etwas beengt. Entlang der verglasten Wände um den eigentlichen Ausstellungsraum herum ist ein öffentlich zugänglicher Rundgang geplant.
Steht man vor dem Gebäude und überblickt das von dem breiten Dach überragte Bassin, wird schnell klar: Hier handelt es sich eine dramatisch zugespitzte Schauarchitektur, die vor allem dazu dient, eine Promenade spectaculaire für das Publikum anzubieten; fehlt nur noch ein großes Aquarium.
Die neue Liaison
Die Fläche, auf der das MuCEM und die Villa Mediterranée nun die Akzente setzen, war früher ein unzugängliches, teils von alten Hallen bestandenes Hafengelände, das gut die Vorlage für den Krimiklassiker „French Connection“ in den siebziger Jahren geliefert haben könnte. Heute endet hier der entlang des Industriehafens verlaufende, neu gestaltete Boulevard Quai de la Joliette. Seinen Anfang nimmt er mehrere Kilometer weiter nördlich, in der Nähe von Zaha Hadids Büroturm für einen der weltweit größten Reeder, CMA-CGM, führt dann als neue Hafenpromenade vorbei an den Getreidesilos d’Arenc, die 2011 zum Konzerthaus umgebaut wurden, am langen Baukörper ehemaliger Lagergebäude, der schon 2002 zu Büros umgewandelt wurde, an einer Werfthalle auf dem Pier J4, die heute ein Ausstellungsort ist, um am MuCEM zu enden. Dieser Boulevard wird, quasi in zweiter Reihe, ergänzt durch ein Museum für Gegenwartskunst FRAC (Fonds regional d’Art Contemporaine) von Kengo Kuma. Der siebengeschossige Neubau auf einem schmalen dreieckigen Grundstück, passt sich in seiner Kubatur in ein bestehendes Wohnareal ein.
Im weiteren Umfeld des Boulevards sind im Rahmen vom Projekt Euroméditerranée Wohnblocks, ein Kinozentrum und Bürobauten entstanden. Man versucht, diesen Bereich, eine „Stadt in der Stadt“ des immer noch größten Hafens des Mittelmeers und eines der weltweit größten Ölhafens, wieder mit der durch autobahnähnliche Schneisen getrennten Altstadt zu verbinden.
Der Masterplan des Pariser Architekten und Stadtplaners Yves Lion hat zu diesem schon länger verfolgten, großflächigen Manöver am Ende des Boulevards in Sichtweite des MuCEM und der Villa Mediterranée auch eine Erneuerung der Arkadengänge vorgesehen. Diese sind auf der Stadtseite in das Plateau unterhalb der Kathedrale eingelassen und sollen bis Ende des Jahres zu einer Ladenstraße umgebaut werden. Im Mittelpunkt steht der Bau einer großen Freitreppe, die vom Plateau der Kirche bis zum Hafengelände hinunter führt. Auf halbem Weg erreicht man mit dem neuen Musée Regards de Provence eine weitere kulturelle Wegmarke, die als eine Art Symbol dieser städtischen Erneuerung gelten kann: Der 1948 errichtete zweigeschossige Bau auf schmalem, spitz zulaufendem Grundstück stammt von dem Architekten Fernand Pouillon (1912–86), der auch das langgestreckte Wohngebäude darüber errichtete und für den Wiederaufbau des im Krieg von den Deutschen teilweise gesprengten Hafenviertels mitverantwortlich war. Das Musée Regards de Provence war als Krankenhaus bzw. Quarantänestation für Einwanderer aus dem Süden errichtet worden und nach kurzer Nutzung vierzig Jahre lang dem Verfall preisgegeben. Nun, nach einer aufwendigen Sanierung, öffnet es als Regionalmuseum wieder seine Tore und zeigt die Arbeiten einer Privatsammlung. Zu sehen sein werden Ansichten der Hafenstadt aus dem 19. Jahrhundert.
Fakten
Architekten
Pouillon, Fernand (1912–86); Lion, Yves, Paris; Hadid, Zaha, London; Ricciotti, Rudy, Bandol; Boeri, Stefano, Mailand
Adresse
Marseille Frankreich
aus
Bauwelt 15.2013
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