Museum für Moderne Kunst
Fünf Finger für die Art Brut
Text: Gillier, Aurélien, Paris
In Frankreichs Département du Nord, dicht an der belgischen Grenze, vollendete die Architektin Manuelle Gautrand im September einen recht befremdlichen Erweiterungsbau für das Museum für Moderne Kunst in Villeneuve d’Ascq, ein Gebäude, das Ende der siebziger Jahre von Roland Simounet entworfen wurde.
Das Museum für Moderne Kunst von Villeneuve d’Ascq, einer Vorstadt östlich von Lille, beherbergt die bemerkenswerte Kollektion Jean et Geneviève Masurel. Zu dieser ohnehin schon reichhaltigen Sammlung kamen 1999 mit der Sammlung L’Aracine weitere 3500 Werke der Art Brut hinzu, die zuvor im Château Guérin von Neuilly-sur-Marne untergebracht waren. Es handelt sich hierbei um autodidaktische Kunst von Laien und Menschen mit geistiger Behinderung, die durch den Maler und Bildhauer Jean Dubuffet (1901–1985) eine besondere Wertung erlangten. Auf den 5700 Quadratmetern des vorhandenen Gebäudes war es nicht möglich, die Schätze, die im Depot schlummerten, angemessen zu zeigen. So wurde vor acht Jahren nach einem Bewerbungsverfahren ein Wettbewerb mit fünf Teilnehmern ausgeschrieben. Die Aufgabe bestand nicht nur darin, die Ausstellungsflächen zu vergrößern, sondern auch das ursprüngliche Gebäude neu zu gliedern.
Der Altbau
Zunächst zum Altbau von Roland Simounet, der 1983 nach nur zwei Jahren Bauzeit fertiggestellt wurde. Er öffnet sich nach Süden auf einen weitläufigen Skulpturenpark. Anknüpfend an die leichten Unebenheiten des Geländes, spielt Simounet mit einfachen rechteckigen Einzelbaukörpern und markanten Dachaufbauten. Die Fassadenflächen bestehen aus rotem Backstein, dem für die Gegend typischen Material. Darüber setzt der Architekt Sichtbetonstürze. Rhythmisch gegliedert und meist auf zwei, aber auch auf drei Ebenen ineinander verschachtelt, entwickelt sich zum Park hin eine lebendige Struktur, in der sich die glatten roten Backsteinoberflächen mit leicht zurückgesetzten Glasflächen abwechseln. Den horizontalen Abschluss bilden die Betonstürze. In die Backsteinmauern sind vertikal schmale Betonrinnen für das Regenwasser eingelassen.
Das Gebäude teilt sich in zwei Einheiten, die durch eine Eingangshalle miteinander verbunden sind. Der Trakt im Westen dient der Verwaltung, der Lagerung, dem museumspädagogischen Dienst sowie der Bibliothek mit ihrem Bestand von 40.000 Büchern. Der Bereich im Osten beherbergt die Ausstellungsflächen. Roland Simounets Baukastenprinzip ordnet den Raum in eine Abfolge von Sälen auf den unterschiedlichen Höhenniveaus, mit für die Besucher leicht erfassbaren Dimensionen.
Der Architekt wirkte vor allem in seinen frühen Jahren in Nord- und Schwarzafrika. Er dimensionierte seine Räume – auch in Villeneuve d’Ascq – nach dem Modulor von Le Corbusier. Bezüge zu seinen Wohnanlagen aus Einzelkuben in Afrika, die alle auf die Topografie Bezug nehmen, sind unverkennbar (siehe Lebenslauf Seite 26).
Das Museum ist nicht monumental, setzt sich nicht in Szene. Bei der Gesamtkonzeption standen die Annehmlichkeiten für den Besucher, vor allem eine gewisse Intimität beim Betrachten der Werke im Vordergrund. Der Rundgang durch die geradlinigen, streng gezeichneten Raumeinheiten verändert sich mit dem Wandel des Tageslichts. Man läuft durch die Säle mit Werken von Pablo Picasso, Henri Laurens, Amadeo Modigliani, Georges Braque, Fernand Léger und vielen anderen und behält gleichzeitig durch die offenen Einschnitte zwischen den Räumen oder die Deckenfenster in Form von Sheds immer einen Bezug nach draußen. Es sind dies meist überraschende Durchblicke oder Ausblicke in der Park.
Das Raumensemble von Simounet ist auch nach 27 Jahren noch eine Architektur von großer Qualität. Man muss schon extrem ehrgeizig sein, um sich eine Erweiterung zuzutrauen, die am östlichen Teil vorgenommen werden sollte. Die Teilnehmer an dem Wettbewerb haben mehrheitlich von dem bestehenden Gebäude losgelöste Erweiterungen vorgeschlagen, zweifellos aus Respekt, vielleicht aber auch aus Kleinmut.
Respekt und Ungehorsam
Manuelle Gautrand hingegen hat die Konfrontation ihrer Handschrift mit der ihres Vorgängers nicht gescheut. Sie wollte Simounets Gebäude von Norden und Osten, also von der Rückseite, „umarmen“, auch, um einen durchgängigen Museumsrundgang möglich zu machen. Eine lobenswerte Absicht. Den Ausstellungsbereich hat sie als „Finger“ mit Betonfassaden entworfen, lange und bewegte Baukörper, die den Höhenlinien des Geländes zu folgen scheinen. Gautrand sagt, sie habe sich mit „Respekt und Ungehorsam“ dem bestehenden Bau nähern wollen. Da ihr Erweiterungsbau eine Sammlung von teilweise empfindlichen Werken beheimatet, die nicht dem direkten Licht ausgesetzt werden dürfen, musste hier ein Hauptproblem von heutigen Ausstellungsräumen gelöst werden: die Beleuchtung. Die gewundenen, schmalen Räume stellten hier hohe Anforderungen. Zwischenzeitlich war eine natürliche Belichtung über das Dach vorgesehen, doch angesichts des knappen Budgets musste diese aufgegeben werden. An der „Wurzel“ der von Gautrand entworfenen „Hand“ der „Umarmung“ – dort, wo also die Betonfinger sich dicht nebeneinander zwängen – befinden sich zwei größere Säle für Wechselausstellungen. Ihre Raumhöhe ermöglicht eine Bespielung mit großen, zeitgenössischen Werken oder spezielle Rauminstallationen.
Im Anschluss an diese beiden Säle markieren die langen Arme zart, fast schüchtern ihre Präsenz. Raumbreite Rampen bilden den Eingang zu den Ausstellungsräumen der Sammlung L’Aracine, von der rund 400 Werke entsprechend der Finger in fünf Gruppen gezeigt werden. Die Räume sind schmal und hoch, die Hängungsflächen großzügig, die Decken weisen bündig integrierte Lichtbänder auf. Sie vertragen sich schlecht mit der Sammlung, die im Wesentlichen aus kleinen Formaten auf Papier und kleinen Skulpturen besteht. Jeder der Betonfinger hat etwas verschwommene Grenzen. Sie enden vor einer Art Blende oder einem Filter mit einer Verglasung und, in einem gewissen Abstand dahinter, vor einer Netzstruktur aus Ductal-Beton, die – nach Auskunft der Architektin – mit von der Natur inspirierten Motiven durchbrochen ist. Das Museum erwähnt bei der Gestaltung auch den Begriff Moucharabieh, ornamentale Eisengitter aus der arabischen Welt. Der besonders stoßfeste und gegen Korrosion resistente Beton ist für diese feingliedrige Dekor-Struktur erforderlich. Dem Besucher öffnet sich hier – endlich – ein Blick in den Park. Dieser ist allerdings begrenzt durch den Filter. Das gleiche Motiv aus Ductal-Beton findet man auch als flaches Relief auf Teilen der Fassaden aus Ortbeton wieder.
Manuelle Gautrands Baukörper mit den eigenwilligen Fassadenmotiven weisen vom Park aus gesehen eine merkwürdig maßstabslose Struktur auf, die sich der strengen und absichtsvoll gestalteten Handschrift Simounets gegenüberstellt. Der Erweiterungsbau lässt bewusst die „Kollision“ dieser zwei Architekturen zu. Die eine ist geprägt von Aufmerksamkeit für das Gelände und seine Umgebung, für die Gestaltung des Raumensembles und seiner Details. Die andere indes bezieht sich auf unsere Epoche mit ihren schnell vergänglichen Moden.
Aus dem Französischen von Sabine Froschmaier
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