Psychiatrie in Gent
Wieviel Dekonstruktion kann man Patienten einer Psychiatrie zumuten? In Gent haben De Vylder Vinck Taillieu ein Bettenhaus in eine romantische, an manchen Stellen auch gefährliche Ruine verwandelt.
Text: Kleilein, Doris, Berlin
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Außen- oder Innenraum? Gewächshäuser, Straßenlaternen und Kiesschüttung machen das Haus zum Park.
Foto: Filip Dujardin
Außen- oder Innenraum? Gewächshäuser, Straßenlaternen und Kiesschüttung machen das Haus zum Park.
Foto: Filip Dujardin
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Das Regenwasser fließt durch Bohrlöcher in den verbliebenen Holzdecken ab.
Foto: Filip Dujardin
Das Regenwasser fließt durch Bohrlöcher in den verbliebenen Holzdecken ab.
Foto: Filip Dujardin
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Offenes Haus nach allen Seiten: Fenster und Türen wurden zum Teil entfernt, das Dach bleibt ungedeckt.
Foto: Filip Dujardin
Offenes Haus nach allen Seiten: Fenster und Türen wurden zum Teil entfernt, das Dach bleibt ungedeckt.
Foto: Filip Dujardin
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Renovierungsstrategie: Reparaturen werden mit Betonsteinen ausgeführt, ...
Foto: Filip Dujardin
Renovierungsstrategie: Reparaturen werden mit Betonsteinen ausgeführt, ...
Foto: Filip Dujardin
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... die bestehende Stahlkonstruktion sowie neue Geländer grün lackiert.
Foto: Filip Dujardin
... die bestehende Stahlkonstruktion sowie neue Geländer grün lackiert.
Foto: Filip Dujardin
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Zudem wurde ein Baum gepflanzt und die weiße Holzloggia auf der Nordseite wiederholt.
Foto: Filip Dujardin
Zudem wurde ein Baum gepflanzt und die weiße Holzloggia auf der Nordseite wiederholt.
Foto: Filip Dujardin
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Die neu hinzugefügte Pergola, eine Spiegelung des Wintergartens auf der Südseite des Hauses.
Foto: Filip Dujardin
Die neu hinzugefügte Pergola, eine Spiegelung des Wintergartens auf der Südseite des Hauses.
Foto: Filip Dujardin
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Im ganzen Haus wurden Putzund Fliesen abgeschlagen, lediglich die Treppe erinnert an den Ausbau.
Foto: Filip Dujardin
Im ganzen Haus wurden Putzund Fliesen abgeschlagen, lediglich die Treppe erinnert an den Ausbau.
Foto: Filip Dujardin
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Fast eine medizinhistorische Gedenkstätte: Im ehemaligen Gemeinschaftsbad unter dem Dach sind noch Spuren der Badewannen und Raumteiler auf dem Boden sichtbar.
Foto: Filip Dujardin
Fast eine medizinhistorische Gedenkstätte: Im ehemaligen Gemeinschaftsbad unter dem Dach sind noch Spuren der Badewannen und Raumteiler auf dem Boden sichtbar.
Foto: Filip Dujardin
Es regnet in Strömen bei meinem Besuch in Gent. Nicht nur auf dem Weg zu dem Backsteingebäude inmitten des Klinikcampus braucht man einen Schirm, sondern auch im Haus selbst. Das Wasser tropft durch den abgedeckten Dachstuhl und die Bohrlöcher in den Holzdecken bis hinab ins Erdgeschoss, wo große Stücke abgeblätterten Putzes vom Wind auf dem Boden verteilt wurden. Es ist das perfekte Wetter, um zu erfahren, worum es den Architekten De Vylder Vinck Taillieu bei diesem Projekt nicht ging: um einen geschützten Raum für die Patienten der Psychatrie, der eine heile Welt vorgaukelt. Im Gegenteil: Die Wunden der Architektur sind nur notdürftig verarztet, Prothesen stützen sichtbar baufällige Elemente; ein Anblick, der schmerzt, aber auch tröstet, denn hier wird nichts übertüncht, aufgeworfene Narben werden gezeigt. Man steht zu seiner Krankheitsgeschichte. So mancher Therapeut könne im architektonischen Umgang mit dem Altbau eine Analogie zu den Leiden der Patienten ziehen, doch darum sei es im Entwurf eigentlich gar nicht gegangen, so Architektin Inge Vinck. Die Aufgabe, zu der die Klinik-leitung drei belgische Architekturbüros eingeladen hatte (neben dvvt noch de Smet Vermeulen und noAarchitecten) war eine andere: einen Freiraum zu gestalten, einen „Plein“ (flämisch für Platz), der dem weitläufigen Gelände eine kommunikative Mitte gibt. Wie aus dem ruinösen ehemaligen Bettenhaus schließlich der “Kannunik Petrus Jozef Triest Plein“ wurde, ist eine Geschichte, die in der Krankenhausarchitektur einmalig sein dürfte; eine kleine Revolution.
Was ist das überhaupt, Krankenhausarchitektur?
2014 hatte der neue Direktor der psychiatrischen Klinik in Melle, einer Gemeinde am Südrand von Gent, das Büro BAVO mit der Erarbeitung eines Masterplans beauftragt. Das „PC Caritas Melle“, 1908 als im zeittypischen Pavillonstil inmitten eines Landschaftsparks erbaut, war in die Jahre gekommen: Die mit Wintergärten und Schmuckfassaden dekorierten Bettenhäuser mit ihren großen Schlafsälen entsprachen schon lange nicht mehr den Ansprüchen, einige waren bereits abgerissen worden und durch mediokre Krankenhausarchitektur – Pseudo-Ando, Pseu-do-Hertzberger – ersetzt worden, weitere sollten folgen. Das atmosphärische Klinikgelände zerfiel in Einzelteile.
Für den Neubau einer Krisenstation und einer Kinder- und Jugendpsychatrie stellte die Direktion die grundsätzliche Frage, wie man mit dem historischen Campus als Ganzes umgehen kön-ne und was Krankenhausarchitektur heute überhaupt sei. Gideon Boie und Fie Vandamme von BAVO schlugen anstelle eines Masterplans einen partizipativen Prozess mit Ärzten, Klinikmanagern, Pflegern und Patienten vor, an dessen Ende kein Neubau stand, sondern der Wunsch nach einem Rückzugsort, an dem man alleine sein und sich unbeobachtet erholen könne, zudem einen Ort für Empfänge. Das leerstehende Bettenhaus „Sint Jozef“ in zentraler Lage auf dem Campus erschien dafür bestens geeignet. De Vylder Vinck Taillieu haben es schließlich zum architektonischen-psychologischen Manifest umgebaut, oder besser: rückgebaut, zusammengeflickt und in bester belgischer Tradition um surreale Elemente ergänzt.
Das Haus als Außenraum
Die ästhetische Grundhaltung dieses Umbaus ist aus vielen anderen Projekten des Büros bekannt (
Bauwelt 32.2012): Das Unfertige ist Programm. Doch diesmal gingen die Architekten noch einen Schritt weiter und konzipierten eine waghalsige Partitur aus Abriss, Reparatur und Weiterbau. Um das Haus nach allen Seiten zu öffnen, ließen sie Fenster und Türen im Erdgeschoss entfernen und spiegelten die Pergola aus weiß gestrichenen Holzbalken an der Südfassade des Hauses auf der Nordseite. In allen Innenräumen wurden der Putz und ein Großteil der Fliesen abgeschlagen. Zudem wurden hier und dort Decken entfernt, so dass man auch im Erdgeschoss den Himmel sieht. Reparaturen blieben demonstrativ sichtbar: Wie ein steinerner Code ziehen sich Kaskaden aus unregelmäßig gesetzten Beton-steinen über die Wände – die Form wurde weitgehend den Bauarbeitern überlassen, die Vorgabe der Architekten war lediglich, alle strukturellen Risse sichtbar mit 15 Zentimeter dicken Betonsteinen zu füllen und die Steine im Versatz aufeinanderzusetzen.
Außen und Innen werden in diesem Gebäude zum Vexierspiel: Die offengelegte Tragstruktur aus Stahlbalken ist grün lackiert, ebenso sind es neue Geländer und Stützelemente. Ein eigens gepflanzter Baum, der im Lauf der Jahre durch die rudimentäre Dachstruktur wachsen soll, steht wie selbstverständlich da. Man durchwandert die Ruine wie eine surreale Landschaft: Mitten im Gebäude steht eine hohe Straßenlaterne neben einem offenen Kamin, der Boden ist mit Kies bedeckt, kleine und große Gewächshäuser sind auf die Geschosse verteilt, ebenso Gartenstühle aus bunt lackiertem Metall. An die ursprüngliche Nutzung erinnern nur wenige, atmosphärische Elemente, die als Versatzstücke belassen wurden: eine geschwungene Holztreppe, ein paar Fliesen. Unter dem Dach, in einem ehemaligen Gemeinschaftsbad, bekommt man eine Ahnung davon, wie wenig Privatsphäre den Patienten ursprünglich zugestanden wurde: An den Bodenkacheln kann man heute noch die Stellung der Badewannen ablesen.
Die Nutzung der Räume ist nur teilweise definiert und soll sich im Lauf der Zeit verändern können: Ein paar Betonstufen führen in den offengelegten Keller, wo die Empfänge und Aufführungen stattfinden können, die Gewächshäuser bieten trockenen (wenn wahrscheinlich auch nur im Sommer angenehmen) Raum für Seminargruppen und Zeichenkurse.
Wartungsvertrag für eine Ruine
475.000 Euro haben die Architekten auf 1800 Quadratmetern verbaut, ein Teil davon stammt aus dem ursprünglichen Abrissbudget. Es ist ein Experiment: Zweimal im Jahr besuchen die Architekten das Haus, um den fortschreitenden Verfall zu begleiten, eine Art Wartungs- und Pflegevertrag. Dabei können sie auch beobachten, wie das Haus zu verschiedenen Jahreszeiten genutzt wird. Die Sicherheit spielt eine große Rolle und könnte sich als Achillesferse des Konzepts entpuppen: Bereits kurz nach Fertigstellung mussten die Architekten die oberen Geschosse mit Gittern und Türen sichern, damit Patienten sich nicht unkontrolliert in uneinsehbare Räume zurückziehen und sich verletzen können. Architektur, das macht dieses Projekt auf radikale Art bewusst, kann ihre Nutzer einengen oder befreien – und sie kann auch gefährlich werden. Genau das ist die Stärke dieses „Hauspatienten“: Er bringt uns an die Grenzen der Architektur.
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