Reutlingen - Stadtraum mit Solitären
1961-66
Text: Baus, Ursula, Stuttgart
Das Rathaus-Ensemble von Tiedje & Volz besteht aus drei Bauteilen, die zwischen Marktplatz und Stadtmauer eine Folge unterschiedlicher Außenräume bilden. Der frei stehende Baukörper mit den Sitzungssälen wurde mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II saniert. Den beiden Büroscheiben aber droht weiterhin der Abriss für ein Einkaufszentrum.
Im Herbst 1961 erklärte Reutlingens SPD-Oberbürgermeister Oskar Kalbfell vor dem Gemeinderat: „Dieses Rathaus baut diese Stadt nicht für diesen Gemeinderat, nicht für diesen Bürgermeister und nicht für diese Beamten, sondern für diese Bürger, für heute, morgen und für die ferne Zukunft. Das soll ein Bauwerk werden, das vor der Geschichte bestehen kann, ebenso wie auch unsere Kirchen, das Spendhaus, das Friedrich-List-Gymnasium, das Heimatmuseum, unsere Schulen, unsere Siedlungen und unsere Bürgerhäuser.“ Hehre Politikerworte. Fünfeinhalb Jahre später, am 22. April 1966, wurde das Rathaus, das Wilhelm Tiedje (1898–1987) und sein Partner Rudolf Volz nach dem Wettbewerbsgewinn realisiert hatten, eingeweiht. Man muss sich die Entstehungszeit vergegenwärtigen, um die architektonische Leistung und den Anspruch des einstigen OB, das Rathaus möge „vor der Geschichte bestehen“, debattieren zu können: Gerade hatten sich, erstmals nach dem Krieg, zwei offizielle Vertreter (West-)Deutschlands und Israels in New York getroffen: Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Die Kuba-Krise entbrannte, die Russen feierten Juri Gagarin, in Berlin wurde die Mauer gebaut, und John F. Kennedy besuchte die Stadt; ein halbes Jahr später wurde er in Dallas ermordet. Ludwig Erhard wurde Kanzler, Willy Brandt SDP-Chef. Die USA warfen die ersten Bomben auf Vietnam, Le Corbusier starb, Queen Elisabeth II besuchte Deutschland und fragte in der nördlich von Stuttgart gelegenen Schillerstadt Marbach: „Where are the horses?“ – sie hatte angenommen, man besuche das bei Reutlingen gelegene Marbach mit seinem legendären Haupt- und Landesgestüt. Im Sommer 1966, als das Reutlinger Rathaus fertig ist, setzt Heinrich Albertz als OB in Berlin neue Maßstäbe, Maos „Rote Garden“ drängen China von westlichen Werten ab. Man erkennt die Atmosphäre dieser Zeit in den Fotografien, die der Stuttgarter Fotograf Gottfried Planck damals vom Reutlinger Rathaus aufnahm, hervorragend wieder. Und man sieht, was die Architektur dieser Zeit auszeichnet.
Reutlingens Rathaus
Reutlingen, etwa dreißig Kilometer südlich von Stuttgart gelegen, ist heute eine Stadt mit im Kern etwas mehr als 64.000 Einwohnern; Eingemeindete mitgerechnet, leben hier über 110.000 Menschen. Im Zweiten Weltkrieg ist Reutlingen teilweise zerstört worden, was es so typisch für die bundesrepublikanische Stadtentwicklung des 20. Jahrhunderts macht. Heute ist die Stadt durch all das gekennzeichnet, was man im Südwesten der Republik erwarten kann: eine Geschichte, die bis zurück zu den Kelten reicht, den Status einer einstigen Freien Reichsstadt, einen geistesgeschichtlich berühmten „Sohn“, Friedrich List, eine heute von Autos befreite Altstadt – und gegenwärtig wenig Arbeitslose (im August 2012 unter 4 Prozent). Man leistet sich eine neue Stadthalle (von Max Dudler, im Bau), ein Vier-Sterne-Hotel soll in Kürze folgen. Aber ein Rathaus aus einer Zeit, in der in Deutschland mit Rathäusern Architekturgeschichte geschrieben wurde, ist gegenwärtig akut bedroht.
Das Ensemble von Tiedje und Volz steht heute „wie eine Eins“ am Marktplatz. Wilhelm Tiedje war Schüler von Paul Bonatz und Assistent von Paul Schmitthenner gewesen und lehrte von 1931 bis 1965 als Professor an der TU Stuttgart. Tiedjes Architektur zeichnet sich durch eine Qualität aus, die in diesen Jahren bereits partiell verloren geht: Zum Bauen gehört für Tiedje noch eine exquisite Ausführungsplanung, die mit handwerklich hohem Anspruch realisiert wird. Im Reutlinger Rathaus sieht man dies auch am Sichtbeton, der etwa die auskragenden Treppenstufen zu einem skulpturalen Meisterstück werden lässt. Mit Herta-Maria Witzemann (1918–1999) wurde für das Foyer und die Sitzungssäle eine Expertin hinzugezogen, deren Werkliste heute beste Erinnerungen weckt: Darin finden sich unter anderem der Stuttgarter Landtag, der Süddeutsche Rundfunk und der Kanzler-Bungalow in Bonn. Außerdem arbeitete Tiedje im eigenen Büro mit einem Bauingenieur zusammen: Rudolf Volz. Eine dermaßen enge Zusammenarbeit entspricht noch einer traditionsreichen, ununterbrochenen Kette von der Idee zum Bauwerk. Und die Idee zum Reutlinger Rathaus war großartig: Die öffentlichen Bereiche mit dem Ratssaal in einem markanten, aber nicht monumentalen Baukörper am Marktplatz von der Verwaltung zu separieren und mit wohlproportionierten Freiräumen elegante Aufenthaltsqualität zu schaffen – das hatte es bis dahin noch nicht gegeben und gelang hier in einem stadträumlichen Gesamtkunstwerk, das fünfzig Jahre lang hervorragend gealtert ist.
Gewiss, es gab Änderungen: Tiedje hatte auf der dem Marktplatz zugewandten Seite Stützen im Erdgeschoss vorgesehen und damit ein Motiv aufgegriffen, das sich in der Rathausgeschichte als öffentliche Loggia bewährt hatte. Diese Zone wurde inzwischen mit Gastronomie zugebaut – eine grundsätzlich reversible Intervention. Was nicht heißt, dass Gastronomie hier nichts verloren hätte, im Gegenteil: Sie an dieser Stelle kongenial zu berücksichtigen, hieße einmal mehr, keine Standards, sondern das Besondere auszuarbeiten. Dass im Übrigen nach knapp fünfzig Jahren eine Sanierung und Anpassung an neue Klima- und Medientechnik ansteht, spricht niemals gegen die eigentliche Bausubstanz.
2010 wurde mit genau diesen Anpassungswünschen die Renovierung des Ratssaales und der Foyerbereiche in Angriff genommen – woraufhin der Reutlinger Gestaltungsbeirat, in dem neben anderen Max Dudler und Arno Lederer wirken, intervenierte. So wurde ein Wettbewerb ausgelobt, den das Büro hg merz gewann. Dessen Sanierungskonzept setzte, leicht abgespeckt, das ortsansässige Büro Riehle+Assoziierte/Domino Architekten mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II um.
Eine vom Reutlinger Geschichtsverein und von der Architektenkammer Baden-Württemberg initiierte Ausstellung mit Rathausfotografien aus der Entstehungszeit, aufgenommen von Gottfried Planck, und der Gegenwart, von Rose Hajdu, stieß 2011 auf große Resonanz: Der Ruf nach einer Dokumentation wurde laut, die nun im Oktober bei Wasmuth erscheinen soll. Hoffentlich noch rechtzeitig, um eine öffentliche Debatte zu bereichern, denn es droht Ungemach.
ECE ante portas
Die Reutlinger treibt seit einiger Zeit um, dass – ihrer Kaufkraft sei’s geschuldet – ECE einen Investitionsort in der Innenstadt sucht. Die CDU-Fraktion hatte im August 2009 einen Antrag für ein Einkaufszentrum eingebracht, als Standort kam das Rathausareal ins Gespräch. Die ECE begehrt immer öfter Einlass in deutsche Innenstädte und sieht dabei ihre Chance im Abriss einer Architektur, die – das lehrt die Baugeschichte – zyklusmäßig ihrem Rang nach noch nicht gewürdigt wird: Architektur der sechziger und siebziger Jahre. Mag die Fünfziger-Jahre-Architektur inzwischen anerkannt sein – die Architektur der anschließenden Jahrzehnte wird als Verfügungsmasse missbraucht, mit der sich Investitionsinteressen befriedigen lassen. Wenn es um die Wertschätzung dieser Architektur geht, heißt dies deswegen zuallererst: Es geht um ihren Schutz. In Reutlingen nicht anders als überall dort, wo die ECE zulasten der kleinteiligen Handelsstruktur agiert und Bürger nur noch als Konsumenten Zutritt haben.
Formaldehyd – das Abrissargument nach Asbest?
Nach Stammtischmanier werden in Abrissdebatten immer gleiche Muster aufgegriffen: Herhalten müssen Stoffe, die gefährlich klingen – wenn’s nicht Asbest ist, dann eben Formaldehyd –, oder Geldwerte. So liest man in Reutlinger Blogs, „quasi zum Nulltarif“ ließe sich ein neues, formaldehydfreies Rathaus an einem anderen Standort errichten, wenn man das zentral gelegene Rathaus-Grundstück für viel Geld verkaufe und das „ohnehin nicht besonders schöne Rathaus“ abreiße. Millionenbeträge ließen sich sparen. So werden im Vorfeld wieder mal Erhaltungskosten teuer dargestellt und Kosten für das Neue kleingeredet. Und immer noch fallen Entscheider darauf rein. Das Büro Müller MBB wurde mit einem Formaldehyd-Gutachten beauftragt und kam zu dem Schluss, dass außer im Bürgeramt bei üblicher Lüftung keine Gesundheitsgefahr bestehe. Formaldehyd kommt in Pressspanplatten vor, in Kleidern, Kosmetika, Zigaretten und vielen anderen Produkten. Wer das beliebte Billy-Regal besitzt, darf sich des Formaldehyds ebenda sicher sein. In Reutlingen sind es Einbauschränke und Deckenverkleidungen, die bei einer ohnehin fälligen Sanierung ausgetauscht werden müssten – und könnten.
Es sind Krämerseelen, die den Wert ihrer Heimat nur über wirtschaftshypothetische Argumente zu beziffern wissen. Eine Gesellschaft, die gerade eine bittere Quittung für die Leichtfertigkeit serviert bekommt, mit der sie Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert hat, verhökert jetzt ihr Tafelsilber an die Privatwirtschaft und gibt letztlich ohne Not ihre Planungshoheit ab. Dergleichen manifestiert sich auch in Reutlingen: In der Gemeinderatsdrucksache 12/030/06 heißt es zum Beispiel: „Da aufgrund der knappen Personalsituation keine Ressourcen zur Verfügung stehen, wurde die Firma Drees & Sommer beauftragt, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Menge des Formaldehyds in der Raumluft von Büroräumen [des Rathauses] dauerhaft und nachhaltig reduziert werden kann.“ Honi soi qui mal y pense.
Was passiert in unseren zu Konsumzonen verkommenen Städten, wenn Deutschland das Geschichtskapitel „Konsumgesellschaft“ hinter sich hat? Wer glaubt, nur Konsum könne die Innenstädte nachhaltig beleben, irrt. Bauliche Manifeste aus der Zeit, in der die Demokratie in Deutschland zum allerersten Mal transparente Politik in Rathäuser, Landes- und Bundesparlamente brachte, sind längst in ihrem architektonischen und geschichtlichen Rang zu differenzieren und in behutsamen Nach- und Neunutzungen weiterzudenken, damit sie nicht Opfer von Konsumideologen mit ihren Schnellschüssen werden. Reutlingen verfügt über ein geradezu brillantes Ensemble, das durch das Zusammenspiel von Innen- und Außenräumen, Zugänglichkeiten und Ausdruck seinesgleichen so schnell nicht findet: eine ausdrucksstarke, shoppingfreie Zone mit hoher Aufenthaltsqualität. Wenn ECE oder ein anderer Investor hier Tabula rasa machen darf, wiederholt Reutlingen nur die Fehler anderer Städte, anstatt sich der qualitativen Innenstadtentwicklung mit stadt- und gesellschaftsgeschichtlichem Selbstbewusstsein zu widmen.
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