Schulzentrum
Essere bosco – die Schule in Carouge
Text: Tapparelli, Cornelia, Lausanne
Die Architekten Ueli Brauen und Doris Wälchli befassen sich viel mit neuen Konzepten für filigrane Fassadenstrukturen. Beim Schulzentrum in Carouge war das Baummotiv Grundlage der Gestaltung.
Ueli Brauen und Doris Wälchli stammen ursprünglich aus dem Kanton Bern, haben sich jedoch nach ihrem Architekturstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne in der französischsprachigen Schweiz niedergelassen. Brauen hat neben dem Architektur- auch ein Ingenieurstudium absolviert – ein nicht zu vernachlässigendes Detail für das hier vorgestellte Projekt, bei dem die Konstruktion der Fassadenstruktur ein wichtiges Element bildet.
Vor sechs Jahren wurde vom Kanton Genf eine Bieteranfrage mit Architekturwettbewerb für ein Sekundarschulgebäude (Orientierungsstufe der Klassen 7 bis 9) ausgelobt. Zur Verfügung stand ein Terrain unweit des Zentrums von Carouge, einer rund 20.000 Einwohner zählenden Gemeinde südlich von Genf. Es befindet sich auf einer Anhöhe mit Ausblicken auf Teile des ehemaligen Herrschaftsguts „Drize“, der weiten Industriezone „La Praille“ im Nordwesten, des Hochschulcampus „Batelle“ im Osten und eines kleinmaßstäblicheren Wohnquartiers im Süden. Auf zwei Seiten der Grundstücksgrenze säumen Baumgruppen die anliegenden Straßen. Sie prägen den südlichen Außenraum der Schule und schützen vor Straßenlärm.
In Anbetracht dieses Kontextes setzten sich die Architekten vor allem folgende Ziele: Zum einen wollten sie das Thema des umliegenden Baumbestands in ihr Projekt aufnehmen. Zum anderen sollte die geographische Situation mit den Sichtbezügen zum Jura im Norden und zum Genfer Hausberg Salève im Süden inszeniert werden. Überdies schlugen sie ein einheitliches Volumen als deutlichen „Orientierungspunkt“ vor. Sie brachten das gesamte Programm, das neben den Klassenzimmern auch drei Sporthallen mit Umkleidekabinen, einen Kantinenraum, eine Mediathek, Räume für den Werkunterricht sowie für die Verwaltung und die Technik umfasst, in einem einzigen langgestreckten Gebäudequader unter.
Passage mit Ausblick
Den Grundriss wurde wie folgt organisiert: Entlang eines zentral liegenden Erschließungsraums, der die gesamte Länge des Gebäudes durchmisst, sind in den Obergeschossen nach Südosten die Klassenzimmer aufgereiht, während die Sporthallen sich an der Nordwestseite befinden. Das Schulhaus ist offen, denn der Erschließungsraum erlaubt auch den Ausblick quer durch die Sporthallen auf die umliegende Landschaft. Eine Monotonie, wie sie Flure von fast 140 Meter Länge hervorrufen können, wurde durch das Versetzen der Treppenhäuser in die Gänge hinein deutlich reduziert.
Im Erdgeschoss befindet sich neben der Verwaltung eine großzügige Eingangshalle, die in räumlich nahem Bezug zum offenen Kantinenraum steht. Zu diesem führt eine langgezogene Rampe hinauf, die man als Anfangs- oder Endpunkt einer Promenade architecturale bezeichnen könnte. Im Untergeschoss sind die Werkräume zu finden, weitere haustechnische Räume wurden auf derselben Ebene in den Hang eingelassen.
Die Tragstruktur ist auf einem Raster von 7,70 Meter angeordnet, wobei die Querbalken und Betonplatten große Spannweiten und somit das Auslassen einiger vertikaler Tragelemente erlauben. So wurden zum Beispiel die stützenfreien Sporthallen in das Raster „eingeschoben“. Für die Anlage der Klassenzimmer hingegen bot der genannte Achsenabstand eine gute Basis, und die Räume sind zwischen den Tragelementen eingepasst. Die Struktur der Außenhülle unterliegt nicht dem gleichen Raster.
Alvar Aaltos Vase
Das Schulgebäude beherbergt verschiedene Kunst-am-Bau- Projekte. So entwickelte die Künstlerin Anne Péverelli ein Farbkonzept: Die von ihr vorgeschlagenen sieben Farbtöne wurden von Brauen und Wälchli an verschiedenen Stellen im Gebäude, unter anderem an der Decke im Eingangsbereich und in den Sporthallen, verwendet. Der Tonkünstler Frédéric Post wiederum komponierte gemeinsam mit dem Musiker Christophe Polese 256 Melodien für eine Stunde für Stunde variierende Pausenklingel. John M. Armleder schließlich wollte mit seiner Intervention auf das stark abstrahierte und geometrische Baummuster der Außenstruktur reagieren und hat daher die Architekten aufgefordert, in ihrem Motiv den Grundriss der von Alvar Aalto gezeichneten Blumenvase aufzunehmen. Dieses etwas gewagte Zitat fand in den organisch geformten Nasszellen, bei den Türklinken und bei der Deckengestaltung der Klassenräume seine Umsetzung.
Auch bei der Entwicklung der Außenstruktur gab ein Kunstwerk den Anstoß: Giuseppe Penone, ein Künstler der arte povera, hat mit seiner Skulptur „essere fiume“ (1981–95) die Architekten dazu inspiriert, ihren Wettbewerbsbeitrag „essere bosco“ zu nennen. Penone hatte von dem Stein aus einem Fluss eine Kopie hergestellt, um damit die Erosionsarbeit des Wassers zu simulieren. Aus einem ähnlichen Grund wählten Brauen und Wälchli für die Außenstruktur ein geometrisch abstrahiertes Baummotiv, das einen Wald oder eine Baumgruppe assoziieren soll, um, wie bereits erwähnt, das Thema der umliegenden Bäume in ihre Architektur aufzunehmen.
Das Baummotiv
Beim Wettbewerbsentwurf standen die „Bäume“ der Außenstruktur dichter. Sie „lichteten“ sich etwas während der weiteren Planung. Die Bäume bestehen aus vorfabrizierten Betonelementen, die in ihren Umrissen den Buchstaben A, I, V, X und Y entsprechen sollen. Zusammengesetzt wurden die „Bäume“ in situ: Die untersten Elemente, mit herausragenden Armierungseisen versehen, wurden auf die Betonplatte gestellt und durch ein Verbindungselement in diese eingelassen. Anschließend wurde die Betondecke gegossen und mittels der Armierungseisen mit der Außenstruktur zu einer statischen Einheit verschmolzen. Die darüber stehenden Betonelemente wurden wiederum auf die Betonplatten gestellt usw. Die unteren Elemente sind breiter, während sie sich nach oben verjüngen und verdichten. Das abstrahierte Baummotiv verteilt sich über die gesamten vier Fassaden, einzig die Gebäudeecken wurden ausgespart.
Ornament?
Die in sich ähnlichen Elemente führen zu einem stark repetitiven, aber auch unverwechselbaren ornamentalen Ausdruck der Hülle. Der Architekt und Designer Owen Jones schrieb 1856 in seinem bedeutenden Katalogwerk „The Grammar of Ornament“: „Das Geheimnis des Erfolgs in jedem Ornamente liegt darin, einen allgemeinen kühnen Effect durch die Wiederholung einiger einfachen Elemente hervorzubringen, die Mannichfaltigkeit sollte vielmehr in der Anordnung der verschiedenen Theile der Zeichnung gesucht werden, als in der Vervielfältigung verschiedener Formen.“ Jones stellt den durch die Repetition einzelner, einfacher Elemente hervorgerufenen Effekt einem Ornament gleich. Diesem Zitat folgend, könnten der Außenstruktur ornamentale Qualitäten zugeschrieben werden. Zugleich würde aber eine solche Interpretation auch die Frage nach dem Status des Ornaments aufwerfen: Denn bei dem Schulgebäude ruft nicht ein Parergon im Sinne von Kant, sondern die Tragstruktur aus Sichtbeton und somit das Ergon selbst den ornamentalen Effekt hervor.
Alle Nutzungsbereiche des Schulgebäudes sind außen gleich verkleidet. Es ist wohl vor allem aufgrund dieser Einheitlichkeit, dass der zum neuen Schuljahr eröffnete Bau in Drize tatsächlich einen Orientierungspunkt am Herrschaftspark von Carouge zu bilden vermag. Mit ihrem Werk setzen die Architekten nicht nur ein Zeichen in der Genfer Agglomeration, sondern auch in der Landschaft der zeitgenössischen Schulbauten in der Schweiz.
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