Seitenwechsel: Strategien am Rande des Olympiaparks
London 2012
Text: Murphy, Douglas, London; Fawcett, Eleanor, London
Alle Welt schaut auf Olympia. Doch was passiert eigentlich fern der Kameras, um den Olympiapark herum? Wie lässt sich eine Verdrängung der jetzigen Bewohner vermeiden? Unser Autor sprach mit Eleanor Fawcett, die seit 2005 mit Londoner Architekten an der behutsamen Aufwertung des „Olympischen Randes“ arbeitet. Sie hat für die Stadtbauwelt einen Spaziergang zu den besten Projekten rund um den Park zusammengestellt.
Das heutige Erscheinungsbild von Ostlondon entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bomben hatten eine schwer zerstörte Industrielandschaft hinterlassen, die in den folgenden Jahren nur flickenartig und kleinteilig wieder bebaut wurde. Und so findet man heute zu beiden Seiten des Flusses Lea eine einzigartige Bricolage: abgesenkte Schnellstraßen vor wunderschönen Terrassenhäusern aus dem 18. Jahrhundert und Sechziger-Jahre-Wohnblocks an beschaulichen Kanälen im Schatten heruntergekommener Industriehallen.
Wie andernorts auch hat hier der Siegeszug des Containerverkehrs die Hafenanlagen stromabwärts aus der Stadt geschoben und damit das räumliche und soziale Gefüge der klassischen Arbeiterbezirke zerstört. Übrig geblieben sind kilometerlange verlassene Kais und Lagerhäuser entlang der Themse und eine von Armut gezeichnete Gegend. Schlimmer noch, die Bezirke, die als Olympia-Bezirke bezeichnet werden, zählen mit ihren Stadteilen Hackney Wick, Leyton, Stratford und Bromley-by-Bow zu den ärmsten Westeuropas. Allerdings gab es bereits vor dem Olympia-Zuschlag Anzeichen für einen Wandel. Viele Künstler zogen in die leerstehenden Industrieanlagen und brachten Hackney Wick den Ruf ein, hier herrsche die größte Künstlerdichte Europas. Und auch die lange Zeit abgeschottete Zone um das Flusstal wurde allmählich selbst zu einem Gegenstand der Kunst. Manche Autoren haben sie als vergessene Landschaft romantisiert, Iain Sinclair hat sie in seinem Bestseller „Ghost Milk“ einem breiten Publikum nahegebracht.
Etwas vom Kuchen abbekommen
Seit der Ankündigung der Spiele sehen sich die an den Olympiapark grenzenden Gebiete neuen Herausforderungen gegenüber. Einerseits stand für die Organisatoren des Großevents von Anfang an fest, dass die von Armut gezeichneten Bezirke eine einmalige Gelegenheit für Investitionen bekämen. Andererseits versetzen das enorme Entwicklungstempo und die finanzielle Kraft der Olympischen Spiele, aber auch die verschiedenen Interessengruppen die Randzonen in eine Art Schwebezustand.
Die Olympic Delivery Authority (ODA), die die Wettkampfstätten und den Park entwickelte und baute, und das Organisationskomitee der Olympischen und Paralympischen Spiele (LOCOG) werden nach den Spielen abgewickelt. Dann wird die London Legacy Development Corporation (LLDC) Eigentümerin des Olympiageländes und übernimmt die Planungshoheit auch für die Randbereiche – als Planer, Auftraggeber und Steuerungsinstanz der angeschobenen Entwicklungen, die in den kommenden 30 Jahren 70.000 neue Bewohner in die olympischen Randgebiete bringen sollen. Es liegt dann ganz wesentlich an der LLDC, ob der Olympiapark und seine Umgebung zu einem funktionierenden Stück Stadt auch für kommende Generationen wird.
„Gäbe es die Olympischen Spiele nicht, wäre vieles nahezu unmöglich“, sagt Eleanor Fawcett, Leiterin der Entwurfsabteilung des LLDC. „Nie wieder werden wir derartige Budgets zur Verfügung haben“. Sie und ihr kleines Team arbeiten in einem neuen Bürogebäude in Stratford. Von dort schauen sie auf das Stadion, die seltsamen Verrenkungen des „ArcelorMittal Orbit Turms“ und die mediokren Wohnblocks, die in den letzten Jahren in Stratford entstanden sind. Dieser Blick ist zugleich eine Übersicht über die Schwierigkeiten, mit denen die LLDC zu kämpfen hat. Sie möchte Positives bewirken, während viele Projektentwickler in Goldgräberstimmung kaum bereit sind, Rücksicht auf anderes als den schnellen Profit zu nehmen. So zum Beispiel Westfield, das gigantische neue Einkaufszentrum in Stratford, das wie kein anderes Projekt für die Gleichgültigkeit gegenüber den „Legacy-Plänen“ steht, jenen Plänen, die die Zeit nach Olympia im Fokus haben.
Koordinieren, verknüpfen und zusammenfügen
Die LLDC hat drei Quartiere ausgesucht, die zu lebendigen Stadtteilzentren entwickelt werden sollen. In Hackney Wick, Bromley-by-Bow und West Ham liegt der Schwerpunkt auf der Vielfalt an Geschäften und einem Straßenleben, das typisch ist für die kleinen Nachbarschaften in London. In Bromley-by-Bow zum Beispiel hat die Supermarktkette Tesco ihre Filiale umgebaut und modernisiert. Eleanor Fawcett und ihr Team nahmen Kontakt zur nahe liegenden Grundschule und der „Idea store“-Bibliothek auf, integrierten den Supermarkt in die Umgebung und stellten Verbindungen zum Olympiapark her.
Es ist vor allem eine koordinierende Rolle, die der LLDC in den nächsten Jahren zukommt. Sie wird Investoren und Entwickler dabei unterstützen müssen, ihre Vorhaben in ein größeres Planwerk einzuarbeiten, als dessen Teil sie sich bisher nicht gesehen haben.
Die zweite große Aufgabe der LLDC ist es, das Gebiet durch neue Verkehrsverbindungen mit der Innenstadt und anderen Teilen Londons zu verknüpfen. Dies ist vielleicht eines der leichteren Unterfangen, verfügt das Gebiet doch bereits über eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur, deren U-Bahn-, Bus- und Zugverbindungen in Stratford zusammenlaufen, und künftig auch noch um einen internationalen Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge ergänzt werden.
Neben den großformatigen Aufgaben geht es schließlich um das Zusammenfügen der vereinzelten Grünräume in der Nähe der Wasserstraßen. Ziel ist ein durchgängiger, 30 Kilometer langer Park entlang des Lea, eine Vorstellung, die bereits in Patrick Abercrombies Plan für das Nachkriegs-London 1944 enthalten war. Und es gibt noch unzählige kleine, in den Gebieten verstreute Projekte – schlichte Beschilderungen und Grünanlagen, aber auch neue Wohnquartiere und öffentliche Plätze.
Von Barcelona, München und den Docklands lernen
Was die Bemühungen der LLDC nicht gerade unterstützt, ist die stetige Betonung des Schmuddelimages der Gegend seitens derer, die über die Olympischen Spiele sprechen. „Es war immer die gleiche Leier. Dieser Ort sei eine Müllkippe und gefährlich, ein schauderhafter Teil von Ostlondon, und die Spiele kämen, um ihn zu verändern“, so Eleanor Fawcett. Konsequenterweise richtet sich ein großer Teil der „Rand-Strategie“ darauf, die unkonventionelle Schönheit der post-industriellen Stadtlandschaft zu akzentuieren. Als Beispiel hierfür sei das intelligente Vorgehen von muf architecture/art in Hackney Wick angeführt, die mit Diskussionen und Veranstaltungen versucht haben, die alteingesessenen Bewohner aus der Arbeiterklasse, die Hippen und Kreativen und die zugezogenen Wohnungseigentümer miteinander bekannt zu machen und gleichermaßen für ihr Quartier zu begeistern.
„Die Art, wie man mit den Rändern umgeht, entscheidet über den langfristigen Erfolg der neuen Gebiete am Olympiapark“, sagt Eleanor Fawcett. Ihre größte Aufgabe sieht sie darin, die neu entwickelten Bereiche mit den umliegenden Stadtteilen zu verknüpfen. Vergleichbare Projekte gibt es viele, nicht nur in ehemaligen Olympiastädten, sondern auch in London selbst. Barcelona wird angeführt, wenn man vom Gewinn spricht, den die Olympischen Spiele einer Stadt bringen können. Die LLDC richtete ihr Augenmerk gezielt auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes, der Schwerpunkt, den Barcelona für sich bei den Olympiaplanungen gewählt hatte. Auch der grüne Futurismus des Münchner Olympiaparks von 1972 gilt als Vorbild. Ein negatives Beispiel in Sichtweite des Olympiaparks ist das zehn Kilometer entfernt liegende Finanzviertel Canary Wharf, das unter der Leitung der London Docklands Development Corporation (LDDC) in den achtziger Jahren entstand. Die damals neuartige Struktur der LDDC – beschränkte finanzielle Mittel, aber starke Planungsvollmachten – erlaubte die komplette Neugestaltung des aufgelassenen Hafengeländes, sie ist der Struktur der LLDC sehr ähnliche Heute stehen die Entwickler der Docklands allerdings heftig in der Kritik, weil sie eine Insel in der Stadt geschaffen haben, an deren Rändern die Bürotürme und Luxuswohnungen der Finanzdienstleister unmittelbar auf die harte Armut der Nachbarviertel prallen. Genau das versucht die LLDC in den Olympia-Randgebieten zu vermeiden.
Grenzen der Einflussnahme
Dabei hat die LLDC keine schlechte Ausgangsposition, auch weil Eleanor Fawcett und andere Mitarbeiter seit 2005 mit dem Gebiet beschäftigt sind. In ihrer früheren Arbeit bei Design for London, der Architektur- und Städtebauabteilung des Bürgermeisters, haben sie seit 2005 Projekte in den olympischen Randgebieten koordiniert. Sie konnten Musterbeispiele wie die Sportanlagen auf den Hackney Marshes von Stanton Williams oder das White Building in Hackney Wick, ein saniertes Druckhaus mit Ausstellungsräumen, Cafés und Außenanlagen für die Künstlergemeinde des Quartiers realisieren.
Als Teil der Londoner Stadtverwaltung, die dem Bürgermeister untersteht, kann die LLDC sich derzeit der politischen Unterstützung sicher sein, nicht nur für die Umsetzung der bereits beschlossenen, sondern auch für weitere Pläne. Allerdings gibt es auch Bereiche, die sich ihrer Einflussnahme völlig entziehen. So platzt Olympia mitten hinein in die Krise des Wohnungsmarktes. Rasant steigende Mieten, die durch Einschnitte bei den Sozialleistungen in ihrer Wirkung noch verschärft werden, lassen immer wieder Horrorgeschichten in den Medien auftauchen, die von einer Vertreibung der alteingesessenen Bevölkerung berichten, die mit einem auf „Schnellvorlauf“ geschalteten Prozess der „Banlieuefication“ von Paris vergleichbar ist.
Man kann der Stadt nur die besten Absichten bescheinigen. Sollte sich die Wohnungskrise allerdings weiter zuspitzen, könnte die Arbeit der LLDC und Design for London umsonst gewesen sein, weil die Nachbarschaften, für die sie planen, langfristig aus ihren Quartieren vertrieben würden. Dann bliebe ein post-industrieller Themenpark für Besserverdienende. Doch Eleanor Fawcett vertraut darauf, dass die LLDC die Entwicklung in eine sozialverträglichere Richtung lenken kann und dass ihre Arbeit zeigt, wie Stadtumbau in einem solchen Maßstab möglich ist.
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