Bauwelt

St.-Marien-Kirche


Urlaubskirche am Wattenmeer


Text: Seifert, Jörg, Hamburg


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Eigentlich ist die katholische Gemeinde der St.-Marien-Kirche in Schillig zahlenmäßig viel zu klein, als dass ihre sanierungsbedürftige Kirche einen Neubau gerechtfertigt hätte. Die vielen Urlauber in dem beliebten Nordseebad waren indes Grund genug für die Entscheidung. Bei ihrem Entwurf haben sich Königs Architekten aus Köln vom Meer inspirieren lassen.
„Was früher der Sonntag war, ist heute der Urlaub.“ Mit diesen Worten verweist Pfarrer Lars Bratke auf den Entstehungskontext der neuen St.-Marien-Kirche in Schillig. Der kleine Ort an der Nordseeküste ist Teil der Gemeinde Wangerland, 25 Kilometer nördlich von Wilhelmshaven. Auf einem Gebiet von gut 170 Quadratkilometern leben hier nur etwa 800 Katholiken, die Mehrzahl der Einwohner ist evangelisch. Die katholische Gemeinde entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Ansiedlung von oberschlesischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Zusammen mit dem Ort Horumersiel ist Schillig als Nordseebad weithin bekannt und beliebt, mit circa einer Million Übernachtungen jedes Jahr. Daher gilt die Arbeit von Pfarrer Bratke von April bis Oktober vor allem der Touristenseelsorge: Familiengottesdienste, Lesungen, Andachten, Konzerte, Gesprächsangebote, aber auch Wattwanderungen und Prozessionen gehören dazu. Diese Vielfalt saisonaler Aktivitäten ist der Hauptgrund, warum die kleine katholische Gemeinde in Schillig einen Neubau erhielt – während andernorts Profanierung, Umnutzung oder auch Abriss von Kirchen zunehmend auf der Tagesordnung stehen.

Meeresbewohner

Gleichwohl handelt es sich bei St. Marien um einen Ersatzneubau. Nach einem ersten Provisorium im Lokschuppen der 1949 stillgelegten Marinebahn befand sich am Ort der heutigen Kirche von 1967 bis 2010 der Vorgängerbau: ein weißer Kubus mit wuchtig auskragendem Flachdach. Nicht zuletzt aufgrund des rauen Nordseeklimas hatten sich über die Jahre massive Bauschäden summiert. Defekte Leimbinder, eine poröse Kalksandsteinfassade und frei liegende Asbestplatten hätten eine 1,6 Millionen Euro teure Totalsanierung erfordert, bei der lediglich Bodenplatte und Stützen erhalten geblieben wären. So lobte der Bauherr Ende 2008 ein Gutachterverfahren aus, zu dem fünf Teilnehmer eingeladen waren. Wesentliches Auswahlkriterium war einschlägige Erfahrung im Kirchenneu- oder -umbau. Der Entwurf von Königs Architekten ging als Sieger hervor, weil er am eindrücklichsten auf das vorgegebene Thema „Kirche am Meer“ einging und zahlreiche bildhafte Vergleiche zuließ. Der im Februar geweihte Bau spielt auf die im Sakralbau ja nicht untypische Schiffsthematik an, ist aber auch offen für metaphorische Deutungen als Meeresbewohner, gerundetes Strandgut oder Wellenlandschaft.
Im Grundriss ergibt sich aus der Überlagerung von Kreuz und Kreis eine fließende, annähernd spiegelsymmetrische Fi­gur. Die abgerundete Kreuzform ist in einen eingeschossigen, flachen Quader von 21 auf 30 Metern eingeschrieben, der die Nebenräume beherbergt und in Teilbereichen auch außen die geschwungene Linienführung aufnimmt. Aus diesem Sockel wächst das innere, organische Volumen gleichsam heraus. Seinen oberen Abschluss findet es in einer einseitig gekrümmten Dachfläche. Diese steigt im südöstlich gelegenen Altarbereich bis auf 13 Meter an, während sie auf der gegenüberliegenden Seite nahtlos in den 20 Meter hohen Glockenturm übergeht. Die so entstandene Gesamtform ist in ihrer Skulpturalität nicht nur für eine Kirche angemessen, sie schafft zudem den Spagat zwischen seeseitiger Präsenz über den Deich hinweg und städtebaulicher Angemessenheit in der rückwärtigen Straßenzeile. Mit der organischen Linienführung im Grundriss und der konkav gewölbten Dachhaut mag St. Marien in Schillig mehr oder weniger deutlich an Kirchenentwürfe der 1950er und 1960er Jahre erinnern – etwa an St. Pius in Neuss von Joachim und Margot Schürmann oder an Piet Zanstras „Ark“ in Amsterdam, in Teilen vielleicht an Carsten Schröcks Auferstehungskirche in Bremen-Hastedt, entfernt auch an Hans Schillings Neu-St.-Alban in Köln. Und doch kommt der ganz in dunklem Backstein gehaltene Neubau zeitgemäß daher. Die monolithische Freiform weiß für sich selbst zu sprechen, und auch die Raumwirkung, die sich im Inneren entfaltet, ist eine ganz eigene – maßgeblich geprägt von einer feinsinnigen Lichtführung.

Schattenspiel

Der helle, introvertierte Raum erhält sein Licht von oben: Die geschwungene, 250 Quadratmeter große Dachfläche ist komplett als Lichtdecke ausgebildet. Gefiltert wird das eindringende Tageslicht durch einzelne farbige Glaselemente und die quer liegenden Dachträger, die sich zur Raummitte hin unterschiedlich stark verjüngen. Die Sequenz aus Schlaglichtern und Schlagschatten ergibt ein unregelmäßiges, sanft gebauchtes Streifenmuster, das sich beim Auftreffen auf die gekurvten Wandflächen zur eindrücklichen Wellenlandschaft verformt. Die thematisch motivierte Tageslichtlenkung unterstützt somit ein intuitives, nur vages Erfassen der Raumgeometrie. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, als würde man sich unterhalb der Wellen – der Wasseroberfläche – befinden.
Durch die Nordwest-Südost-Ausrichtung der Hauptachsen trifft das Licht während des vormittäglichen Gottesdienstes im flachen Winkel auf den vorderen Bereich der gewölbten gläsernen Dachhaut. Es wird hier durch die Flanken der Dachträger ins Schiff reflektiert und ist somit weicher und diffuser, während es im hinteren, steiler aufragenden Teil direkten Einlass findet und im Bereich der Orgel harte Schlagschatten wirft. Im Idealfall wird der Gottesdienstbesucher von folgender Licht-Dramaturgie geleitet: dunkler Baukörper im freien Sonnenlicht, gedämpftes seitliches Licht im gedeckten Foyer, hartes Licht von oben im hinteren, höher gelegenen Teil des Kirchenschiffs und schließlich ein zunehmend weicheres Licht nach vorn, hin zum Altarbereich. Die Stimmung variiert je nach Tageszeit und Wetterverhältnissen und lässt sich zusätzlich durch verschiedene Kunstlichtakzente beeinflussen. Das Lichtkonzept stammt von der Lichtplanerin Anette Hartung. Die Wirkungen von Tages- und Kunstlicht wurden vorab an einem vier Meter großen 1:1-Ausschnittmodell erprobt.

Wilder Verband

Die Kirche ist als zweischalige Konstruktion mit tragender Betonwand, Zwischendämmung und äußerer Klinkerschicht ausgeführt. Mit dem Backstein sollte zum einen der Bezug zum regionalen Bauen hergestellt, mit seiner Behandlung aber auch die Distanzierung vom Alltäglich-Profanen unterstrichen werden. Gewählt wurde ein dunkler Ziegel im Oldenburger Format. Seine Farbigkeit, die von Bleigrau-Anthrazit über Blaugrün- und Bronzetöne bis zum satten Schwarz changiert, erhält er durch ein spezielles Verfahren, das sogenannte Dämpfen. Dabei wird der fertige Klinker ein zweites Mal einem Brand unter Sauerstoffabschluss unterzogen. Verlegt wurde der Stein im Wilden Verband, wodurch das Mauerwerk sehr flächig erscheint. Bis auf eine Höhe von 17,5 Meter wurde er als vorgehängte Schale aufgemauert, die Turmspitze wurde als Fertigbetonteil mit bereits in die Schalung eingelegten Klinkern ausgeführt. Fritz Höger (1877–1949), Architekt des Rathauses in Wilhelmshaven, hätte dies aus Gründen der Materialgerechtigkeit vielleicht abgelehnt. Bei St. Marien ist die Abwägung zugunsten der Homogenität aber durchaus nachvollziehbar, zumal der Bau, gemäß dem gesetzten Thema Kirche am Meer, in seiner Anmutung eine fließende Form präsentiert.

Bilbao in Friesland?

Bleibt die Frage, welche Auswirkung  der Neubau auf den Ort und die Region insgesamt haben wird. Wolfgang Isenberg, Direktor der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg, die 2011 eine Studie zum Thema „Religion und Tourismus“ durchgeführt hat, sieht Potenziale, dass die „Kirche am Meer“ wie Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel zum „bundesweiten Magneten“ werden könnte. So viel dürfte jedoch klar sein, der Kirchenneubau wird keinen Bilbao-Effekt in Friesland generieren, wenngleich in dieser schrumpfenden Region mancher Lokalpolitiker darauf hoffen mag. Und doch ist gerade die touristische Dimension eine wesentliche Voraussetzung für eine lebendige, dauerhafte Aneignung von St. Marien.



Fakten
Architekten Königs Architekten, Köln
Adresse Schillig 26434 Wangerland


aus Bauwelt 26.2012
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