Stadtbibliothek
Der Bücherberg
Text: Tilman, Harm, Rotterdam
Die rasch gewachsene Stadt vor den Toren Rotterdams hat eine der niedrigsten Analphabetenraten in den Niederlanden. MVRDV haben eine bildhafte Stadtbibliothek konzipiert, die als erweiterter öffentlicher Raum fungiert und zum Lesen anregen will.
Seit der Verbreitung des Internets befindet sich die Bibliothek – als eine Institution des 19. Jahrhunderts – in schwierigem Fahrwasser. Online-Enzyklopädien und -Archive, Suchmaschinen und nicht zuletzt das E-Book stellen sie in Frage; Social Media als informelle Wissensspeicher unterminieren ihre Existenzberechtigung. Dieser „Angriff“ auf die Bibliothek hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können, führt doch das Primat der Ökonomie gerade jetzt zu Budgetkürzungen bei öffentlichen Einrichtungen. In Den Haag beispielsweise geht der geplante Bau des umstrittenen Kulturpalastes im Stadtzentrum einher mit der Schließung von Stadtteilbibliotheken in weniger privilegierten Quartieren.
Auf das drohende Verschwinden dieser ehrwürdigen Institution wurde in der Vergangenheit ganz unterschiedlich reagiert. Etliche Bibliotheken gingen in die Knie und ersetzten Bücherregale durch Computerecken und Erlebnisinseln. Dabei greift man für die Inszenierung des Buches auf Entwurfsprinzipien zurück, die auch für Warenhäuser und Supermärkte gelten. In anderen Fällen wird das Buch monumentalisiert. Dominique Perraults gläserne Büchertürme der Nationalbibliothek in Paris sind dafür noch immer das eindrucksvollste Beispiel.
In Spijkenisse realisierte das Architekturbüro MVRDV eine Bibliothek in Form eines Bücherberges; ein scheinbar endloser Bücherstapel unter einer gläsernen Pyramide. Spijkenisse ist eine relativ junge Stadt mit rund 70.000 Einwohnern. Einst ein agrarisch geprägtes Dorf, verdankt sie ihr Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg der Verlegung des Rotterdamer Hafens nach Westen. 1976 wurde Spijkenisse – gleichzeitig mit Nieuwegein (bei Utrecht) und Zoetermeer (bei Den Haag) – zur New Town erklärt, um den Druck auf das nahe gelegene Rotterdam zu entschärfen. Im Rahmen der damaligen staatlichen Urbanisierungspolitik wurde zwischen den beiden Städten auch eine Metroverbindung angelegt, zudem erhielt Spijkenisse eine Vielzahl großstädtischer Einrichtungen – heute Zeugnisse des großen Glaubens an eine „planbare Gesellschaft“.
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts kam in den niederländischen Städten eine spielerische Form der Ökonomie auf, die in der Authentizität ein höheres Gut sieht als im Wohlstand. Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass im Zentrum von Spijkenisse mit einer Bibliothek experimentiert wurde, die als „Werbung für das Lesen“ (MVRDV) errichtet wurde. Der Bau soll die Bevölkerung wieder zum Lesen bringen und somit das leisten, was der traditionellen Bibliothek offenbar nicht mehr gelingt. In der neuen Bibliothek sind über 70.000 Bücher zu einer spiralförmig aufsteigenden Bücherlandschaft gestapelt. Um die Dimension des Gebäudes hervorzuheben, wurde es direkt neben ein niedriges, ebenfalls neu errichtetes Stadtviertel platziert, welches mit seinen Satteldächern einem ähnlichen Stil folgt. Mit dem Bau der Bibliothek soll vor allem das nahe Stadtzentrum gestärkt werden. Deshalb sind im Gebäudesockel auch Flächen für kommerzielle Nutzungen vorgesehen. Auf diesem Sockel sind ein Denksportzentrum, ein Lesecafé, ein Umweltzentrum, Geschäfte sowie sämtliche Einrichtungen der Bibliothek gestapelt: die Tresen der Ausleihe, ein Auditorium, die Sitzungsräume und die Büros der Verwaltung. Die Tresen für die Bücherausgabe befinden sich auf der ersten Ebene in den Eckpunkten. Wegen der konzentrischen Organisation des Gebäudes haben die Mitarbeiter von hier nur eine eingeschränkte Sicht auf das, was sich auf dem Berg abspielt. Sie sind, wie auch die Besucher, eher auf die Außenwelt orientiert. Und weil die Bücher ebenfalls an den Außenseiten stehen, legt das Personal Tag für Tag so manchen Kilometer beim Einräumen der Bücher zurück.
Die Bücherplateaus sind mit breiten, flach ansteigenden Treppen verbunden. Die Regale folgen weitgehend den Wänden, hinter denen sich die Büros befinden. Um diese mit Tageslicht zu versorgen, erhielten die Bücherregale hier und da Aussparungen. An einigen Stellen stülpen sie sich nach innen und bilden so eine Ruhezone oder ein Zimmer aus, aber auch die Kantine; an keiner Stelle jedoch kann man das Gebäude in seiner Kernzone durchqueren. Da die Architekten nicht zwischen Lese- und Erschließungsbereichen unterscheiden, kommt es fortlaufend zu Begegnungen zwischen jenen, die blätternd vor einem Regal stehen und denen, die auf den „Berg“ steigen. Bis zur dritten Ebene können die Besucher den Gebäudekern umrunden. Auf der vierten Ebene führt eine Route über den dort gelegenen Lesesaal und dann eine Treppe hinauf zu einem bescheidenen Raum auf der fünften Etage. Die zuvor geweckte Erwartung, dort einen besonderen Höhepunkt des Gebäudes vorzufinden, wird leider nicht eingelöst.
Die gläserne Überdachung wird von Holzbindern getragen, die die Atmosphäre im Inneren prägen. Die Dimensionen des Hauses sind enorm, in der Grundfläche misst es 34 auf 47 Meter, in die Höhe ragt es 26 Meter. Die Konstruktion besteht aus 116 Dreigelenkrahmen; um eine ausreichende Tragfähigkeit und Steifheit des Daches zu erreichen, haben die Holzbinder ein relativ enges Achsmaß von 1,35 Metern. Dank des einheitlichen Querschnitts von 20 x 100 Zentimetern entsteht ein gleichmäßiges architektonisches Bild. Das Rückgrat des Daches bildet ein Firstbalken von 20 x 140 Zentimetern. Das Interieur strahlt eine große Ruhe aus, die Bücher sollen wirken. Aus diesem Grund wurden Leitungen und Bedienelemente möglichst in die Bauteile integriert. Die Bibliothek kommt ohne Klimaanlage aus. Frischluft wird durch Gitterroste knapp über dem Boden zugeführt, die Luftabfuhr erfolgt über Klappfenster im Dach. Mittels Wärmepumpen wird Erdwärme genutzt, die Betonkernaktivierung dient zur Erwärmung wie zur Kühlung des Gebäudes. Eine im First untergebrachte Wetterstation steuert automatisch den Sonnenschutz, das Regenwasser wird im Keller gesammelt und als Grauwasser wiederverwendet.
Der Bücherberg ist ein fantastisches Gebäude, aber erfüllt er auch die Erwartungen an eine Bibliothek? Oberhalb einer Höhe von 1,80 Meter sind auf Vorschlag der Architekten aussortierte Bücher platziert, was den imaginären Charakter dieser Bibliothek verstärkt. Darüber hinaus ist der Bücherberg aber vor allem ein Treffpunkt der Facebook-Generation. In einer Zeit, in der soziale Kommunikation für eine stets größer werdende Gruppe über virtuelle Netzwerke verläuft, ist es wichtig, genau dafür einen realen Ausdruck zu finden. Eben dies vollbringt der Bücherberg, und das macht seine Bedeutung aus.
Aus dem Niederländischen von Ingrid Ostermann
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