Stadtbücherei
Überanstrengung der Architektur?
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Die neue Stadtbücherei von Bolles + Wilson im niederländischen Helmond rettet eine Ikone der 70er-Jahre-Moderne und gerät selbst in den Zangengriff eines weit in die Zukunft reichenden Masterplans.
Auf einen verblüffenden Zusammenstoß unterschiedlicher architektonischer Denkstile können sich die Besucher der niederländischen Kleinstadt Helmond seit kurzem gefasst machen: Eines der originellsten Bauensembles der 70er-Jahre-Moderne, wiederentdeckt und mit einigem Respekt 2001 bis 2003 saniert, trifft auf eine neue Bibliothek, die sich die Stadt 2011 geleistet hat, um ihr fragmentiertes Stadtzentrum zu vitalisieren. Der Entwurf der neuen Bibliothek stammt aus der Hand von Peter Wilson und Julia Bolles-Wilson aus Münster. Den beiden Architekten war es 1993 mit ihrer dortigen Bibliothek gelungen, die vergessenen Schichten der deutschen Moderne unter dem historistisch-postmodernen Ballast der 80er Jahre hervorzuziehen und ihr neue, elegante Grundlinien einzuschreiben – sie realisierten einen Bau (Heft 4.94), der das Erbe Scharouns wiederbelebte und bis heute als eine der bestfunktionierensten Bibliotheken Deutschlands gilt.
Bei der niederländischen Ikone handelt es sich um Piet Bloms Baumhäuser (1975–78), jene auf den Kopf gestellte Wohnwürfel, deren Entwurfsprinzipien – Ablösung vom Bo- den, schräge Wände und frei eingezogene Bodenbereiche – sich heute, zumindest von der Tendenz her, in den neuesten Bauten Toyo Itos wiederfinden lassen und dessen wuchernden Stadtvisionen einige Ähnlichkeiten aufweisen mit den zeitgenössischen Euphorien parametrischen Stadtentwerfens.
Anders als in Rotterdam, wo die Würfelhäuser von Piet Blom eine touristische Attraktion geworden sind, sind die zuerst realisierten Helmonder Bauten (Heft 37.74) kaum bekannt. Dabei hat Helmond zu den 18 Baumhäusern auch noch ein von Blom entworfenes Theater zu bieten, eine der verrücktesten Raumschöpfungen die man sich vorstellen kann. Mit einem festen Dach, das durch die rot-weißen Streifenbänder von Har Sanders zu einem Zirkuszelt camoufliert, hat sich der nomadische Denker Piet Blom auch in einem öffentlichen Bau ein vibrierendes Denkmal gesetzt hat. Allerdings sind die städtebaulichen Schwächen des aus zwei sechseckigen Ringen bestehendes Ensembles eklatant: Als Teil des Zentrums von Helmond ist die ruppige Großform der Baumhäuser städtebaulich wenig konziliant, und die öffentliche Wegeführung ist so verzettelt, dass man sie als solche gar nicht bezeichnen mag.
An einem kalten Februarmorgen fahre ich mit Peter Wilson von Münster nach Helmond, wo wir später mit dem Filmteam der Deutschen Welle zusammentreffen. Die Stadt Helmond hat in den letzten Jahren viel probiert, um eine Balance zwischen Historie und künftiger Entwicklung zu gewährleisten. Nach dem strukturalistischen Heißsporn Piet Blom stürzt sie sich seit 15 Jahren auf die Ideen des neuen niederländischen Traditionalismus. Adolfo Natalini baute rund um den Boscotondoplein ein riesiges kulissenhaftes Ensemble mit Bürobauten, Kulturzentrum und Kinocenter, Rob Krier hinterließ in Helmond-Brandevoort eine ganze Vorstadt mit Wassergräben, Toren und Türmen und Sjoerd Soeters realisierte jüngst eine Art Klein-Amsterdam – Trutzburgen architektonischer Selbstbehauptung, mit der man sich gegen die Auswüchse der Globalisierung absichert.
Planung mit traditonalistischen Vorzeichen
Später am Nachmittag sitze ich in einem der großen Verhandlungszimmer des Helmonder Planungsamts. Edwin Persaud, verantwortlicher Senior Project Manager, breitet Blatt um Blatt des Masterplans von Joan Busquets für das Zentrumsareal rund um die neue Bibliothek vor mir aus. Der aus Barcelona stammende Planer, mit einer Professur in Havard ausgestattet, ist in den Niederlanden in mehreren Städten gut im Geschäft. Edwin Persaud beschreibt den produktiven Gestaltungsspielraum, den gerade Helmond Planern zu bieten hat. „Deswegen arbeite ich selbst gern hier“. Tatsache ist, dass die Stadt seit acht Jahren alle Grundstücke im Umkreis der neuen Bibliothek gekauft hat, um diesen wichtigen Teil der Innenstandt von Grund auf neu zu konzipieren. Der Auftrag für die Bibliothek an Bolles + Wilson erging nach einem Wettbewerbsgewinn 2006. Während die Münsteraner Stadtbücherei deutliche Züge der Aufbruchsstimmung von 1989 zeigt und überaus komplex mit der Stadt verwoben ist, ist die Bibliothek in Helmond kleiner und auch in den Mitteln bescheidener. Im Zentrum der Bibliothek im ersten Oberschoss schaffen kraftvoll rote Wände einen architektonischen Mittelpunkt, der mit architektonischen Mitteln allein nicht einzulösen wäre. Die Farbe zieht an. Auch die Fernsehmacher der Deutschen Welle bitten den Architekten kurz darauf zum Interview auf die rote Insel.
Mit den Plänen des Spaniers Joan Busquets in der Hand umrunde ich kurz darauf die neue Bücherei. Wie sieht die Gestaltungsfreiheit aus, von der Edwin Persaud spricht? Im Nutzungsplan sind rund um die Bibliothek überall rosa Flächen verzeichnet (Seite 19). Wie die Baumhäuser wird die Bibliothek künftig von allen Seiten eingefasst sein. Rosa Fläche heißt Einkaufen. Diese Flächen sind, soweit sich das beurteilen lässt, überdimensioniert, in jedem Fall auf jahrzehntelangen Zuwachs konzipiert (30.000 mµ). Nurmehr der Kantenverlauf der künftigen Großformen zeigt, wie Busquets eine kleinmaßstäbliche Wegeführung als Zeichen der traditionellen europäischen Stadt dazwischenzwängen will. Wo heute noch dreigeschossige Wohnbauten und eine abgeknickte Straßenführung zu sehen sind, wird in einigen Jahren alles zu einer riesigen Einkaufsfläche zusammenfließen. Die Bibliothek und die Baumhäuser werden darin eingeschmolzen wie die Kupferpfennige in einem Neujahrskuchen.
Heroische Architektur
Die Architektur tut alles, was sie kann. Bolles + Wilson weisen nach, dass das Nebeneinander von Shopping und Bibliothek im architektonischen Maßstab möglich ist. Wie sie die Räume in drei Dimensionen öffnen, von hinten nach vorne durch das Gebäude ziehen, mit großen Lampen ausstatten und das trotz minimaler Budgets, ist brillant. Vor allem: Es ist auch schön. Dass es nicht einfach war, beweisen Details, für die dirty detailing der passende Ausdruck ist. Peter Wilson hat sich in einem dicken grauen Cordanzug gegen die Skepsis gewappnet und verweist auf die „poetische Kraft der Architektur“. Die horizontale Fassadengliederung mit unterschiedlichen Ziegeln, die die Funktionsräume der Bibliothek markieren, die auf Erich Mendelsohns Kaufhaus Schocken verweisenden „Ohren“ mit dem Schriftzug Bibliothek, die dem Bau Anfang und Ende geben, die gezielt gesetzten großen Ausblicke: All das ist raffiniert umgesetzt. Es ist Teil einer reaktiven Strategie von Bolles + Wilson, mit gezielten Eingriffen dem in seiner Entwicklung nicht mehr fassbaren Stadtraum mit einer Reihe von architektonischen Gegenwarts-Geschichten provisorischen Halt zu geben. Joan Busquets ließ die Bibliothek im Norden mit einer Brandwand versehen, damit gleich weitergebaut werden kann. Von ihm stammt auch der Knick in der Fassade, der städtebaulich deutlich machen soll, dass es sich um ein öffentliches Gebäude handelt. Busquets Plan gehorcht der neoliberalen Planung – rudimentäre Figuren der traditionellen Stadt werden mit den völlig flexiblen Anforderungen ausgedehnter Shopping-Flächen zusammengebracht. Piet Blom, die Ikone des Strukturalismus, hat da keinen Platz. Städtebaulich wird er ganz verschwinden. Die Baumhäuser werden zurückgestutzt auf zwei, drei Postkartenblicke, die es aus den engen Gassen auf das architektonische Kuriosum künftig noch geben wird.
Peter Wilson ist zu sehr Realist, als dass er sich von dieser Planung distanzieren würde. Er hat mit seiner Bibliothek ein kraftvolles Vis-avis zu den Blom-Bauten entstehen lassen. Die Strategie des Schnittes hat sich bewährt: Die lange Fensterbänder mit den davor aufgefädelten Leseplätzen lassen die Nutzer auf ein lebendiges Gegenüber schauen. Das muss als Fix- und Haltepunkt der künftigen Entwicklung genügen.
Das Helmonder Ensemble ist ein Lehrbeispiel für die aktuelle Entwicklung in vielen mittelgroßen Städten. Mehr tun, als für den Bau der neuen Bibliothek einstehen, kann die Stadt wohl nicht. Diese Chance wurde genutzt. Bolles + Wilsons Bibliothek hat den hermetischen Gestus der Baumhäuser aufgebrochen und sie zurückgeholt in die Gegenwart. Aber die weitere städtebauliche Entwicklung gleicht einer Wette auf die Zukunft. Peter Wilson sagt: „Shopping Malls sind eben der einzig verbliebene Motor der Stadtentwicklung“. Zum Schluss des Besuchs noch eine überraschende Nachricht: Von den beiden für den neuen Innenstadtbereich anvisierten Developern hat sich die Stadt inzwischen getrennt. Man sucht nach neuen Partnern. Der Busquets-Plan bleibt weiter gültig.
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