Terrassenhaus
Der Wohnberg von Simmering
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Eine Brache im XI. Wiener Bezirk war Gegenstand im Europan6-Wettbewerb 2001. Popelka Poduschka gewannen damals mit einem ungewöhnlichen Terrassenhaus, das unterschiedlichste Nutzungen zusammenführte. 13 Jahre später ist die Idee Wirklichkeit geworden – ohne große Abstriche, aber mit kleineren Änderungen
Von der Ecke Simmeringer Hauptstraße/Fickeysstraße aus ist die Dimension dieser Wohnanlage kaum zu ahnen – der Neungeschosser, den das Wiener Architekturbüro PPAG mit langem Atem im XI. Wiener Bezirk realisiert hat, fällt im Stadtbild eher aufgrund seiner mehrfach geknickten Fassade mit ihren metallenen Brüstungsbändern auf als durch maßstabssprengende Größe. Wie groß, ja riesig, dieses Haus tatsächlich ist, erschließt sich erst, nachdem man es betreten hat: Ein Wohnberg, nein, ein ganzes Gebirge türmt sich dann auf; ein dicht besiedeltes Gebirge samt haustiefen Tälern und dämmerigen Stollen, mit überraschenden Aussichtsplattformen und wild romantischen Brücken, die über steile Schluchten führen. Was für ein Projekt! Knapp 20.000 Quadratmeter Nutzfläche wurden hier für gerade einmal 28 Millionen Euro realisiert. Sie verteilen sich auf rund 230 geförderte Wohnungen – von winzig kleinen, die kurzzeitigen Bedarf überbrücken helfen, bis hin zu hausartig zweigeschossigen, die Wohnen und Arbeiten zusammenführen –, über unterschiedliche Gemeinschaftsräume auf allen Geschossen bis hin zu einem Kindergarten mit Raum für sechs Gruppen. Konzeptionell wie gestalterisch ist dabei ein großes Ganzes entstanden, obwohl sich der „Berg“ streng genommen aus zwei Häusern zusammensetzt, die auch von zwei verschiedenen Bauherren errichtet worden sind – wer aufpasst, bemerkt die Trennfuge im Inneren. Ein Projekt, das an die Wohnanlagen des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit anknüpft und gleichzeitig neue Möglichkeiten des urbanen Entwerfens reflektieren will, ist nicht anders denn als ehrgeizig zu bezeichnen. Wer gewöhnt ist an die typologische Phantasie- und baupolitische Mutlosigkeit, an die ganz aufs Private fixierte Anleger-Krämerei des frei finanzierten Wohnungsbaus, mit dem die deutsche Hauptstadt in den letzten fünf Jahren zumindest auf diesem Feld zu einer architektonischen Einöde sondergleichen vertrocknet ist, der darf hier mal wieder richtig durchstaunen. Auch heute noch, zeigt dieses Gebäude, kann also ein Wohnungsbau entstehen, der mehr bietet als unmittelbar Rendite verheißende Privatnutzflächen für eine möglichst homogene Klientel; ein Bau, der stattdessen mit einem weitgespreizten Grundrissangebot eine bunte Hausgemeinschaft verspricht und mit großzügig bemessenen halböffentlichen Räumen zum sofortigen Ausprobieren, zum Mitwohnen, zum Gestalten dieser Gemeinschaft einlädt.
Zugegeben, selbst für die experimentierfreudige Wiener Szene war dieses Haus ein großer Brocken: 13 Jahre vergingen vom Entwurf bis zur Fertigstellung; im Gestaltungsbeirat scheiterte das Projekt im ersten Anlauf sogar aufgrund der teilweise nur nach Norden orientierten Wohnungen. Dass das Gebäude, ohne wesentliche Verwässerungen des Konzepts gebaut, aber noch immer vom Schwung seiner Entstehung als Beitrag zum Europan6-Wettbewerb kündet, stellt den Rahmenbedingungen der Realisierung letztlich ein gutes Zeugnis aus. Ob es dafür des baupolitischen Mikroklimas der „letzten sozialistischen Hauptstadt Europas“ bedurfte, wie Berlins Ex-Senatsbaudirektor Stimmann die österreichische Kapitale vor ein paar Jahren einmal abfällig bezeichnete, sei dahingestellt. Ein genauerer Blick auf die Besonderheiten dieses Projekts ist allemal anregend.
Die richtige Widmung erreichen
Mit „stadt_land_schafft“ war der Europan-Wettbewerb des Jahrgangs 2001 überschrieben. Die Stadt Wien hatte dazu eine Gewerbebrache im XI. Bezirk, zwischen Innenstadt und Zentralfriedhof an der Simmeringer Hauptstraße gelegen, eingereicht – sollte doch der Architektennachwuchs schauen, was sich daraus machen ließe. Simmering ist als traditioneller Arbeiter- (und heute Einwanderer-)bezirk nicht gerade ein urbaner Vorzeigedistrikt. Die dichte, oft prächtige Bebauung aus Vorkriegszeiten, die die zentraleren Bezirke von Wien prägt, ist hier von einem Konglomerat aus recht unterschiedlichen Bestandteilen abgelöst: wenig aufwendige Wohnhäuser aus k.u.k-Zeiten wie in der Fickeysstraße, sorgfältig gestaltete Siedlungen aus den zwanziger Jahren, sparsame Bauten aus den fünfziger und ruppige Wohn- und Geschäftshäuser aus den sechziger und siebziger Jahren, schließlich alltägliche Nachverdichtungen aus den Achtzigern und Neunzigern; dazwischen jede Menge Gewerbebauten und Verkehrsschneisen – all das also, wofür in den Bezirken I–IX nicht so recht Platz ist. Im Zuge der allgemeinen Entwicklung der österreichischen Hauptstadt in den letzten Jahren ist in dieses Konglomerat inzwischen Bewegung gekommen, zum Zeitpunkt des Wettbewerbs aber war die Beantwortung der Frage, was auf dieser Brache überhaupt entstehen könnte, durchaus noch offen.
Die Architekten begannen damit, anhand von zahlreichen Baukörpermodellen die höchstmögliche Bebauungsdichte zu ermitteln, die für die Nachbarschaft keine Beeinträchtigung darstellte. Das Resultat: ein aus der Straßenflucht und von der hofseitig anschließenden Bebauung zurückweichender Baukörper mit nach oben geschossweise abnehmender Tiefe; ein bergartiges Gebilde mit breiter Basis und schmalem Kamm. Dieses Volumen, so dachten es sich PPAG, sollte mit einem Ausschnitt aus der Stadt gefüllt werden, mit Wohnungen in der „Kruste“ und Gewerbe- und Kultureinrichtungen im Inneren; ein „Berg mit einem Ikea im Bauch“, wie es Anna Popelka beim gemeinsamen Rundgang formuliert. Ein hochgestecktes Ziel, dessen waren sich die Architekten bewusst, sind die Wiener Wohnungsbauträger doch skeptisch, sobald noch mehr als reines Wohnen untergebracht werden soll – „schon ein Trafik (Kiosk, a.d.R) im Haus macht sie fertig“, so Popelka. Trotzdem gelang es, den ermittelten „Envelop“ im B-Plan räumlich festzuschreiben – dass am Ende ein etwas kleineres Volumen realisiert wurde, liegt daran, dass die Nutzungen ein wenig wohnaffiner abgemischt wurden: Der Möbelgroßhändler wurde zum Kindergarten, sozusagen.
Geschossweise Identität
Die Vielfalt an Gemeinschaftsräumen für die Hausgemeinschaft aber ist noch immer eindrucksvoll. Da gibt es neben den üblichen Einlagerräumen mehrere Spielzimmer für Kinder und Jugendliche, eine große Küche, die noch der Endausstattung harrt – sie ist in erster Linie für die Belegung der kleinen „Heimwohnungen“ gedacht, die als eigenes kleines Hochhaus an der Fickeysstraße über die ganze Höhe integriert worden sind, aber auch, um Familienfeiern aus dem privaten Wohnraum auslagern zu können –, einen Raum, den sich die Architekten als Bibliothek eingerichtet vorstellen können, einen Bereich im 4. Obergeschoss des Atriums, den sie „Kino“ nennen, eine Waschküche im Geschoss darüber, einen als „Wintergarten“ ausgewiesenen Raum im 7. Obergeschoss und schließlich, ganz oben, eine Dachterrasse fürs Urban Gardening mit weitem Blick über die Stadt. Ganz zu schweigen von den über die Höhe wie die Breite des Hauses immer wieder überraschenden Raumfolgen der Atrien, welche an konstruktivistische Architektur denken lassen. Sie geben den verschiedenen Wohnlagen ein jeweils eigenes Gepräge, offerieren, mit kubischen Bänken möbliert, Gelegenheit für spontane Begegnungen und dürften vor allem den jüngsten Bewohnern als ein Ort erscheinen, der entdeckt werden will – zum Versteckspielen eignet er sich hervorragend. Nur die im Europan-Wettbewerb von den Architekten favorisierte Zugänglichkeit all dieser Räume für die Öffentlichkeit scheiterte dann doch an den Bedingungen der urbanen Realität – ins Haus hinein gelangen nur Berechtigte. Das ist schade, fürs Quartier zuvorderst, aber auch für Architekturinteressierte. Immerhin, die Facebook-Seite, die ein junger Bewohner gleich nach dem Einzug eingerichtet hat, um die Belegung und den Gebrauch der gemeinschaftlichen Flächen auch gemeinschaftlich koordinieren zu können, wäre eine Anlaufstelle, um vielleicht doch mal einen Besuchstermin zu vereinbaren.
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