Bauwelt

Toni-Areal


Die Gunst der Stunde


Text: Gleiniger, Andrea, Zürich


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    Foto: Regula Bearth und Betty Fleck ©ZHdK

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    Foto: Roger Frei

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Das neue Domizil der Hochschulen wurde von den Architekten EM2N Mathias Müller und Daniel Niggli in das komplett entkernte und umgebaute Toni-Areal der ehemaligen Großmolkerei integriert. Der Bauherr und Vermieter, die Allreal Toni AG, fügte einen Turm mit Wohnungen hinzu. Blüht Zürich-West nun auf?
„Züri“ sei schon gebaut, war über Jahrzehnte die Meinung tonangebender Stadtoberer. Umso eruptiver erscheint der neue Bauwille, der sich in den letzten gut 15 Jahren in diesen westlichen, ehemals überwiegend industriell genutzten Stadtgebieten entladen hat. „Züri-West“ ist mittlerweile zu einem Label geworden, unter dem sich urbaner Zeitgeist, mit Wohnen, Büros, Kultur und Kommerz in mehr oder weniger geglückten Anordnungen baulich zeigen. Wer Zürich kennt, wird seinen Augen kaum trauen: Zwischen Brückenbögen und kompakten Gleisanlagen haben hier die Umnutzungen aufgelassener Industrieareale, vor allem aber Neubauten, ein Bild der Stadt entstehen lassen, das der bekannten idyllischen Postkartenurbanität mit See- und Alpenpanorama dynamische Urbanität entgegenhält.
Vor gut acht Jahren formulierte ein „begleiteter Studienauftrag“, in dieses mit Nachdruck betriebene Stadtentwicklungsprogramm des Züricher Westens einen kulturellen „Energieknoten“ der besonderen Art zu implantieren. Die damals noch in Gründung befindliche Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) – 2007 durch die Fusion der Hochschule für Gestaltung und Kunst und der Hochschule für Musik und Theater entstanden und die nach der Berliner UdK größte deutschsprachigen Kunsthochschule – sollte gemeinsam mit zwei Departementen der Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Bau der Toni-Molkerei ein neues, zukunftsfähiges Quartier beziehen. Als Ergänzung war an ein Quantum Wohnungsbau gedacht, das den Standort durchmischend aufwerten sollte und mit 100 Wohnungen auch realisiert wurde.
Die Hoffnung der Initiatoren, allen voran des Gründungsrektors der ZHdK, Hans-Peter Schwarz, das Ganze schon 2009 in Besitz nehmen zu können, erfüllte sich allerdings nicht. Da war man zu optimistisch. Auch in der Schweiz gibt es allerlei Möglichkeiten, durch immer neue Eingaben und Widersprüche Sand ins Getriebe einer zügigen Baurealisierung zu streuen. Der Betreiber eines der damals im weitgehend verwaisten „Toni“ etablierten Clubs, kostete diese Möglichkeiten denn auch weidlich aus.
Deshalb vergingen acht Jahre bis zur Fertigstellung des „Toni-Areals“. Im Frühjahr wurden die Räume ihren Nutzern übergeben. Seitdem streben sie von ihren mehr als 30, über den Kanton Zürich verteilten Standorten diesem neuen „Energieknoten“ zu. Zum Herbstsemester soll der Betrieb aufgenommen werden. Den Löwenanteil des Areals, das Campus zu nennen wegen seiner städtebaulichen Verdichtung und architektonischen Kompaktheit ein wenig irreführend ist, nimmt mit 85 Prozent der Nutzfläche die ZHdK ein; auf den verbleibenden 15 Prozent hat die ZHAW sich mit den Departementen für Angewandte Psychologie und für Soziale Arbeit eingerichtet. Während die beiden Letzteren in Forschung und Lehre weitgehend traditionellen Hochschulansprüchen folgen, verbanden sich mit der Zusammenführung der Hochschule für Gestaltung und Kunst und der Hochschule für Musik und Theater zur ZHdK vielgestaltige Visionen und auch der konkrete Auftrag, aus dem Geist der Transdisziplinarität die Grenzüberschreitung in den Künsten in Forschung und Lehre neu zu entwickeln und zu praktizieren. In diesen Tagen findet die offizielle Eröffnung statt. Von nun an geht es darum, sowohl die Visionen als auch den Alltag, die diesem konzeptionell und institutionell komplexen Projekt zugrunde liegen, mit Leben zu füllen sowie die Angebote des architektonischen Konzepts auszuloten und auf die Probe zu stellen.
Das Toni-Areal, unter dieser Marke ist der Ort seit den siebziger Jahren bekannt, beherbergte in dem damals errichteten Gebäudekomplex den größten Milchverarbeitungsbetrieb Europas; und noch lange über dessen Abwicklung im Jahr 1999 hinaus, zierte ein überdimensionales „Glas“ des gleich-namigen Joghurts als weithin sichtbares Wahrzeichen den Mono­lithen aus Beton und Aluminium, dessen Wirtschaftlichkeit der Globalisierung nicht mehr entsprochen hatte.
Gewinner eines Wettbewerbs zur Umgestaltung des Areals, 2005 programmatisch ausschließlich unter Züricher Architekturbüros ausgelobt, war ein damals noch junges Büro. Die Entscheidung der Jury, der auch die heutige Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher angehörte, das Architekturbüro EM2N zu beauftragen, war ein beherztes Votum. Das Büro der beiden ETH-Absolventen Matthias Mül-ler und Daniel Niggli hatte architektonische Erfahrungen bis dahin in vergleichsweise überschaubaren Projekten gesammelt: dem Quartierzentrum Aussersihl in der Züricher Bäckeranlage, dem Theater Elf in Zürich Oerlikon und dem damals noch im Bau befindlichen Staatsarchiv Basel Landschaft. Fast zeitgleich war das Büro mit der Revitalisierung und der damit einhergehenden Neunutzung der Bögen eines Bahn-Viadukts befasst, das sich dem Züricher Stadtgrundriss prägnant eingeschrieben hat und den Übergang in das neue Züri-West markiert.
Eigensinnige Anordnungen
Mit dem Projekt von EM2N war die Wahl auf einen Vorschlag gefallen, der seine Energie nicht nur aus der Heterogenität und Komplexität der zukünftigen Nutzungen und der eher rauen und unwegsamen Beschaffenheit des realen Ortes zog, sondern vor allem aus der städtebaulichen Situation und der industriellen Alltagsarchitektur. Auch das Bewusstsein für das Gewicht, das vor allem die ZHdK mit ihrer neuen, transdisziplinären Konstellation im Konzert der Kunsthochschulen hat, fand im Entwurf einen adäquaten Resonanzraum. Der Umgang mit der industriellen Struktur, ihren sowohl konstruktiven als auch räumlichen Eigenschaften, stellte eine Herausforderung dar. Diese Struktur lieferte aber auch die besonderen Voraussetzungen für die zentralen Ideen, die das Konzept des Toni-Areals ausmachen und die eine ebenso eigen-sinnige wie vielseitige architektonische Topografie räumlicher, funktionaler und ästhetischer Anordnungen haben entstehen lassen.
Wer sich, von welcher Seite auch immer, dem von Schienensträngen, Straßenachsen, Brückenbauwerken und Oberleitungssystemen jeglicher Konstruktion und Beschaffenheit fast strangulierten Toni-Areal nähert, mag kaum glauben, dass das gelungen ist. Hier, in diesem trutzigen Monolithen, dessen Baumasse eine für Zürich ungewohnte Monumentalität darstellt, soll sich ein räumlicher Zusammenhang entfalten, dessen Vielgestaltigkeit nicht nur den unterschiedlichen Nutzungen gerecht wird, sondern auch einen Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum öffnet, in dem die verschiedenen Disziplinen der Hochschule auf individuelle Entfaltung und neue Synergien hoffen können?
Verbirgt sich hinter dem einheitlichen, kaum mehr als in unterschiedlichen Grautönen changierenden Fassaden-Vorhang, der auf den ersten Blick nur wenig unternimmt, den monotonen und monochromen Eindruck in milderem Licht erscheinen zu lassen, wirklich eine realisierte architektonische Vision, die sich sowohl des urbanen Kontextes bewusst ist, als auch der Notwendigkeiten völlig neuartiger Formen der künstlerischen Lehre und Forschung? Konnte hier, über die Jahre hinweg, mit wechselnden Entscheidungskonstella­tionen und ökonomischen Zwängen, dem „Hohn der Verwirklichung“ getrotzt und eine Kunsthochschularchitektur verwirklicht werden, die ein deutliches Zeichen setzt?
Vielgliedrig
Im Spannungsfeld der notwendigen Verdichtung der vielgestaltigen Nutzungen und Funktionen und der gewünschten Vernetzung mit einem eher unwirtlichen städtebaulichen Umfeld haben die Architekten das beträchtliche, am Ende rund 92.000 Quadratmeter umfassende Gebäudeareal in ein durchlässiges und vielgliedriges Ganzes verwandelt, das die bestehende massive Stahlbetonkonstruktion gleichzeitig nutzt und signifikant überformt. Die vorhandene Differenzierung der Volumina ist in der Um- und Überbauung nicht nur sichtbar geblieben, sie liefert auch die Parameter für die Schwerpunkte der Nutzungen. Gut zwei Drittel stehen den Hochschulen zur Verfügung, nicht unerhebliche 13.000 Quadratmeter dem Wohnen und der Rest einem hochschuleigenen Club und der Gastronomie.
Die Bausubstanz ist vor allem durch drei Bereiche definiert: ein langgestreckter Baukörper, der als vergleichsweise neutrales Kernstück nun im wesentlichen die ZHdK beherbergt, an dessen Südflanke ein turmartiger Gebäudetrakt, der ab dem elften Obergeschoss für die Wohnungen genutzt wird und in der neuen Turm- Silhouette von „Züri-West“ einen weiteren Akzent setzt, sowie an der Nordseite eine weitläufig und elegant ausschwingende Rampenanlage, die das kompakte Volumen mit seiner Umgebung verbindet und selbst zu einer Art Wahrzeichen geworden ist.
Für die Architekten ist diese Rampe besonders wichtig. Mit ihr brechen sie die Unwegsamkeit einer architektonischen und städtebaulichen Konstellation auf, die vor allem zwei Dinge braucht, um überlebensfähig zu werden: Durchdringung und Kontextualisierung. Dabei ist die Frage der Durchdringung nicht nur eine der Erschließung und Durchwegung, sondern auch und vor allem eine der Belichtung.
Das zentrale Motiv der Belichtung ist die Perforation. Angesichts des ursprünglich weitgehend geschlossenen Volumens gab es massiven Handlungsbedarf, um eine akzeptable Beleuchtung für die Unzahl der Ateliers, Werkstätten und Büros zu erreichen, die ja unmöglich allesamt an den Außenfassaden untergebracht werden konnten. Die Architekten lösten das Problem mit fünf Lichthöfen, die auf unterschiedlichen Gebäudeniveaus ansetzen. Ohne sie wäre die erforderliche Ausnutzung mit Arbeitsräumen kaum denkbar gewesen. Sie schaffen darüber hinaus Innenhöfe, die neben der begrünten und begehbaren Dachlandschaft Räume der Entspannung bereitstellen.
Die Kaskade
Das zentrale Motiv der Durchwegung ist die sogenannte Kaskade, die den Komplex vom Niveau der Eingangshalle bis zum Anschluss an die Rampe im obersten Geschoss verbindet. Sie ist das architektonische Herzstück und das erschließungstechnische Rückgrat des Komplexes. Sie soll öffentlicher, sozialer und künstlerischer Aktionsraum sein, der Offizielles wie Informelles und Spontanes zulässt und herausfordert. Sie verbindet Aktions- und Ausstellungsräume, Kammermusiksaal, Kino und Konzertsäle unterschiedlicher Größe mit dem Großen Konzertsaal als unbestreitbarem Höhepunkt. Dessen Metallhülle durchstößt den Baukörper weithin sichtbar. Die materielle und technische Ausstattung all dieser Räume lässt kaum Wünsche offen. In den dazugehörigen Produktionsstätten und Studios ist das nicht anders. 
Aus dem Geist der Durchdringung und Kontextualisierung entfalten sich die Haupt- und Nebenmotive der architektonischen Interventionen. Ein reichhaltiges Repertoire von Einblicken, Ausblicken und Durchblicken etwa, das auch vor Seminarräumen, Ateliers und Übungsräumen nicht Halt macht, wird dabei – nicht überall geschätzte – Einblicke in das tägliche Tun geben. Es eröffnet zudem perspektivische Ansichten von ästhetischer Kraft. Immer ging es auch darum, den Charakter einer industriellen Produktionsstätte nicht zu verwischen: der Rauheit des Materials Geltung zu verschaffen, der Rationalität der Konstruktion und der Nüchternheit einer Ästhetik, die gar keine sein will, in dieser neuen Produktionsstätte der Künste.
Diskrete Unregelmäßigkeiten
Diese Anwesenheit der industriellen Natur, das Nebeneinander von Alt und Neu, äußert sich vornehmlich in diskreten Unregelmäßigkeiten, sich ändernden Texturen und dezenten Farbigkeiten, der Wandbehandlung etwa, oder durch ein leichtes Gefälle, das den Verlauf der Eingangshalle und der Flure spürbar verändert. Diese Unregelmäßigkeiten beeinflussen auch im Querschnitt den Verlauf der Flure und damit die Wahrnehmung langer Gänge, die sonst schnell als gesichtslos und monoton erlebt werden könnten. Das unorthodoxe Lichtkonzept von realities:united trägt seinen Teil dazu bei, die sinnliche Wahrnehmung wach zu halten (Seite 20). Neben den visuellen, sind es die haptischen Erfahrungen, die sich an den Materialkontrasten festmachen. Keine Frage, Beton dominiert in den verschiedenen Formen seiner Oberflächenbehandlung. Umso erstaunlicher wirkt dann das Holz, das vor allem in den Begegnungspunkten, den Sitzstufen der Kaskade und dem sogenannten Stammtisch in der Eingangshalle (Seite 22) zum Einsatz kommt. Das alles, und vieles mehr, geschieht nicht demonstrativ, sondern oft beiläufig, in einer Art räumlicher Schule der Wahrnehmung, die sich in den verschiedenen Dramaturgien des Lichts, der Farbe, der Materialität usw. Geltung verschafft. Starke Akzente werden nur in programmatischen Ausnahmen gesetzt.
Man mag diese materialbewusste Nüchternheit einer spezifisch Schweizer Askese zurechnen. Doch im Fall der ZHdK ist die Zurückhaltung der Architektur auch ihre große Chance: als Projektionsfläche, die hoffentlich nicht nur dem Cloud-Computing und anderen, den Workflow optimierenden, digitalen und medialen Technologien dient, sondern sehr realen, sinnlichen Unternehmungen in der Kunsthochschule; als ein Aktionsraum, dessen Radien und dessen Dynamik nicht durch Überwachungskameras und feuerpolizeiliche Regulierungen gedämpft wird, der vielmehr zum Gegenstand von Aneignungsaktionen und -prozessen wird, die – nicht nur – die Potenziale dieser Architektur sichtbar und erlebbar werden lassen. Transdisziplinarität geht davon aus, dass es Grenzen gibt. Erst wo sich Eigensinn gebildet hat, kann Austausch, kann Grenzüberschreitung gelingen. Das Konzept von EM2N geht von diesem Verständnis aus. Vor allem in den hoch spezialisierten Aufführungsorten, die die Vielfalt der ZHdK repräsentieren und zur Schau stellen, kommt dies zum Ausdruck.
Kommunikation – Konzentration
Austausch ist ein Lebenselixier, auch und gerade im Kontext dieser Hochschule, die in besonderer Weise auf eine gesellschaftliche Auseinandersetzung angewiesen ist. Aber Kommunikation als effizienzsteigernder Dauerauftrag ist problematisch. Dies kulminiert, so will es mir scheinen, in den Großraumbüros und den in ihrer Logik entwickelten flexiblen und mobilen Arbeitsplatzkonstellationen, in denen sich zukünftig die Mitarbeiter und die Dozenten der ZHdK bewegen und dank ihrer mobilen Kommunikationsgerätschaften möglichst nicht allzu sesshaft werden sollen.
Das Konzept des Großraumbüros ist ein gutes halbes Jahrhundert alt. Es ist aus dem Geist kybernetisch grundierter Organisationstheorien entstanden. Ein technokratisches Modell, das unter dem Aspekt von zu viel Kontrolle und zu wenig Konzentration zurecht umstritten ist, vor allem in Bereichen, in denen es nicht nur um Kommunikation geht, sondern auch um Konzentration – und um Kontemplation: Ein Gedanke, eine Idee, ein Konzept, ob nun in Lehre oder Forschung, bildet sich nicht nur „im Strom der Welt“, sondern auch und gerade in der Stille. Das mag altmodisch klingen. Doch was wir unter einer Ausbildung in den Künsten und künstlerischen Gestaltungs- und Darstellungsdisziplinen für die Zukunft verstehen, entwickelt sich sicher nicht im Dauerstress scheinbar unkontrollierter Kommunikationsüberflutungen.
Wie die soziale und künstlerische Aneignung der Architektur in den Hochschulalltag einerseits und die Verlebendigung einer auf Grenzüberschreitungen jeglicher Art abzielenden Vision andererseits gelingen wird, muss sich nun erweisen; frei von Problemen wird dieser Alltag nicht sein. Es werden befürchtete oder ganz unerwartete Reibungsflächen auftreten, die in paradigmatischer Weise ein Licht auf die gegenseitigen Erwartungen zwischen Architektur und einer Institution werfen, die sich in den letzten Jahren stärker verändert hat, als das architektonische Konzept.
Architektur muss brennen, hat ein seinerzeit aufmüpfiges Architekten-Duo, das sich ebenfalls am Bau einer Kunsthochschule versucht hat, einmal der Architekturwelt entgegengeschleudert. Auch wenn das für manch Einen ein höchst missverständliches Postulat sein mag, für eine Kunsthochschule taugt die Metapher dennoch – und sollte nicht vor der Zeit abgelöscht werden, wie es im Schweizerdeutschen so schön heißt.
Effizienzoptimiert | Yvonne Wilhelm Leiterin Master-Studium Mediale Künste
Vor zwei Jahren stieß ich zufällig auf die 3D-Grafiken des Toni-Areals. Schlagartig wurde mir klar, dass ich ein Teil dieser Bilderzählungen bin. Eine dieser schattenlosen, flachen, idealgewichtigen, smalltalkenden Figuren, die stets unmotiviert in diese glatten, virtuellen Entwürfe montiert werden. Und ich ahnte, dass die gebaute Architektur mich in die Pflicht nehmen würde, die hier gelobten Form-Funktions-Beziehungen der beiden Herren von EM2N umzusetzen. Ein „vertikaler Boulevard“ als Herzstück eines „inneren Urbanismus“.
Mobile, produktivitätssteigernde Arbeitsplätze, verglaste, effizienzoptimierte Großraumbüros und Ateliers, sperrzonenproduzierende Zugangs-Badges, workflowoptimierendes Cloud-Computing und die panoptischen CCTV-Augen befördern die Umsetzung eines sozialen, weniger eines architektonischen Designkonzepts: sicherer, flexibler, exzellenter und smarter! Ich als Teil eines kybernetisch simulierten Schwarmverhaltens. Ich fühle mich plötzlich ganz flach und unsauber freigestellt. Ich gebe es zu, ich gehöre zu jenen paranoiden PC-Nutzern, die ihr Kameraauge zukleben. Und genau deshalb bin ich freudig darauf gespannt, wie kleinere, unkontrollierbare Instanzen die konzipierten Superlative in unerwarteter Weise umgestalten werden.
Zu flache Stufen | Corina Caduff, Department Kultur-analysen und Vermittlung
Freie Treppen, luftige Passerellen, viel Licht, heller Beton und viel Glas: Durch Fenster sieht man in Unterrichtszimmer, Büros und Ateliers, ins Rektorat – Durchsicht wohin man blickt. Großraumbüro. Draußen die urbane Kulisse von Züri-West, mit Bahnbrücke und Kränen, drinnen die Kolleginnen, die arbeiten, kommen, gehen, hochschauen. Leise staunen wir alle gemeinsam über uns selbst. Ich wechsele oft nicht nur den Arbeitsplatz, sondern auch den Arbeitsraum und fühle mich nomadisch und wach wie in meinen Auslandsjahren. Man zeigt mir Bilder von Teppichen und Pflanzen, die noch kommen sollen. Ich aber will, dass alles bleibt, wie es ist. Roh. Voller Erwartung. Demokratie des falschen Maßes: Die flachen tiefen Stufen der langen, repräsentativen Aufgangstreppe sind so schlecht bemessen, dass man sie nur hochkonzentriert und hinkend bewältigen kann.
Die Zeit ist reif | Michael Eidenbenz, Direktor Department Musik der ZHdK
Aus klassizistischen Konservatoriumsmauern, mit ihrer ganzen Last und Lust der hundert­jährigen Tradition, wechselt Zürichs Musikhochschule in eine neu geformte Industriearchitektur, städtebaulich eingepasst ins „Trend-Quar­tier“ von Zürich-West. Aus ihrer räumlichen Isolation mischt sie sich nun auch leibhaftig unter die Disziplinen der Hochschule der Künste, Wand an Wand mit Designstudios, Medienlabors, Tanzsälen, Theaterbühnen usw. Dabei ist alles offen: Das Toni-Areal lässt Raum und stellt Fragen. Seine ar-chitek­tonische Raffinesse ist unaufdringlich, groß­zügig, inspirierend, bereit für eine neue Generation von Studierenden. Die Idee ist atem­raubend. Der licht- und luftdurchflutete Bau selber lässt Atem schöpfen! Wie die neue Architektur den Umgang mit der alten Kunst genau verändern wird, wissen wir noch nicht. Dass sie es tun wird, ist gewiss.
Im Toni-Kino | Bernhard Lehner, Leiter Bachelor-Studium Film
Vor- und Nebenräumen wird oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir erachten sie als notwendiges, aber letztlich nicht interessantes Beiwerk. So spielt die Hierarchie der Archi­tektur auch im Toni-Areal: einige prachtvolle Räume, auf die wir jetzt schon stolz sind und in denen wir uns gerne aufhalten werden, daneben das auf Nutzbarkeit ausgerichtete Raumangebot. Kino und Filmstudio aber werden besondere Orte sein, architektonisch
und durch die kulturelle Definition. Ich freue mich, dass wir mit Kino und Filmstudio zwei klar identifizierte Räume erhalten, die auf die große kulturelle Tradition des Films verweisen. Aber das filmische Universum eines Etienne Souriau hat sich ausgeweitet. Die einst wichtigen Fixsterne – Moment und Punkt der Kreation wie der Rezeption – sind heute ato-misiert. Sie haben sich aufgelöst und blitzen aus der Welt des Digitalen in manigfacher Gestalt zurück. Kino und Studio werden ihren ursprünglichen Funktionen mehr und mehr enthoben und bleiben doch Orte von Bestimmung und Haltung. Foyers und Vorräume wa-ren schon immer unbestimmt, sie sind meist öde. Das orange-rosa-fleisch-farbene Kino-Foyer im Toni lädt zum Weitergehen ein. Der kahle Studio-Vorraum ist Ein- und Ausfahrt, Umladestelle und Materiallager, er ist ein Abstell- und Warteraum. Doch die Orte des Übergangs und des Unbestimmten sind Orte der Zukunft. Hier wird das noch nicht Definierte seinen Platz finden. 
Grenzenlos? | Christian Brändle, Leiter Museum für Gestaltung im Toni-Areal
Das Toni-Areal ist in mehrfacher Hinsicht eine Auseinandersetzung mit Grenzen oder eben deren Auflösung und Ausweitung. Beim Durchschreiten des Gebäudes kann das Gefühl aufkommen, dass hier alles aufgehoben wurde, schon rein räumlich, denn der Bau ist eine Stadt in der Stadt. Dabei gab es für die Architekten viele Vorgaben. Aus einer ausgedienten Milchfabrik mit meterdicken Decken, doppelt so groß wie ein Fußballfeld und mit ganz wenigen Fenstern sollte eine Kunsthochschule der Zukunft entstehen. Gleichzeitig ist der Campus auch eine große Verpflichtung. Denn seine ganze Kraft wird das Toni-Areal nur entfalten können, wenn es von innen her konstant und komplett genutzt wird und wenn die lokale Bevölkerung und ein nationales wie inter-na­tionales Publikum das Haus in Besitz nehmen und sich die Grenzen damit auflösen: zwischen den Studierenden und den Interessierten, zwischen der Stadt und dem neuen Haus und letzten Endes zwischen den Künsten. Das wird spannend.
Die „Dachspatzen“ | Christine Weidmann, Leite- rin Fachstelle Gleich-stellung & Diversity ZHdK
Kinderbetreuung hat an der ZHdK Tradition. Seit elf Jahren gibt es Betreuungsplätze in einer externen Kita. Als die ersten Pläne des Toni-Areals vorlagen war klar, dass es auf diesem riesigen Campus mit 3000 Studierenden und 2000 Mitarbeitenden eine eigene Kita braucht. Die Frage war, wo es in dieser urbanen Umgebung Raum für Spiel und Bewegung für Kinder gibt. Das einzige Grün auf den Plänen war auf der Dachterrasse eingezeichnet. Die Architekten waren von der Idee begeistert, hier, in luftiger Höhe, die Kita „Dachspatzen“ einzuplanen. Und so werden sich ab Ende September die Kleinen auf dem Dach des Toni tummeln. Ihre Eltern haben vielleicht vor Jahren in der damaligen „Dachkantine“ noch Partys gefeiert.



Fakten
Architekten EM2N, Zürich
Adresse Escher Wyss 8005 Zürich Schweiz


aus Bauwelt 34.2014
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