Bauwelt

Verwaltungsgebäude der evangelischen Gesamtkirche Stuttgart



Text: Bachmann, Wolfgang, München


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    Foto: Roland Halbe

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Die evangelische Gesamtkirche Stuttgart hat ihr Tagungs-, Seminar- und Verwaltungsgebäude durch einen Neubau ersetzt. Der alte Bau von Wolf Irion aus den sechziger Jahren wäre konstruktiv und brandtechnisch nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu retten gewesen. Lederer Ragnarsdóttir Oei verstehen ihren Neubau vor allem als städtebauliche Intervention
Gerade in Stuttgart lässt sich immer wieder feststellen, wir Menschen besitzen kein gutes räumliches Gedächtnis. Wenn man in größeren Abständen in die Stadt kommt und die diversen Fußgängerstrecken zwischen Bahnhof und Rotebühlplatz abläuft, entdeckt man jedes Mal eine Veränderung. Abrisse, Sanierungen, Neubauten, Ergänzungen, Umwidmungen – und man weiß beim besten Willen nicht mehr, wie es dort zuvor ausgesehen hat.
Auch das Geviert um die Hospitalkirche hat städtebauliche Häutungen erlebt. An das spätgotische Kirchenschiff kann man sich noch erinnern. Dahinter stand etwas, irgendetwas. Nun steht im Block ein Neubau, der das nach dem Krieg gerettete und 1960 als Chor mit einem Langhausjoch anspruchslos geschlossene Kirchenfragment winkelförmig ergänzt, sodass ein rechteckiger, an einen Kreuzgang erinnernder Innenhof entsteht. Die Fluchten der neuen Gebäudeschenkel sträuben sich gegen das brave Straßenraster ringsum. Diese Verdrehung orientiert sich an den älteren Baulinien, denen das ehemalige Dominikanerkloster, später Bürgerspital, gefolgt war. Sie markiert heute den Sonderfall eines öffentlichen Gebäudes. Dadurch wird an der Büchsenstraße der Chor der Kirche freigestellt und zur einladenden Raumkante neben dem Zugang präpariert, an der Gymnasiumstraße ergibt sich eine trapezförmige Verbreiterung des Gehsteigs, was der ursprünglichen Idee der Stadtplanung, den Hospitalhof mit einer Fußgängerzone zu säumen, einen gestaltbaren Freiraum beschert hätte. Nun schließt erst einmal ein provisorisches Passepartout aus Asphalt die Fläche bis zum Bordstein. Aber die Intention bleibt ablesbar.
Wider die Stadtvermeidung
Während die abgetragene Bebauung, „ein sehr schöner Beitrag und ein gutes Beispiel der Nachkriegsarchitektur in Stuttgart“, dennoch einer Haltung zur „Vermeidung von Stadt“ (Arno Lederer) gefolgt war, zeigt sich der neue Hospitalhof als ein Baustein für „Gerechte und Ungerechte“, für die Kirche und für die ihr fern Stehenden, die lediglich als Passanten ein angenehmes Stück Weg gehen wollen. Das zur Belanglosigkeit gequälte Attribut urban drängt sich auf, weil hier ein Ort entstanden ist, an und um den man sich ohne bestimmte Absicht aufhalten kann. Bänke, die es im Haus zahlreich gibt, würden das Konzept nach außen noch glaubhafter fortsetzen.
Dazu könnte auch die Südost-Seite beitragen. Hier, am Hospi­talplatz, stehen Laubbäume dicht vor der ruinösen Langhauswand. Die Architekten hatten einen Tausch vorgeschlagen, nämlich die Platanen zu entfernen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite neue Bäume zu pflanzen. Dann hätte man die historische Sandsteinfassade mit den leeren Maßwerkfen­stern besser sehen und mit dem weiteren grünen Saum die nichtkommerzielle Exklave der Stadt vergrößern können. Aber bei Bäumen versteht eine grüne Stadtregierung keinen Spaß.
Misslungen ist deshalb nichts. Es ergeben sich durchaus attraktive Bilder, wenn beim Näherkommen erst auf den letzten Schritten die graugelbe Steinfassade sichtbar wird. So bleibt auch Zeit, sich mit der Irritation, mit der die Architekten hier konfrontieren, anzufreunden. Um die alte Dimension der Kirche zu zeigen, haben sie sich nämlich bei der Wett­bewerbsüberarbeitung entschlossen, die gesicherte, frei stehende Lang­hauswand um zwei Joche zu verlängern. Die lehnen sich nun – um nicht zu sagen kleben – als hell geschlämmte Struktur an die Stirnwand des südöstlichen Gebäudeschenkels. Man erkennt deutlich, dass es sich um eine Ergänzung handelt. Dennoch liefert die Ähnlichkeit zur neuen Backsteinfassade und die dekorative Indienstnahme eines gotischen Tragwerks einen probaten Anlass, Methoden und Möglichkeiten der Denkmalpflege zu diskutieren.
Diebische Freude
Die weitere Detaillierung der Gebäudeansichten ist sicher nicht umstritten. Es wirkt ausgesprochen erholsam, nach dem sattgesehenen gültigen Standard der spiegelnden Ganzglasfassaden, ernsten Natursteinbehängen und massiven Sichtbetongehäusen mit verschobenen Fensterachsen auf eine andere Architektursprache zu treffen. Die man versteht. Wer mit den Häusern von Lederer Ragnarsdóttir Oei vertraut ist, kann sich mit diebischer Freude daran machen, die wiederzuentdeckenden Details ihrer früheren Bauten einzusammeln. Sie sind zahlreich, und falls man sich diese Mühe macht, sollte man ein großes Blatt für seine Notizen nehmen, den innen geht es mit dem Déjà-vu noch weiter. Dem ahnungslosen Passanten wird es nichts ausmachen, dass er in Eppingen, Heilbronn, Ravensburg, Ostfildern, Allensbach, Darmstadt, Pforzheim, Reutlingen... ähnliche Lösungen finden wird. Uns berufsmäßigen Flaneuren sollte die Spielfreude gefallen, die Lust, mit der LRO ihr Repertoire vorführen und durch immer neue Einfälle ergänzen. Es ist eine semantische Übung mit einem materiellen Vokabular (Modulen), einer konstruktiven Grammatik (Elementen) und einer strukturellen Syntax (Strukturen). Andrea Deplazes erklärt es mit „so etwas wie die Mechanik der Architektur“.
Stumpf gestoßen
Im Erdgeschoss an der Gymnasiumstraße gibt es geschosshohe Glasfronten, eine Borte aus dreikantigen Fenstern, im ersten Obergeschoss ein Feld mir runden Öffnungen, die zur Reduzierung der Lichtblendung hälftig von einem Betonring verbrämt werden, zur anderen Seite ragt ein Quartett gläserner Erker aus der Fassade. In der Hauptsache reihen sich in den Obergeschossen aber Ketten kleiner Lochfenster, über die sich weiße Aluminiumhauben schürzen, eine praktische Lösung, um bei gekippten Fensterflügeln den Regen abzuhalten und die außen laufenden lilafarbenen Stoffrollos zu bergen. Ein Treppenhaus macht auf den Zwischenpodesten mit auskragenden Lichtkästen auf sich aufmerksam, eine andere Gebäude­ecke wird in der Senkrechten durch einen schlanken Betonschirm vor den Fensteröffnungen markiert. Und auch den bekannten Wasserspeier wird man entdecken. All das hadert aber nicht miteinander, es sind die lieb gewonnenen Details von LRO, die wie ein funktional begründeter Schmuck die Fassade bestimmen. Die Vormauerschale aus weiß engobierten Ziegeln bleibt ihr verlässlicher Hintergrund. Erst wollte man die unregelmäßig angeschlagenen Backsteine zurückgehen lassen, dann fand man die Produktionsspuren gerade passend, um dem Haus solide Handwerklichkeit zu geben. Die Ziegel sind ohne senkrechte Mörtelfugen vermauert, nur stumpf gestoßen, was das horizontale Lagern betont – eine Lösung, die Fachplaner und Handwerker zunächst skeptisch kommentierten.
Der Eingang wird durch ein zwischen Kirche und Innenfassade querliegendes Betonvordach markiert. Seine trogartige Faltung soll die Abtrennung des Innenhofs verstärken. Das gelingt ihm leicht, da man nach einer Erklärung für den brachialen Baldachin sucht, der scheinbar eine Verbindung zwischen Kirche und Seminarhaus herstellt. Man darf in das Gartenatrium mit Rosenbäumchen und Säulenbuchen, die die Pfeilerpositionen des verschwundenen Langhauses bezeichnen, zwar hineinsehen, aber es ist kein öffentlicher Ort.
Naheliegendes und Besonderes
Im Foyer, das sich als schmalerer Raum im Winkel zur Gymnasiumstraße fortsetzt, soll auch für Ausstellungen genutzt werden, zur Büchsenstraße schließt eine Cafeteria an. Ein kleiner Saal und einige Gruppenräume (die an der Fassade mit besonderen Fenstern auf sich aufmerksam machen) sind auf kurzem Weg erreichbar. Breite, vor die Wand gesetzte Portale betonen die Türen. Schon der erste Eindruck nimmt vorweg, was das Haus auszeichnet und einem auf Schritt und Tritt folgen wird: Man spürt weder beeindruckende Repräsentation, noch prosaische, nur mit Design behübschte Zweckmäßigkeit, sondern erlebt, was Architektur leisten kann, wenn sie die Balance zwischen Funktion, Handwerk und einleuchtendem Gebrauch findet. Die Architekten wollten „den Besuchern keine Rätsel“ aufgeben, sie nicht mit einer avantgardistischen Umgebung konfrontieren – aber erst recht nicht mit Biederkeit langweilen. Ein Haus muss „auf den ersten Blick nicht enthüllen, wer es geplant hat und wann es gebaut wurde“, heißt es im Werkbuch von Lederer Ragnarsdóttir Oei.
Also ist die Eingangshalle mit Anröchter Dolomit („Grünsandstein“) ausgelegt. Das war der billigste Stein, der zu bekommen war. Er ist unauffällig, praktisch würde der schwäbische Hausmann sagen. Aber dann wenden wir uns nach rechts und werden mit Architektur belohnt: das weiße Haupttreppenhaus, das mit einem breitem Antritt einlädt und einer schwungvollen Brüstung nach oben führt. Die Außenecken sind abgerundet, Licht kommt (neben den LEDs der Handläufe) von einem Oberlicht. Während die Außenwände gleich bleiben, verjüngen sich die Läufe geschossweise, sodass sich das Treppenauge weitet. Damit trifft nicht nur Tageslicht auf die Stufen, sondern es entsteht eine irritierende Perspektive, denn in der Schrägsicht sieht die Skulptur viel komplizierter aus, als sie tatsächlich ist. Die Stufen sind glatt und schmucklos betoniert.
Weiche Hutform
Die Bedeutung des Tageslichts wird im ersten Obergeschoss ein zweites Mal gezeigt, wo sich der große Saal bis unter ein verglastes Pultdach weitet. Sein Deckenprofil ist jedoch weit anspruchsvoller. Es verbindet nämlich mit einer weichen Kurvenlinie aus Birkenleisten die Empore mit der gegenüberliegenden Bühne. Hier senkt sich die Decke für die im Geschoss darüber liegenden Büros wieder ab. Im Querschnitt entsteht eine weiche Hutform, die Nähe zu Aalto fiel den Architekten leicht, aber man könnte auch die Schlitzohrigkeit entdecken, dass damit das Licht, die Höhe, dem Plenum der Synodalen gehört, während die Maßgeblichen auf dem Podium mit dem bescheideneren Raum vorlieb nehmen müssen. Das heißt, das stimmt nicht ganz, denn die Bühnenrückwand wird von den erwähnten kreisrunden Fassadenöffnungen perforiert. Durch mittig über eine mechanische Mimik faltbare Holzplatten lassen sich verschiedene Lichtstimmungen herstellen (Fotos Seite 18 + 19). Das zählt zu den ironischen Zugaben der Architekten. Als Auslauf für den Saal schließt ein Foyer an, dessen Erker mit korrespondierenden Fenstersitzbänken zum Gespräch einladen. Der Rest der Geschossfläche gehört den informell organisierten Büros. Hier trennen weiße Tresenschränke die Bereiche, auch offene Schotten und niedrige Einbauten bezeichnen zwanglos einzelne Abteilungen. Auf dem Boden liegt rotes Linoleum, an der Decke sind – woher kennen wir das gleich noch mal? – Leuchtstoffröhren in taschenförmige Vertiefungen der Gipskartonabhängung montiert. Die Büros im zweiten Obergeschoss folgen der gleichen Anordnung, über dem Foyer wurde eine Wohnung eingerichtet. Mit einer etwas anderen Atmosphäre hat sich dagegen die Landeskirche im dritten und vierten Obergeschoss ausgestattet. Sie wollte herkömmliche Zellenbüros, die sich an langen Fluren auffädeln. Außerdem gibt es hier eine weitere Wohnung.
Sensationen des Alltags
Man wünscht dem Haus Nutzer, die an der praktischen Vernunft und dem bisweilen unvernünftigen Witz der Architektur Gefallen finden. Die Räume sind praktisch und zugleich leise umständlich entwickelt, eben nicht so glatt und leidenschaftslos, wie man es von planenden Ingenieuren erwartet. Vor fast dreißig Jahren habe ich für einen Beitrag im ZeitMagazin das erste Mal Arno Lederer besucht. Ich wollte von Anna Mikula, damals stellvertretende Redaktionsleiterin des Magazins, wissen, was ich in meinem Beitrag beschreiben sollte. Sie sagte, „die Sensationen des Alltags“. Von heute aus betrachtet, ist es genau das, was die Architektur von LRO auszeichnet. 



Fakten
Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei, Stuttgart
Adresse Büchsenstraße 33 70174 Stuttgart


aus Bauwelt 25.2014
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