Wege zu
Mont Saint Michel
Das große Baudenkmal des Mittelalters, halb Festung, halb Kirche, soll nach starker Versandung wieder zu einer Insel werden. Dietmar Feichtinger baute eine neue Brücke
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
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Baustelle der neuen Brücke und links der alte Damm
Luftfoto: Michael Zimmermann
Baustelle der neuen Brücke und links der alte Damm
Luftfoto: Michael Zimmermann
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Eine Sitzbank trennt die beiden Fahrbahnen für die Pendelbusse und den Lieferverkehr vom Fußweg ab
Foto: Thomas Jouanneau
Eine Sitzbank trennt die beiden Fahrbahnen für die Pendelbusse und den Lieferverkehr vom Fußweg ab
Foto: Thomas Jouanneau
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Seit kurzem ist der Steg frei zugänglich.
Foto: Thomas Jouanneau
Seit kurzem ist der Steg frei zugänglich.
Foto: Thomas Jouanneau
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Feierliche Eröffnung mit der Politik
Foto: Thomas Jouanneau
Feierliche Eröffnung mit der Politik
Foto: Thomas Jouanneau
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Untersicht mit den schlanken Rundstützen bei Ebbe. Rechts ist noch der alte Damm zu sehen.
Foto: Isabella Marboe
Untersicht mit den schlanken Rundstützen bei Ebbe. Rechts ist noch der alte Damm zu sehen.
Foto: Isabella Marboe
Architekt Dietmar Feichtinger ist die Begeisterung für sein Bauwerk, der neuen Verbindungsbrücke zum Mont-Saint-Michel, anzumerken. Bereits bei unserer gemeinsamen Fahrt durch die Dörfer zur Insel erzählt er von den vielen Gedanken, die er sich beim Entwurf gemacht hatte, und von den Vorgaben und Wünschen, die es zu berücksichtigen galt und die so ungewöhnlich waren für das Metier eines Architekten. Je näher wir dem Weltkulturerbe der UNESCO an der Grenze der Normandie zur Bretagne kommen, desto mehr Schilder tauchen links und rechts entlang der Landstraße auf, mit denen Touristen aufgefordert werden, Halt zu machen, für einen Café, ein Mittagessen oder einen Einkauf, vor allem der guten Butterkekse der Region, „La Mère Poulard“, die heute angeblich ganz woanders hergestellt werden. Dann endlich ist hinter den weiten Wiesen, auf denen Schafe grasen, im Dunst die Klosterkirche auszumachen. Ein majestätischer Anblick. Wer vermutet, nun geradewegs auf die Insel zu gelangen, wird enttäuscht. Es dauert noch eine ganze Weile, denn nach umständlicher Verkehrsführung endet die Fahrt rund 2,5 Kilometer von der Insel entfernt an einem riesigen Parkplatz mit Besucherzentrum, alles neu und in viel Grün eingebettet.
Wir wollen nicht in den Design-Pendelbus mit hölzerner, edel gefertigter Rundum-Verkleidung steigen, der vorne und hinten einen Fahrerplatz aufweist, da auf der Insel nicht gewendet wird. Eigentlich sind diese Busse in einfacherer Ausführung für das Rollfeld von Flughäfen gedacht.
Wir gehen zu Fuß den weiten Weg Richtung Meer und erreichen zunächst einen für den Ort beschämenden „Strip“ mit Hotels, Restaurants und Imbissen, der für einen Moment den Blick in die Weite verschandelt. Dann erst betreten wir das Werk von Dietmar Feichtinger, das auf einer Gesamtlänge von 1845 Metern bis zum Mont-Saint-Michel führt.
„So einfach wie möglich, um in der Harmonie des Ortes zu bleiben.“ Der Architekt wollte nicht mit dem berühmten Berg in Konkurrenz treten. Schon hier, zu Beginn des Wegs, wird diese Intention unmittelbar deutlich. Der Besucher betritt einen flachen, 1085 Meter langen Damm und dann die 760 Meter lange Brücke – ohne jede architektonische Geste. Er geht die gesamte Strecke auf Holzbohlen. Die besondere Breite erklärt sich dadurch, dass zwei Fahrstreifen gefordert waren, nicht allein für die Busse, sondern auch für den gesamten Lieferverkehr zum Mont-Saint-Michel. Und der ist beträchtlich, denn unterhalb der Festung liegt das Dorf, früher mit einfachen Herbergen für die Pilger, heute vollgestopft mit Touristenshops, Restaurants und einigen Hotels. Bewohner gibt es kaum, es sollen noch um die 40 sein. Touristen gibt es hingegen zu viele, bis zu drei Millionen im Jahr. In der Hochsaison herrscht hier Massenbetrieb.
Die Insel
Bereits 2002 hatte der ursprünglich aus Graz stammende und in Montreuil bei Paris lebende Architekt Feichtinger den eingeladenen Wettbewerb gewonnen. Es folgten Jahre der Optimierung des Gesamtprojekts und der Ausarbeitung mit den Tragwerksplanern. Der Architekt kennt sich im Brückenbau aus. Er hat u.a. die Fußgängerbrücke über die Seine zur französischen Nationalbibliothek und die neue Brücke in Weil am Rhein gebaut. In Lyon steht eine von ihm entworfene Fußgängerbrücke über die Rhône vor der Fertigstellung. Und nun Saint-Michel.
Warum überhaupt ein neuer „leichter Steg“? Schon seit vielen Jahren füllt sich die große Bucht mit dem Mont-Saint-Michel mehr und mehr mit Ablagerungen. Die Gründe hierfür reichen weit zurück. Mitte des 19. Jahrunderts wurden gleich drei Küstenflüsse, Couesnon, Sée und Sélune, umgeleitet, um 2450 Hektar Polderfläche zu gewinnen. Fortan spülten sie den bei Flut in die Bucht eindringenden Sand nicht mehr richtig ins Meer zurück. Der 1869 angelegte Straßendamm zur Insel behindert den freien Abfluss bei Ebbe zusätzlich. Das Centre des Monuments nationaux geht davon aus, dass es rund 100 Millionen Kubikmeter Sediment sind, die sich inzwischen in der Bucht abgelagert haben. Dies führte dazu, dass das 0,6 Quadratkilometer große Eiland nicht mehr umspült wird und den Charakter einer Insel verloren hat. Der sandige Fuß von Mont-Saint-Michel ist heute drei Meter höher. Damit der besondere Reiz des „Caractère maritime“ gewahrt bleibt und das Wasser wieder frei aus der Bucht abfließen kann, kam vor zwanzig Jahren die Idee auf, ein aufwendiges Unternehmen der Renaturierung zu starten.
Vor fünf Jahren wurde zunächst ein Staudamm am Fluss Couesnon fertiggestellt, dessen Mündung sich gegenüber dem Mont-Saint-Michel befindet. Dieser Damm bildet die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen. Er ist heute als „Balcon maritime“, eine breite Promenade mit weitem Blick auf die Bucht, Teil des Besichtigungsprogramms der Touristen. Mit dem Damm bil-det sich bei Flut ein Stausee, der bei Ebbe wieder leertläuft. Dadurch ergibt sich eine Strömung, die den Abfluss zurück ins Meer verstärkt.
Bevor der neue Steg errichtet wurde, befanden sich bei Ebbe rechts und links des Damms die Parkplätze der Touristen (Foto Seite 36). Die Händler mit ihren Läden und die Gastronomie-betreiber im Dorf protestierten zunächst dagegen, dass es unmittelbar vor der Insel keine Parkplätze mehr geben sollte. Erst nach sehr zähen Verhandlungen konnte das Projekt mit der Gewährung von Vergünstigungen und mit einer höheren Frequenz für die Pendelbusse, durchgesetzt werden.
Konstruktion
Die Verbindungsbrücke setzt sich aus 120 Meter langen Einzelelementen zusammen. Diese liegen nicht auf Neoprenauflagen auf, sondern bilden mit den Rundstützen robust verschweißte Einheiten. An den Enden jeder Einheit befinden sich Doppelstützen und große, eigens von den Architekten entworfene Dehnfugen. Diese gewähren eine gewisse Elastizität und kommen trotzdem der Forderung nach, den Steg mit bis 38 Tonnen schweren Transportfahrzeuge befahren zu können. Die 134 Rundstützen aus Stahl haben eine Wanddicke von sechs Zentimetern. Der Durchmesser der Stützen wurde auf 25 Zentimeter minimiert, damit dem ein- und abfließenden Was-ser wenig Widerstand wie möglich geboten wird.
Die unbehandelten, etwas an Schiffsplanken erinnernden Holzbohlen aus Eiche sind auf beiden Seiten der Fahrbahnen präzise eingefügt. Der Asphalt wurde wassergestrahlt und poliert. Die Breite der Fußwege ist unterschiedlich. Entsprechend der fließenden Veränderungen sind auch die Querschnitte der alle drei Meter liegenden Querrippen verschieden lang und hoch. Kurz vor der Insel, dort wo die Pendelbusse ankommen, sind die Fußgängerflächen deutlich breiter, um genügend Raum für den Ein- und Ausstieg
zu haben. Eine lange Sitzbank aus Betonfertigteilen begleitet den Fußweg über die Bucht, lädt zum Verweilen ein und begrenzt ihn zu Fahrbahn hin. Leider sind die glatten Sitzplatten an manchen Stellen bereits etwas wackelig, da sich durch „Sportübungen“ von Touristen auf den Bänken die Verankerungen gelockert haben. Die Einfassungen der Fahrbahnen aus Stahlblech wurden nicht so präzise ausgeführt, bei der langen, nur sehr leichten Krümmung (3 Zentimeter auf 12 Meter) passen sie nur ungenau aneinander. Das Geländer mit breiten Handläufen aus Holz und dünnen Stahlseilen, die auf der ganzen Länge des Stegs verspannt wurden, treten ebenfalls nicht besonders in Erscheinung. Unter der Brücke liegen alle Versorgungsleitungen für die Insel verborgen. Eine neue Pumpstation am Berg stellt sicher, dass auch das Abwasser zum Festland gelangt.
Sitzbank als Lichtband
Bei der Lichtplanung nahm sich der Architekt ebenfalls deutlich zurück. Auf Laternenmasten oder Ähnliches wurde verzichtet. Nur die Unterseite der Sitzbank leuchtet bei Dunkelheit als langes Band. Die Wegführung über den Steg wird allein durch eine Reihe kleiner runder Positionslampen im Boden markiert. So behält die abends prachtvoll illuminierte Insel ihren Status als weit sichtbares Zeichen. Der alte Damm, der wie ein Deich für die Bucht funktioniert, soll nach endgültiger Fertigstellung und Inbetriebnahme des neuen Stegs komplett abgebaggert werden. Erst dann wird die neue Situation für die Wasserzirkulation wie geplant funktionieren. Feichtinger war es von Anfang an wichtig, dass der Steg diesen weiten Schwung vollzieht. Der Besucher läuft nicht direkt auf die Kirchturmspitze zu, sondern muss einem Bogen folgen, den der Steg beschreibt, um die Insel schließlich etwas seitlich über einen neuen Vorplatz zu erreichen. Auch damit will der Architekt dem neuen Bauwerk seine Dominanz nehmen und dem Besucher, der die ganze Zeit des Weges auf das Meer blickt, die Einbindung der Insel in die Bucht vor Augen führen: „Der Weg führt an den Berg, nicht zum Berg“.
Wie zeigt sich die Felseninsel heute? Das Dorf, das man mit dem Schritt auf die Insel betritt, mit dicht an dicht gezwängten Shops für Touristenramsch, fand schon Erwähnung. Etwas höher, am Rundgang auf den alten Schutzmauern, liegen zum Festland hin Restaurants, den Berg hoch staffeln sich einige Wohnhäuser.
Mittelalter
Nach dem Aufstieg über Treppen, teilweise von mächtigen, hoch aufragenden Mauern der Festung eingefasst, erreicht man die Klosterkirche aus dem 11. Jahrhundert. Vor ihr liegt ein zum Meer hin offener Platz. Die Kirche selbst ist, verglichen mit der imposanten Gesamtanlage, klein. Sie verfügt aber über einen auffälligen spätgotischen Chor von 1446. Nach einem Brand im 18. Jahrhundert drohten die ersten drei Joche des Kirchenschiffs einzustürzen. Sie wurden kurzerhand abgebrochen und die Fassade, zum Platz zurückversetzt, neu errichtet. So erscheint das Langhaus heute merkwürdig proportioniert. Im 19. Jahrhundert folgte die Überformung mit der 32 Meter hohen Spitze des Vierungsturms durch den Architekten Victor Petitgrand, die eine Statue des Erzengels Michael ziert.
Architektonisch besonders interessant sind auch die angrenzenden Bereiche der Kirche, das sogenannte „Merveille“ mit drei großen, übereinander liegenden Sälen, jeweils im Ost- und im Westflügel (Ansicht und Schnitt Seite 34). Dort ist auch der Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert mit holzvertäfelten Rundbögen eingefügt.
Außen wird dieser Bereich mit gewaltigen Strebenpfeilern abgestützt. Beim Rundgang gelangt man in die Krypta und weitere Säle, so auch zur Vorratskammer mit zwei Reihen extrem breiter Pfeiler, alles Räume von großer Prägnanz. Dennoch bleibe ich etwas skeptisch, ob es sich tatsächlich überall um authentische Räume aus dem Mittelalter handelt. Man stößt auf Orte, die einem etwas zu „mittelalterlich“ erscheinen, bestens geeignet für Filmkulissen.
Die Abteikirche wirkt nüchtern und als würde sie kaum genutzt. Ende des 18. Jahrhunderts lebten gerade noch zehn Benediktinermönche im baufälligen Kloster. Ab 1793 diente es als Gefängnis, nach 1863 kamen die Mönche wieder, aber das Kloster hatte lange nicht mehr seine ursprüngliche Bedeutung. Wie viele Besucher der Insel heute noch als Pilger zur Klosterkirche und ihren wenigen Mönchen kommen, ist nicht bekannt.
Springflut
Die Gezeitenunterschiede sind in der Bucht des Mont-Saint-Michel sehr groß. Bei einer Springflut liegt die Differenz bei 14 Metern. Das Schauspiel der sich nähernden Flut ist beeindruckend, fast schon beängstigend. Das Wasser steigt rasend schnell. Manche Wattwanderer, die sich auch gerne in Richtung der kleinen, 2,3 Kilome-ter entfernten Nebeninsel Tombelaine aufmachen, unterschätzen die Geschwindigkeit, da es auch zahlreiche Sandbänke gibt, die zunächst nicht überflutet werden.
Bei einer solchen großen Flut, siebzig Mal im Jahr, soll dann, wenn alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, der Mont-Saint-Michel wieder als Insel erlebbar sein. Dies wird ereicht, weil das letzte Stück Steg vor der Insel etwas tiefer liegt und in diesem besonderen Moment rund 17 Mal im Jahr am Morgen und am Abend für ein bis zwei Stunden unter Wasser steht. Eine gelungene, aber mit großen Mühen und Kosten erreichte Inszenierung. Bei unserem Besuch am 9. September ist Vollmond und der höchste Stand des Wassers am Abend erreicht.
Es ist schon dunkel als wir den Rückweg zum Festland antreten. Nachdem wir auch den „Saint-Michel-Strip“ mit dem grellen Licht hinter uns gelassen haben, sind wir endlich wieder am riesigen, nur mäßig beleuchteten Parkplatz für 4000 Fahrzeuge angelangt, der vor lauter, mit großer Sorgfalt gepflanzten Büschen und Bäumen nicht zu überblicken ist. Mit etwas Glück finden unser am Morgen geparktes Auto.
Fakten
Architekten
Dietmar Feichtinger Architectes, Montreuil/Paris und Wien; Schlaich Bergermann und Partner, Stuttgart/Berlin
Adresse
50170 Le Mont-Saint-Michel, Frankreich
aus
Bauwelt 42.2014
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