Bauwelt

Wohnbau


Wohnen am Mittleren Ring


Text: Kleilein, Doris, Berlin


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Im Münchner Stadtteil Bogenhausen haben Léon Wohlhage Wernik Architekten eine Lärmschutzbebauung realisiert, die an einem der unwirtlichsten Orte der Innenstadt eine verblüffend hohe Wohnqualität anbietet und auch die vorbeirasenden Autofahrer nicht vergisst.
Sechs Jahre lang wurde an dem neuen Tunnel unter der Richard-Strauss-Straße im Münchner Osten gebaut, jetzt verläuft der Verkehr auf einer Länge von eineinhalb Kilometern fünfspurig unter der Erde. Obenauf, so erzählen es die Render­ings des Münchner Stadtplanungsamtes, soll nur noch eine kleine Straße mit einer Fahrspur in jede Richtung fortbestehen, gesäumt von Fahrradwegen, Bäumen und Grünanlagen. Ledig­lich an jenem Abschnitt des Mittleren Rings südlich des Effner­platzes, an dem kürzlich die neue Lärmschutzbebauung von Léon Wohlhage Wernik fertiggestellt wurde, tauchen täglich bis zu 100.000 Autos an die Oberfläche, rasen knapp 300 Me­ter die gestaffelten Fassaden in Grüntönen entlang und verschwinden wieder.

Lautes Grün und ruhiges Weiß

Hinter der grünen Wand liegt eine typische Siedlung der fünfziger Jahre: sechs im rechten Winkel zum Ring stehende Zeilenbauten mit kleinen, aber gut geschnittenen Wohnungen und Zwischengrün, in das der Verkehrslärm über Jahrzehnte ungehindert schallte. Heute ist es in den Wohnhöfen so ruhig wie auf dem Land; Stadtvögel, daran gewöhnt, gegen 80 Dezibel anzuzwitschern, beherrschen die Geräuschkulisse. Léon Wohlhage Wernik haben mit ihrer 274 Meter langen Lärmschutzbebauung nicht nur zwei akustische, sondern auchzwei Wahrnehmungswelten architektonisch präzise voneinander getrennt: Die Autofahrer nehmen die grüne Fassade im Vorbeirasen als rhythmisierte, abstrakte Erscheinung wahr: geschlossen von Norden, offen gen Süden, jeweils zwei Geschosse hinter einer grün verputzten Fläche zusammengefasst. Nur die weißen Giebel des Bestandes, die alle vierzig Meter aufblitzen, weisen darauf hin, dass sich hier Wohnun­gen befinden. Den Bewohnern hingegen, ob alt oder neu, bieten die Architekten mit den fünf Erschließungshöfen einen differenzierten Übergang zwischen laut und leise an, der gegenüber der puren Fassade architektonisch eher problematisch erscheint, aber dafür erstaunlich gut funktioniert.
 
Wand mit Schlupflöchern

Ein frisch gepflasterter, verwaister Bürgersteig führt „draußen“ an der grünen Wand entlang und zeichnet den hunderfachen Versatz der grünen Fassade sauber nach. Dort laufe ich mit Herrn Unterpaintner, dem Bauherrenvertreter der Bayerischen Versorgungskammer, und verstehe kaum ein Wort von dem, was er sagt. Er weist mich auf eine unscheinbare, anthrazitfarbene Metalltür in der Wand hin: Sie ist nicht abgeschlossen, der Knauf lässt sich drehen, und doch benutzen ihn normalerweise nur die Anwohner, um dem tosenden Lärm vor dem Haus zu entkommen und wie Alice im Wunderland in einen kleinen Vorhof zu schlüpfen. Hier ist es bereits deutlich ruhiger, ich stehe in einem merkwürdigen, aber nicht unangenehmen Zwischenbereich: Der Blick fällt frontal auf die Giebelwand des Bestandes, auf der Don Quichotte die Lanze schwingt – die Wandmalerei hat sich erhalten aus den fünfziger Jahren, erscheint in dem neuen Hof aber wie ein archäologisches Fundstück aus vergangenen Jahrhunderten. Zwei haushohe, transluzente Lärmschutzwände rahmen die Giebelwand ein und schließen die Lücken zwischen den Neubauten und dem Bestand: Es knirscht! Hätten die Architekten hier nicht eine andere Lösung finden können? Die Ecke offen lassen oder die Neubauten direkt an die Fünfziger-Jahre-Zeilen anbauen? Oder die neue Bebauung ganz durchziehen? Die Antwort wartet einige Betonstufen weiter oben hinter einer weiteren Tür, die durch die transluzente Lärmschutzwand hindurch in den großen Wohnhof führt: endlich Ruhe! Und trotzdem Licht! Die Balkone und Loggien der sanierten Wohnzeilen reichen ohnehin schon empfindlich nahe an die neuen Nachbarn im Vorderhaus heran, so dass ein die Ecke schließender Anbau tatsächlich aufdringlich gewesen wäre. Die Architekten haben eine kleinteilige, pragmatische Lösung gewählt, die eine beinahe surreale Übergangszone schafft, den Nutzern aber große Vorteile bringt.
Vier dieser kleinen, nur etwa 40 Quadratmeter messen-den Erschließungshöfe gibt es, jeweils einen vor den Giebelwänden des Bestandes: Über diese werden seitlich die Neubauten erschlossen, zudem dienen sie den Altmietern als gewohnte Abkürzung zum Mittleren Ring. Nur am Kopf der Bebauung im Süden führt die Erschließung direkt ins Haus – hier sind Büroflächen realisiert worden, deren Fassade beige abgesetzt ist. Im Gegensatz zu den 90 Neubauwohnungen und den 190 sanierten Wohnungen des Bestands stehen diese zum Teil noch leer.

Ein übrig gebliebenes Stück Straße

Die Möglichkeit, den Bestand derart aufzuwerten, war den Bauherren eher beiläufig zugefallen: Im Zuge der Tunnelplanung wurde der Straßenverlauf des Mittleren Rings um einige Meter von den Wohnzeilen weggerückt. Ein langer, schmaler Reststreifen stand unerwartet zum Kauf, der fünf Meter an der breitesten Stelle maß und nur zehn Zentimeter an der schmalsten – ein unwirtschaftliches Baufeld, das zudem noch im Lauf der weiten Kurve von Norden nach Süden um etwa eineinhalb Meter abfällt. Die Bauherren nahmen die Herausforderung an und luden 2004 sieben Büros zu einem Wettbewerb ein, den die Berliner Architekten für sich entscheiden konnten, vor bogevischs büro und Fink + Jocher aus München.
Die realisierten sechs Kettenhäuser sind daher, dem Verlauf des Grundstücks folgend, nicht ganz baugleich. Am Nord­ende der Häuserwand liegt der größte Baukörper mit einer Gebäudetiefe von bis zu 12,50 Metern, im Süden sind es nur noch zehn Meter. Die innere Struktur weist Varianten auf, folgt aber dem gleichen Prinzip: Im Erdgeschoss orientiert sich ein großzügiges, lang gezogenes Entree zur Straße hin, zur Hofseite sind Abstell- und Fahrradräume angeordnet. Die mit ruhigen Loggien ausgestatteten Wohnungen beginnen im ersten Obergeschoss: Jeweils zwei kleinere Wohnungen sind ausschließlich nach Westen zum Wohnhof hin orientiert; eine Zwei- und eine Dreizimmer-Wohnung sind durchgesteckt mit einem zwischen Straße und Hof gespannten Wohn- und Essraum. 12,50 Euro/m2 kalt kostet die Miete, die Wartelisten sind lang. Immobilienentwickler sehen die Mieten beiderseits der verkehrsberuhigten Trasse weiter steigen. Die Stadt München hat die 317 Millionen Euro für den Tunnelbau gut investiert.



Fakten
Architekten Léon Wohlhage Wernik Architekten, Berlin
Adresse Amberger Straße 20a, 20, 30, 40 und 50; 81679 München


aus Bauwelt 21.2010
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