Wohnquartier
Studenten im Überseecontainer
Text: Namias, Olivier, Paris
In Le Havre hat die örtliche Baubehörde für Schul- und Universitätsbauten Clous ein Wohnquartier für Studenten errichtet. Als Basis dienen genormte Überseecontainer von 12,90 Meter Länge. Jenseits aller Kritik erweist sich ein unvoreingenommener Blick auf das Experiment „A’Docks“ des Architekten Alberto Cattani und seiner Tochter Charlotte als lohnend.
Erfunden wurde der Überseecontainer 1956 von einem kleinen Transportunternehmer. 55 Jahre später ist er längst das Symbol für eine globalisierte Welt, und seit einiger Zeit inspirieren Container Architekten in aller Welt bei ihrer Suche nach Lösungen für günstigen Wohnraum – dabei werden die großen Kisten auch noch recycelt! In Massen schwemmen die meist in Asien produzierten Transportboxen in die europäischen Häfen: 100 Millionen Überseecontainer waren 2010 im Umlauf. Seit dem ersten Vorstoß des Zürcher Taschenherstellers Freitag vor fünf Jahren (Bauwelt 25.2006) schossen die Nachnutzungsprojekte wie Pilze aus dem Boden, und die anfangs als innovativ und provozierend wahrgenommene „Cargotecture“ ist inzwischen fast schon zu einer abgedroschenen Plattitüde geworden, die man gelangweilt bis gereizt durchwinkt.
Das anfängliche Überraschungsmoment dieser Architektur schlug rasch um, geriet zum Inbegriff einer missverstandenen Patentlösung. Auf die Container-Shops folgten die Container-Büros, -Apartments, -Hotels und -Wohnheime. Vorreiter waren die Niederländer, die die ersten Wohnungsangebote für Studenten in Überseecontainern präsentierten. Bereits in den achtziger Jahren experimentierte man in Delft mit dem Algeco-Container-Typus als Wohncontainer, verantwortlich für die damalige Versuchsreihe war eine Agentur mit dem programmatischen Namen „Gimme Shelter“ nach dem berühmten Titel der Rolling Stones. Man könnte hier weitere Beispiele anfügen.
Wie so oft machte das holländische Vorbild auch hier Schule: Vor einem Jahr weihte man in Le Havre ein Ensemble von 101 Studentenwohnungen in ausgebauten Containern ein. Der Entwurf von Cattani Architectes setzte sich in einem eingeladenen Wettbewerb für innovative Studentenwohnungen durch. Gleich vorweggenommen: Die Idee, Studenten in für den Warentransport gedachten Kisten unterzubringen, stieß in Le Havre nicht überall auf Zustimmung.
Eine Reihe von Argumenten sprach allerdings für eine solche Lösung: zum einen die verfügbaren Mengen in der Hafenstadt und der Umstand, dass sich zahlreiche Architekten mit Nachnutzungskonzepten für Container auseinandersetzten. Auch dass man Container an andere Orte versetzen kann, spielte eine Rolle: Die Stadt hat das Baugelände vorerst für eine Dauer von zehn Jahren zur Verfügung gestellt. Nach Ablauf dieser Frist könnte die Wohnanlage leicht woanders aufgestellt werden. Auch wenn derartige mobile Konzepte nach niederländischem Vorbild in Frankreich, wo ein Provisorium nur allzu oft endgültigen Charakter annimmt, eher unrealistisch scheinen, war dennoch dies die Grundidee, die den beteiligten Architekten als Ausgangspunkt vorgegeben war.
Windlast und Abwasserregulierung
Abgesehen von Ähnlichkeiten, die sich aus dem gleichen Ausgangsmaterial ergeben, entwickelt jede Cargotecture ihre eigenen spezifischen Merkmale. In Le Havre wurden die Container auf eine eigenständige Sockelkonstruktion gestellt, womit Probleme wie die Verankerung gegen Windlasten und die Abwasserregulierung gelöst wurden. In erster Linie ging es dabei allerdings um die Erfüllung von Auflagen, insofern, als die gestapelten Container für eine zulässige Maximallast von einer Tonne pro Quadratmeter ausgelegt sind, also weit mehr als die Nutzlast bei einer Verwendung als Studentenwohnung. Weitere Vorteile: die deutlich einfachere Installation von Zu- und Abwasserleitungen und eine symbolisch-visuelle Abgrenzung von den aufgetürmten Containerstapeln, die man von den Hafendocks kennt.
Größten Wert legten die Architekten auf einen sorgfältig geführten Ursprungsnachweis des „Baustoffs“. Wegen der Nutzung als Wohnraum musste ausgeschlossen sein, dass in den Containern Giftstoffe transportiert worden sind, noch durften sie mit Pestiziden oder anderen toxischen Stoffen behandelt worden sein. Wie die meisten anderen Überseecontainer hatten die hier verwendeten vor ihrer Transformation nur eine einzige Seereise gemacht: Die weitaus größere Menge an Waren wird von Ost nach West transportiert, und es ist gängige Praxis, dass die Frachtgesellschaften lieber neue Container ordern, anstatt für eine Rückführung ihrer Transportboxen aufzukommen.
Der Umbau zu Wohnraum wurde in den Werften des Hafens von Le Havre durchgeführt, wobei man teilweise auf vorgefertigte Lösungen zurückgriff. Die Dämmschicht und die Verkleidung im Innern der Container hatten eine Verringerung der nutzbaren Fläche um je 40 Zentimeter in Breite und Höhe zur Folge. Die lichte Höhe der Decken beträgt 2,40 Meter bei 25 Quadratmetern Wohnfläche. Die Dauer des Umbaus und der Fertigstellung konnte auf sechs Monate beschränkt werden, ein erheblicher Vorteil. Die Gesamtkosten des Projekts belaufen sich auf 1600 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Das erscheint auf den ersten Blick nicht besonders niedrig, allerdings sind in dieser Summe auch Posten wie Vorbereitung und Erschließung des Baugrundstücks enthalten. Zugleich muss daran erinnert werden, dass dieses Projekt das erste seiner Art in Frankreich ist: Durch die hier gesammelten Erfahrungen werden sich künftig manche Fehler vermeiden lassen, außerdem wird man gewisse überflüssige Kosten möglicherweise umgehen können, etwa die gewöhnlich für Wohnbauten zwingend vorgeschriebene Brandmauer aus Beton, die zwischen die voneinander vollkommen unabhängigen Wohnzellen eingezogen werden musste.
Abschließendes Votum
Ein am 28. Januar in „Le Monde“ erschienener Kommentar machte großes Aufheben um die Sorgen der Container-Bewohner: Sorgen hinsichtlich der Standfestigkeit, Eindringen von Feuchtigkeit in einigen Wohnungen und Schimmelbildung sowie mangelnde akustische Dämmung. Im Vergleich zu den Unzulänglichkeiten, die man von der überwältigenden Mehrheit aller Bauvorhaben – Container oder nicht – gewohnt ist und die im Übrigen bei den Vorschriften für die Bauabnahmen bereits mit einkalkuliert sind, weisen Architekten und Bauherren auf eine unsachgemäße Nutzung hin: Angeblich haben Studenten die Lüftungsklappen für die Kaltluftzufuhr blockiert und damit dem Schimmel Vorschub geleistet; die beanstandeten Erschütterungen werden auf den im Hafengebiet starken Lastwagenverkehr zurückgeführt. Darüber hinaus erfüllt die Wohnanlage alle einschlägigen Auflagen zum Lärmschutz.
Trotz der Bedenken zeigen sich die Studenten mehrheitlich zufrieden mit ihren neuen Unterkünften. Thierry Capron, der vom Bauherrn Clous eingesetzte Verwalter für die Anlage, bestätigt, dass 35 Prozent der Studenten einen Antrag auf Verlängerung in der Containerstadt gestellt hätten, während der Schnitt für die anderen von ihm verwalteten Wohnheime bei etwa 32 Prozent liegen soll. Die Studenten sind vielleicht sogar stolz darauf, an einem Ort zu wohnen, der in Frankreich einzigartig ist, wobei das Wohnheim von Le Havre im Ausland auf größere Resonanz stößt als in Frankreich.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke
Fakten
Architekten
Cattani, Alberto, Paris; Cattani, Charlotte, Paris
Adresse
Quai de la Saône, 76600 Le Havre, Frankreich
aus
Bauwelt 33.2011
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