Bauwelt

Zerlegt und zerkleinert


Von Bijlmermeer, dem Amsterdamer Großversuch einer Wohnsiedlung, steht heute noch rund die Hälfte. Stigmatisierung, hohe Mieten und Leerstand führten zu Abriss, Neubau und Verkauf. Dass es auch andere Wege der Erneuerung gibt, zeigt Hoogvliet in Rotterdam


Text: Verlaan, Tim, Amsterdam; Loerakker, Jan, Kopenhagen


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    Das frühe Bijlmermeer von 1970
    Foto: Pieter Boersma

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    Das frühe Bijlmermeer von 1970

    Foto: Pieter Boersma

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    Wohnen in der Wabe
    Foto: Pieter Boersma

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    Wohnen in der Wabe

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    Bijlmermeer heute: Seit 1990 wurde rund die Hälfte des Bestandes abgerissen und durch Neubau ersetzt
    Foto: Siebe Swart

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    Bijlmermeer heute: Seit 1990 wurde rund die Hälfte des Bestandes abgerissen und durch Neubau ersetzt

    Foto: Siebe Swart

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    Die bis 2012 abgerissenen Gebäude (rot)
    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Die bis 2012 abgerissenen Gebäude (rot)

    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Die zwischen 1992 und 2012 neu errichteten Gebäude (rot)
    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Die zwischen 1992 und 2012 neu errichteten Gebäude (rot)

    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Geplanter Neubau (violett)
    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Geplanter Neubau (violett)

    Quelle: Projectbureau Vernieuwing Bijlmermeer

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    Die Villa – eine Mehrzweckhalle von FAT architecture im Norden von Hoogvliet
    Foto: Rob Parrish

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    Die Villa – eine Mehrzweckhalle von FAT architecture im Norden von Hoogvliet

    Foto: Rob Parrish

Die Großsiedlung Bijlmermeer – kurz Bijlmer – bot alles, was sich die Mitglieder der CIAM als vollendetes Wohnglück vorstellten: 9- bis 15-stöckige Häuserkomplexe, deren Wohnblöcke wabenförmig angeordnet sind, in grüner Umgebung, Einkaufsmöglichkeiten in fußläufiger Entfernung, einen getrennten Auto- und Fußgängerverkehr und Gemeinschaftsräume, die für ein wohliges Miteinander sorgen sollten. Doch schon bald nach Fertigstellung der Anlage Anfang der siebziger Jahre wurde deutlich, dass der erwartete Ansturm auf die Wohnungen ausbleiben würde. Teure Mieten, hohe Festkosten und Baumängel schreckten potenzielle Mieter ab. Die Gestaltungsqualität des Viertels stand in keinem Verhältnis zu den Kosten. Dass sich Bijlmermeer als attraktiver Lebensraum nicht durchsetzte, lag aber vor allem an alternativen Wohnformen, die parallel an Beliebtheit gewannen. Ende der Sechziger entdeckte ein junges Milieu die Vorzüge der gründerzeitlichen Innenstadt neu – zum Verdruss vieler Stadtplaner. Gleichzeitig zog es die klassische Bijlmer-Zielgruppe in die Reihen- und Einfamilienhäuser der Amsterdamer Umgebung.
Zunehmender Leerstand, wachsende Kriminalität und Vandalismus führten zu einer Spirale des Niedergangs, die Bijlmer ab Mitte der siebziger Jahre einen überregional schlechten Ruf einbrachte. 1983 wurde der erste Rettungsversuch gestartet: Überwachungskameras, Sicherheitsbeamte, Neugestaltung der Freiräume. Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Ende der Achtziger gab es für ein Team aus Politikern, Wohnungsgesellschaft und Lokalunternehmen nur noch eine Lösung: eine umfassende Erneuerung.
Ein Viertel der Gebäude sollte abgerissen und durch „beliebtere“ ein- bis zweigeschossige Wohntypologien ersetzt, ein weiteres Viertel aufgewertet und an höhere Einkommensschichten verkauft und der Rest für Menschen mit kleineren Einkommen instandgesetzt werden. Zum ersten Mal wurden damit das schlechte Image und die sozialen Probleme der Siedlung eindeutig mit ihrer gebauten Gestalt in Verbindung gebracht. Der Absturz eines Frachtflugzeuges in eines der Wohngebäude am 4. Oktober 1992 beförderte die Abrissdebatte noch.
Seit den Neunzigern wurde der alte Gebäudebestand, damals noch 95 Prozent, nach und nach auf 45 Prozent reduziert. Viele Mieter erhielten Ersatzwohnraum – überwiegend Einfamilienhäuser mit Garten – in der Umgebung. Zusätzlich wurde der Siedlung ein neues Unterhaltungsareal mit Fußballstadion, Konzerthalle, einem Multiplex-Kino und Geschäften als „urbanes“ Gesamtpaket eingepflanzt. Bemerkenswerterweise sprach sich die Mehrheit der Bijlmer-Bewohner ohne Zögern für das Erneuerungsprogramm aus. Nur einige der älteren Bewohner kritisierten die geplante Gestaltung als „einfallslos“. Das Image der Siedlung als Ort mit sozialer und funktionaler Monokultur war so stark – und so verhasst –, dass Baumaßnahmen auf Grundlage der charakteristischen, wabenförmigen Originalpläne nicht mehr in Frage kamen.
Während das Erneuerungsprogramm vielen Bewohnern erlaubte, in der Gegend zu bleiben, galt das für Neubauviertel andernorts in den Niederlanden keineswegs. Die meisten der zwischen 1990 und 2010 durchgeführten Maßnahmen zielten darauf ab, Mittelschichtbewohner anzulocken und Luxus-Wohnungen anzubie-ten. Für finanziell Schwächere und für soziale Aufsteiger aus der Umgebung waren sie unerschwinglich.
Erste Rettung eines Originals
2013 gab es in Bijlmer erste Zeichen des Umdenkens. Ein Konsortium rettete einen der letzten wabenförmigen Bijlmer-Komplexe vor dem Abriss, indem es dessen 500 Wohnungen zum Verkauf anbot. Während der Bauträger für die Renovierung der Fassade und der Infrastruktur des Gebäudes aufkommt, verpflichten sich die Käufer, die Innenräume – in den meisten Fällen nichts weiter als eine Betonhülle – zu sanieren und zu renovieren. Der Preis für eine 60-Quadratmeter-Wohnung: 65.000 Euro.
In einer Werbekampagne mischt das Konsortium Bilder der Grundsteinlegung mit der Stereotypisierung der Siedlung als neuem, multikulturellem Hot Spot. Neuankömmlinge, so eine Aussage der Kampagne, würden zu Abenteurern im unerforschten Betondschungel. Trotz der typischen Verkaufssprache bietet dieses Sanierungsprogramm eine bezahlbare und nachhaltige Alternative zur üblichen Abriss-Neubau-Prozedur. Neu-linge auf Amsterdams überhitztem Wohnungsmarkt können hier vergleichsweise günstig in einen ehemals verspotteten Geschosswohnungsbau investieren. Auch wenn sich Anzeichen von Gentrifizierung erkennen lassen, ist die Variante „Ausverkauf“ eine bessere Lösung, als die Gebäude abzureißen – und den Wohnraummangel zu verstärken. Zugleich wird ein Erbe der Architekturmoderne für eine jüngere Generation bewahrt, die weniger Vorurteile gegenüber Bijlmermeer zu haben scheint als ihre Eltern.
Ein weiteres niederländisches Stadtgebiet, das einer radikalen Erneuerungskur unterzogen wurde, ist Hoogvliet in Rotterdam. Das Wohnviertel der Nachkriegszeit wurde, inspiriert von der britischen Gartenstadtbewegung, zeilenförmig um einen alten Dorfkern am südwestlichen Stadtrand gelegt. Doch schon zwanzig Jahre später, Anfang der Siebziger, galt die Siedlung als Planungskatastrophe.
Welcome into My Backyard!
Es häuften sich Klagen über beengte Wohnverhältnisse und eine fehlende Instandhaltung. Schließlich forderten Bewohner eine Erneuerung ihrer Siedlung. Der Vorschlag der Politik, den Bestand, wie in Bijlmermeer, abzureißen und durch Niedrigbauwohnungen – überwiegend für die Mittelschicht – zu ersetzen, stieß jedoch auf Kritik der Wohnungseigentümer. Gefragt war ein neuer, radikal anderer Weg, der letztlich von der linken Grünen-Partei der Stadt initiiert wurde. 1997 startete das Rotterdamer Planungsteam Crimson Architectural Historians ein Rettungsprogramm namens WiMBY! – Welcome into My Backyard. Hoogvliet sollte zu einem Modell für experimentelle Stadterneuerung des Nachkriegsstädtebaus werden (Bauwelt 4.2003). Das Programm zielte nicht nur auf eine bessere Zusammenarbeit von Bewohnern, Planern, Wohnbaugesellschaften und Politikern ab. Es sollte auch anregen, die lokalen Machtverhältnisse zu hinterfragen. Gerade der Sieg über eine festgefahrene Bürokratie war wohl die größte Errungenschaft der WiMBY!-Initiatoren. Ihre kleinformatigen Mittel: Kunstveranstaltungen, ein jährliches Festival, experimentelle Bauten wie ein geknickter Holzbau als provisorisches Klassenzimmer, genannt „Parasit“ (Christoph Seyferth, Barend Koolhaas und Onix, Rotterdam), und ein bisher in Teilen fertiggestellter Freizeitpark mit farbenfrohem Stadtmobiliar und der Multifunktions-halle „Villa“ (FAT architecture, London).
Für 250 Wohnungen wurde ein sogenanntes Cohousing-Programm durchgeführt. Die Wohnungen blieben privat, der Freiraum und neue Einrichtungen sollten unter den Bewohnern geteilt und gemeinsam erneuert werden. Auch wenn dieses Prinzip schon in den sechziger Jahren in Dänemark entwickelt und vor allem in den USA verbreitet wurde, für Holland war es ein Novum.
Nach dem WiMBY-Projekt blieben jedoch Zweifel, ob temporäre Veranstaltungen und die Inszenierung einer Graswurzel-Gemeinschaft ausreichen würden, den nötigen Wandel in die Siedlung zu bringen. Vor allem der Mangel an sicht- und spürbaren Großprojekten wurde kritisiert. Da sich allerdings die städtischen Wohnungsbaugesellschaften Hollands in Finanznot befinden und der Staat immer mehr Verantwortung an die örtlichen Verwaltungen und ihre Bürger abgibt, scheint eine umfassende Stadterneuerung wie in Bijlmermeer der Vergangenheit anzugehören. Architekten und Planer müssen sich in Zukunft wohl noch stärker auf Kleinformatiges beschränken, auf Cohousing und Crowdfunding, auf eine städtische Erneuerung in Eigeninitiative.



Fakten
Architekten Crimson Architectural Historians, Rotterdam; FAT architecture, London
Adresse 1103 Bijlmermeer Niederlande


aus Bauwelt 40-41.2014
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