Zum Tragwerk der EZB
Das EZB-Hochhaus – das sind genaugenommen zwei Hochhäuser, die die Tragwerksplaner zu einem Raumtragwerk verbunden haben
Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main
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Bevor die Glasfassaden alles verhüllten, war die Stuktur aus zwei Türmen noch besser zu erkennen
Foto: EZB/Robert Metsch
Bevor die Glasfassaden alles verhüllten, war die Stuktur aus zwei Türmen noch besser zu erkennen
Foto: EZB/Robert Metsch
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Gedrehtes Raumtragwerk: Die Kerne der Türme fungieren als Ober- bzw, Untergurt, die Umsteigeplattformen als Pfosten, die gigantischen Streben als Diagonalen.
Foto: EZB/Robert Metsch
Gedrehtes Raumtragwerk: Die Kerne der Türme fungieren als Ober- bzw, Untergurt, die Umsteigeplattformen als Pfosten, die gigantischen Streben als Diagonalen.
Foto: EZB/Robert Metsch
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Die Stützen vereinigen sich an den Kanten der Türme.
Foto: EZB/Robert Metsch
Die Stützen vereinigen sich an den Kanten der Türme.
Foto: EZB/Robert Metsch
Sehr regelmäßige Strukturen und rein zufällige Anordnungen, beides nähmen wir „schnell als langweilig“ wahr, schrieb der renommierte Hirnforscher Wolf Singer kürzlich in der FAZ. Als „interessanter“ würden Strukturen empfunden, „die hohe Komplexität aufweisen, also sich an einem bestimmten Ort zwischen Ordnung und Unordnung aufhalten“. Auf diesen Essay von Singer verweist Klaus Bollinger, wenn er auf das Tragwerk des Hochhauses der Europäischen Zentralbank angesprochen wird. Bollinger und sein Partner Manfred Grohmann haben den Anspruch, dass ein Tragwerk ästhetisch sein soll. Oder besser: Es soll integraler Teil einer ästhetischen Struktur sein. Denn unter einem optimierten Tragwerk verstehen die beiden eine Konstruktion, die nicht allein nach dem Gesichtspunkt der Materialeffizienz optimiert wurde, sondern auch nach Aspekten wie Funktionalität, Flexibilität, Komfort, Nachhaltigkeit, Ästhetik und Ausdruck – gegebenenfalls auch um den Preis höheren Materialverbrauchs.
Nun ist das Tragwerk der EZB-Türme, das Bollinger in Zusammenarbeit mit Coop-Himmelb(l)au-Chef Wolf D. Prix erdachte, zunächst einmal ein recht konventionelles: eine Skelettkonstruktion mit Stahlbeton-Decken und Verbundstützen. Die Decken sind, abhängig von der Spannweite, zwischen 25 und 35 cm dick und teilweise vorgespannt. Die Stützen sind aus hochfestem Beton. Die vertikale Aussteifung erfolgt durch die Stahlbetonwände der Erschließungskerne, die an den geraden Innenseiten der Türme angeordnet sind und deren Decken aufgedoppelt oder mit Unterzügen versehen wurden. Interessant und tricky wird die Konstruktion erst durch Prix’ „neue Geometrie“, die dem Hochhaus zu einer emblematischen Wirkung verhelfen soll. Durch die Verdrehung des Gebäudes und die hyperboloiden Außenfassaden hat jede der über 80 Decken eine andere Geometrie – mit der Folge, dass ein regelmäßiges Stützensystem nicht möglich war. In den obersten Geschossen des Nordturms beträgt der Überhang bis zwölf Meter, die Stützen konnten deshalb nicht alle bis zur Gründung geführt werden. Die Fassadenstützen folgen im Abstand von 5,80 Metern der Außenhülle und sind in eine Richtung schräggestellt, die Innenstützen wurden teilweise in Funktionsflächen integriert, andere stehen senkrecht, wieder andere dagegen in zwei Richtungen geneigt. An den Stirnseiten vereinigen sich benachbarte Stützen.
Allein freilich könnten die Türme wegen ihres Eigengewichts, einer möglichen Windbeanspruchung und wegen der hohen Torsionslasten, die sich aus der Gebäudeverdrehung ergeben, nicht stehen. Deshalb wurde die Skelettkonstruktion mit einem um 90 Grad gedrehten Raumfachwerk im „Atrium“ zu einem tragenden Gesamtsystem gekoppelt. Die Erschließungskerne fungieren dabei als Ober- und Untergurt, die Stahlträger unter den vier Umsteigeplattformen als Pfosten und die vierzehn, bis zu 50 Meter langen und rund 110 Tonnen schweren Streben als Diagonalen. Die auf ihrer Unterseite gevouteten Stahlträger und -streben mussten so aufwendig wie spektakulär eingehoben werden. Zwei Tragwerkstypen wurden zu einem hybriden Tragwerk verbunden – eine Konstruktion, die im Sinne von Bollinger + Grohmann optimiert ist: Sie folgt, ohne sich aufzuspielen, der prismatischen Gestalt des Gebäudes, wird im Atrium selbst gestaltprägend und berücksichtigt darüber hinaus vielfältige funktionale Belange wie Erschließungssystem, Brandschutz oder – durch die erwähnte Anordnung der Kerne am Rand der Bürotürme – Grundrissökonomie.
Gerade bei der Anzahl und Positionierung der Streben zeigt sich das deutlich: War im Wettbewerbsentwurf das Atrium noch gebäudehoch, so musste es aus Gründen des Brandschutzes unterteilt werden. Das Team von Bollinger + Grohmann, in dem neben Bauingenieuren und Konstrukteuren auch Architekten arbeiten, ermittelte die Geometrie der Streben parametrisch. Im Berechnungsvorgang, den Bollinger einen „evolutionären Prozess“ nennt, fanden Kriterien wie Steifigkeit und Kraftfluss ebenso Berücksichtigung wie Lichteinfall, Position der Aufzüge, Stege und Treppen sowie eben auch Ästhetik und Proportion. Man startete mit einer zufälligen Anordnung der Streben, untersuchte sie dann nach besagten Gesichtspunkten, entwickelte Varianten und errechnete schließlich die optimale Strebengeometrie.
Einmal mehr ist die Parallele zu Gedanken des Hirnforschers Wolf Singer interessant: In dem Festvortrag, den er 2004 bei der Verleihung des Hochhauspreises des DAM hielt, sagte er: „Gehirne wie Städte verdanken sich evolutionären Prozessen, Prozessen, die sich auf die Erprobung von kleinen Veränderungen verlassen, das sich Bewährende bewahren, und das, was sich als unzweckmäßig erweist, mit der Zeit wieder aufgeben.“ Hochhäuser, die Singer als „hochkomplexe Interaktionsgeflechte“ austauschbarer und ortsungebundener Informationsverarbeitung begreift, sorgten dafür, dass wir „Orte identifizieren können“. Das ist den Architekten im
Falle des EZB-Neubaus zweifellos gelungen. Wenn man abends, von Osten kommend, nach Frankfurt hinein fährt, die zunächst chaotisch wirkenden, nun von der untergehenden Sonne in einem feuerroten Glanz getauchten Streben im transparenten Atrium erblickt, liegt es nahe, dass auch die Tragwerksplaner ihren Teil dazu beigetragen haben.
Fakten
Architekten
Bollinger + Grohmann, Frankfurt am Main; Coop-Himmelb(l)au, Wien
Adresse
Rückertstraße 2-6, 60314 Frankfurt am Main
aus
Bauwelt 4.2015
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