Die Neuerfindung der Lagunenstadt
In den 1920er und 30er Jahren wurde die Altstadt von Venedig an vielen Stellen umgebaut. Die angestrebte Umdeutung zu einem Ort der Verwaltung, der Kultur und des internationalen Tourismus betraf zahlreiche städtische Bauten und Planungen und war eng mit dem faschistischen Regime verbunden. Diese Veränderungen prägen das Bild der Stadt bis heute. Zu den Planungen gehörten auch kleine, kompakte Wohnquartiere.
Text: Noeske, Jannik, Weimar
Die Neuerfindung der Lagunenstadt
In den 1920er und 30er Jahren wurde die Altstadt von Venedig an vielen Stellen umgebaut. Die angestrebte Umdeutung zu einem Ort der Verwaltung, der Kultur und des internationalen Tourismus betraf zahlreiche städtische Bauten und Planungen und war eng mit dem faschistischen Regime verbunden. Diese Veränderungen prägen das Bild der Stadt bis heute. Zu den Planungen gehörten auch kleine, kompakte Wohnquartiere.
Text: Noeske, Jannik, Weimar
Spricht man von Architektur und Städtebau im italienischen Faschismus, kommen einem die monumentalen Bauten von Marcello Piacentini oder der Razionalismo von Giuseppe Terragni in den Sinn. Fast unbekannt sind hingegen die innerstädtischen Wohnquartiere, die ein vertrautes Bild von Stadt erzeugen, mit Gassen, Höfen, Plätzen und einer Architektur mit leicht historisierenden Elementen. Diese Art des Wohnungsbaus prägte in vielen größeren und kleineren Städten – auch in Venedig – die Baupraxis Italiens. Vier Quartiere, die zwischen 1923 und 1939 entstanden, erzählen von der Neuerfindung der Lagunenstadt. Bereits im Kriegsjahr 1917, als die administrative, wirtschaftliche und städtebauliche Expansion der historischen Stadt auf dem Festland beschlossen wurde, nahm sie ihren Anfang. In Marghera, einem Stadtteil Venedigs auf dem Festland, sollten ein moderner Industriehafen und Wohngebiete für die Arbeiterschaft entstehen. Damit war die Epoche des sogenannten Neoinsularismo beendet, die die wirtschaftliche Zukunft noch in der Lagune sah. Gebäude wie die Stucky-Mühle (heute ein Luxushotel mit Kongresszentrum) oder die heutige Architekturuniversität (IUAV) zeugen von dieser Zeit. Doch besonders in der Konkurrenz zu Städten wie Genua sah sich eine Gruppe von Industriellen und Unternehmern um den umtriebigen Giuseppe Volpi, später Finanzminister Mussolinis und unter anderem Hotelbesitzer in Venedig, veranlasst, radikal zu denken. Sie nannten sich Gruppo veneziano und machten sich die kulturelle – und touristische – Aufwertung sowie den wirtschaftlichen Wiederaufschwung Venedigs zur Aufgabe. Zwar war die Gruppe politisch flexibel, fand im aufsteigenden Faschismus jedoch einen verlässlichen Partner. Sie profitierte von einer wirtschaftsliberalen Ausrichtung der frühen Jahre. Gleichzeitig waren der repräsentative und fortschrittliche Anspruch der jungen Bewegung politische Steigbügelhalter bei der Etablierung von Großvenedig (Grande Venezia).
Die sozialen und hygienischen Verhältnisse waren nach dem Ersten Weltkrieg besonders in den dicht besiedelten Gebieten von Castello oder Cannaregio katastrophal. Mit der Lösung der Wohnungsfrage war, wie in vielen italienischen Städten, ein halbstaatliches Institut betraut, das Istituto autonomo per le case popolari Venezia (IACP), was frei mit „Unabhängiges Institut für Volkswohnungen“ übersetzt werden kann und 1926 den Namenszusatz „fascista“ bekam. Es wurde 1914 formell gegründet, hat aber schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als Kommission der Stadtverwaltung an der Wohnungsfrage gearbeitet. Die vier hier vorgestellten Quartiere sind allesamt durch das IACP und unter Federführung des Hausarchitekten Paolo Bertanza entstanden.
Ein Zuhause für die Mittelschicht
Seit den 1880er Jahren war die Aufschüttung künstlicher Inseln am südöstlichen Ende in der Nähe der Giardini pubblici geplant. Schnell kam auch die Idee auf, hier, in Sant’Elena, Wohnungen zu errichten. Es gab über die Jahre verschiedene Planungen für das Areal. Auch Daniele Donghi, Architekt des ersten deutschen Pavillons der Biennale (1938 von Ernst Haiger umgebaut und erweitert), steuerte 1910 einen Entwurf bei. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation und des einsetzenden Ersten Weltkriegs wurde dieses Projekt nicht weiterverfolgt. Erst als die erste Regierung Mussolinis im Jahr 1923 eine Mietpreisbindung aus Kriegsjahren aufhob, wurde wieder für diesen Bereich geplant. Nur so konnten die entsprechenden Mieten verlangt werden. Der Bau des Quartiers „Vittorio Emanuele III.“ wurde vom Stadtrat nur widerwillig in einer letzten Sitzung beschlossen, bevor dieser aufgrund neuer Bestimmungen für die Kommunalregierung aufgelöst wurde.
Das Quartier „Sant’Elena“ zeichnet sich durch eine kompakte Struktur und ein vertrautes städtisches Bild aus. Die Gebäude greifen Elemente der venezianischen Architekturgeschichte auf. Es wurde aber nur ein kleiner Teil der Wohnungen vom Institut selbst gebaut. Besonders die Filetstücke entlang der Lagune wurden an private Investoren verkauft, um die Urbarmachung des Gebietes zu refinanzieren. Die Stadtregierung, die Marine, das IACP und besonders die Comissione all’ornato, eine Art Gestaltungsbeirat, legten ein strenges Regelwerk für den Bau des Quartiers vor, das Anzahl, Höhe, Abstand oder die architektonische Gestalt der Baukörper festlegte, ebenso die Freiflächen, die Anzahl der künftigen Bewohner (5500) und den urbanen Charakter. Die Zielgruppe dieses Bauprojekts war eindeutig: Hier sollten vor allem Angehörige der Mittelschicht wohnen, die schnell als wichtige Unterstützer der faschistischen Bewegung ausgemacht wurden. Sie erhofften sich politische und wirtschaftliche Vorteile vom neuen Regime.
Nicht alle sind erwünscht
Im industriell geprägten Bereich von Dorsoduro, ganz im Südwesten, wurdeab 1924 das Quartier „Benito Mussolini“ errichtet, heute schlicht „Santa Marta“ genannt. Das Viertel entstand in Zusammenarbeit mit SADE, dem Elektrifizierungskonzern des Geschäftsmanns Giuseppe Volpi. Wenngleich die Wohnungen für Arbeiterinnen und Arbeiter der umliegenden Industrie- und Hafenanlagen vorgesehen waren, wurde auch hier ausgewählt. Für die ersten 148 Wohnungen gingen fast 2000 Anfragen ein. In der regimetreuen Zeitschrift „Le Tre Venezie“ freute man sich über die neuen, „anständigen und wohlgesitteten“ Bewohner. Städtebaulich orientiert sich das Quartier ebenfalls am alten Stadtbild: Vor- und Rücksprünge, eine abwechslungsreiche Farbgebung und die charakteristischen Schornsteine verleihen dem Viertel bis heute einen lebendigen Charakter. Doch ein Gebäude fällt auf: Der letzte Wohnungsbau, der 1934 fertiggestellt wurde, weist durch seine Bullaugenfenster und horizontale Fassadengliederung in die architektonische Moderne. Im Gegensatz zu Sant’Elena wurden hier alle Gebäude vom IACP selbst errichtet.
Das Quartier „San Girolamo“ hingegen entstand auf einer künstlichen Insel in der Sacca San Girolamo im Nordwesten, die aufgrund der kalten Winterwinde von dort lebenden Arbeitern „Baia del Re“ getauft wurde. Die wenigen Blocks des Quartiers mit insgesamt 220 Wohnungen waren 1929 bezugsfertig. Sie entstanden mit staatlichen Mitteln für die „classi più disagiate“, die am stärksten benachteiligte Klasse. Dementsprechend einfach sind die Gebäude. Dennoch gelingt es mit einfachen Mitteln das Quartier qualitativ aufzuwerten. Besonders viel Wert wurde auf die Freiräume gelegt. Ein großer Torbogen markiert den Eingang zum Quartier. Wie in Santa Marta wurden auch hier die Bewohner hinsichtlich ihrer moralità, besonders was das Zahlen der Miete anging, ausgewählt.
Der Bau von San Girolamo kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schwerpunkt der Wohnraumentwicklung nun auf dem Festland lag. Erst Ende der 1930er Jahre kann nach langen Verhandlungen wieder ein Quartier errichtet werden. Erstmals kam hier das Prinzip „Distruggere per costruire“ zur Anwendung: Dem Bau des Quartiers „Celestia“ musste ein historisches Baudenkmal – die Scoletta del Sovegno – weichen. Nur ein Torbogen aus istrischem Marmor wurde erhalten. Die neun großen Gebäude sind schlicht, lediglich die Fensterläden, die Dachziegel und die Schornsteine erinnern an das alte Venedig. An den abgerundeten Balkonen ist der Einfluss des Razionalismo gut zu erkennen. Durch den beginnenden Krieg konnte dieses Projekt vorerst nicht fortgeführt werden.
Die Neudeutung der Altstadt
Auch der Wohnungsbau der Zwischenkriegsjahre erzählt uns die Geschichte der Neuplanungen in der Altstadt von Venedig. Neben zahlreichen Infrastruktur- und Kulturprojekten zeugen sie von der neuen Bedeutung der Altstadt in Großvenedig. Hier eine konsistente oder gar dezidiert faschistische Planungspolitik auszumachen, ist nicht möglich. Dennoch haben die Produktionsverhältnisse dieser Jahre die Projekte geprägt. Die Stadtentwicklungspolitik der Altstadt steht im Zeichen der Tertiärisierung. Die Biennale wurde erweitert und um die Bereiche Film, Theater und Musik ergänzt. Einflussreiche Unternehmer und Politiker wie Giuseppe Volpi erhofften sich vom aufsteigenden Tourismus auch wirtschaftliche Vorteile. Gleichzeitig kann von einer vermeintlichen Hygienisierung der Wohnverhältnisse gesprochen werden, mit der jedoch vor allem politische Ziele verfolgt wurden. Durch die neuen Quartiere beabsichtigten die faschistische Bewegung und etabliert-konservative Kräfte eine Zerschlagung der sozialen Netzwerke der Arbeiterschaft in den entsprechenden Quartieren. Die Altstadt sollte dem zahlungskräftigen und regimetreuen Teil der Bevölkerung vorbehalten sein.
Die industriellen, kulturellen und städtebaulichen Weichen, die in den 1920er und 30er Jahren gestellt wurde, prägen die Stadt bis heute – mit all ihren Vor- und Nachteilen: Industrialisierung der Lagune, Massentourismus, aber auch internationales Renommee im kulturellen Sektor. Städtebaulich verdanken wir dieser Zeit beispielsweise die Uferpromenade zwischen Arsenale und Sant’Elena. Doch die Geschichte der Ursprünge wird selten erzählt.
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