Bauwelt

Die neue Cité de Refuge

Der „Ort der Zuflucht“ im 13. Pariser Arrondissement, die Refuge Singer-Polignac, ist wieder An­laufstelle für die Ärmsten der Armen, die eine Bleibe brauchen. Das Baudenkmal von Le Corbusier wartete mit allen Klippen und Hindernissen auf, die ein Scheitern der Sanierungsbemühungen nahegelegt hätten. Wie sie umgangen oder gemeistert wurden ist beispielhaft

Text: Kabisch, Wolfgang, Berlin

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Das erste Großprojekt Le Corbusiers wurde nach langen Diskussionen umgebaut und saniert. Das Gebäude dient weiterhin als Unterkunft für Bedürftige.
Foto: Olivier Wogenscky

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Das erste Großprojekt Le Corbusiers wurde nach langen Diskussionen umgebaut und saniert. Das Gebäude dient weiterhin als Unterkunft für Bedürftige.

Foto: Olivier Wogenscky


Die neue Cité de Refuge

Der „Ort der Zuflucht“ im 13. Pariser Arrondissement, die Refuge Singer-Polignac, ist wieder An­laufstelle für die Ärmsten der Armen, die eine Bleibe brauchen. Das Baudenkmal von Le Corbusier wartete mit allen Klippen und Hindernissen auf, die ein Scheitern der Sanierungsbemühungen nahegelegt hätten. Wie sie umgangen oder gemeistert wurden ist beispielhaft

Text: Kabisch, Wolfgang, Berlin

Anfang der dreißiger Jahre von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in einem von Industriegebäuden und Eisenbahnen dominierten Armenviertel der Stadt Paris für die Heilsarmee entworfen, hat die Cité de Refuge nach einer Komplettsanierung vor einigen Wochen wieder den Betrieb aufgenommen. Als die Heilsarmee 2007 beschloss, dem Verfall des Gebäudes und den damit verbundenen unhaltbaren Zuständen in ihrem Sozialzentrum ein Ende zu setzen, stellte sich zunächst die leidige Frage der Finanzierung. Eine Mäzenin wie Winnaretta Singer, Princesse Edmond de Polignac, die als Erbin des Nähmaschinenherstellers ursprünglich die „Refuge Singer-Polignac“ finanziert und ihren Architekten Le Corbusier bestimmt hatte, lässt sich heute kaum mehr finden. Doch mit „3F“ wurde ein Wohnbauträger gewonnen, der in Frankreich über 230 000 Sozialbauwohnungen verwaltet und eine „respektvolle Renovierung“ übernehmen wollte. 60 Jahre wird nun die Stiftung der „Armée du Salut“ für das Gebäude und den 1978 von den Architekten Georges Candilis und Philippe Verrey errichteten Anbau Miete zahlen. Dann ist der Kredit abbezahlt und die Armee erneut Besitzerin. Aus dem Wettbewerb für die Sanierung und den Umbau ging die Büropartnerschaft  François Gruson (Opéra Architectes) und François Chatillon (ACMH) als Sieger hervor. Bei der komplexen Aufgabe in dem prosperierenden Stadtviertel Masséna standen sie von Anfang an vor der Kardinalfrage: Welches ist der originäre Bauzustand, von dem bei einer Sanierung auszugehen ist?
Das ursprüngliche Gebäude von 1933 hatte eine durchgehende, neuartige Glasfassade. Sie wurde vornehmlich aus Kostengründen ohne Öffnungen, sowie ohne Hinterlüftung ausgeführt, was zu ständiger Überhitzung der nach Süden ausgerichteten Räume führte. Als 1944 in der Nachbarschaft eine Fliegerbombe einschlug, blieb von der Fassade kaum etwas übrig. Notdürftig mit Holz- und Trümmerteilen geflickt, zeigte sich der Bau lange in erbärmlichem Zustand. 1952 renovierte Le Corbusier das Gebäude und ergänzte ein Betonraster vor den Fenstern zum Schutz gegen die Sonne. Erst zu diesem Zeitpunkt entstand die lebhafte Farbgebung, die unser Bild von dieser „Zufluchtsstätte“ prägt.
Gruson und Chatillon entschlossen sich für eine Sanierung „im Geiste von Le Corbusier“. Originaltreue und Neuinterpretation sollten ein ausgewogenes Verhältnis eingehen, damit das Denkmal noch heute seine Funktion erfüllen kann. Die darauf folgenden Diskussionen kann man sich gut vorstellen. Durch die Einrichtung eines monatlichen Expertentreffens während der Bauphase wurde den Debatten allerdings die Sprengkraft genommen. Wissenschaftler und Techniker, vom Archäologen bis zum Quartierbeauftragten, mussten jedes Detail abwägen, um es schließlich zu genehmigen. So wurden in der Cité die architektonische Geschlechtertrennung aufgehoben und die separaten Treppenhäuser zusammengelegt. Unter dem sorgenvollen Blick der Brandschutzexperten verzichtete man auf Brandschutztüren und Rauchabzugseinrichtungen, die das Gebäude entstellt hätten. Aus den Schlafsälen wurden Einzelzimmer mit eigenem Sanitärbereich, aus den Doppelunterkünften Zimmer für Ehepaare und Familien. Im Schnitt liegen nun hinter dem von der Fassade vorgegebenen Raster zwei, statt der ursprünglich drei Einheiten. Die weitreichendste Entscheidung betraf die Versorgungs- und technischen Infrastruktureinrichtung. Indem die Architekten diesen Teil in den denkmalpflegerisch unproblematischen Anbau des „Centre Espoir“ verlegten, konnten sie den Corbusier-Bau von allen nachträglichen Verunstaltungen befreien und Raum gewinnen. Beide Gebäude zusammen bieten heute 282 Plätze.
Unzählige Details mussten dokumentiert, gezeichnet und neu produziert werden. Die Farbgebung erwies sich als besonders verzwickt, waren doch die Originalreste stark verwittert und Fotos vornehmlich in Schwarz-Weiß erhalten. Im Endeffekt musste die bekannte Farbpalette Le Corbusiers erweitert werden, nachdem bis dahin unbekannte Tönungen aufgetaucht waren, die er auf fertige Wände hatte auftragen lassen. Der Clou: Der gesamte Baukörper besitzt eine leichte Schräglage. So sollte das Putzwasser auf einer Seite der Schlaf- und Gemeinschaftsräume ablaufen können. Darauf muss man bei der Bauaufnahme erst einmal kommen. Das Ergebnis der komplizierten Sanierung des Gebäudekomplexes ist eine Hommage an Le Corbusier: Die Gesamtanlage mit Anlieferung, Dachterrassen und Empfangspavillon ist rekonstruiert, das „bunte“ Hauptgebäude entspricht weitgehend dem Zustand der fünfziger Jahre, die oberen drei weißen Geschosse zeigen den der Dreißiger, das Nebengebäude „Centre Espoir“ macht sich „unsichtbar“. Es ist zudem zweckdienlich und stellt optisch für die schmale Seitenfront der „Cité“ bewusst keine Konkurrenz dar.
32 Millionen Euro hat das Projekt gekostet. Gute 30 Millionen kommen aus sozialen Töpfen. „Die Kultur“ hat sich weitgehend zurückgehalten. Ein Sponsor für eine adäquate Möblierung ist noch immer dringend erforderlich. Doch nicht nur das. Die Fondation Le Corbusier hat während der Beratungstreffen sogar die bisherige Nutzung in Frage gestellt. Bewohner des Sozialzentrums könnten doch das so liebevoll wiederhergestellte Erbe Corbusiers beschädigen! Dabei sind gerade sie es, die jetzt Besuchergruppen durch das Haus führen. War es nicht Corbus Idee, dass die Humanität die Architektur überragt und deshalb im Zentrum des Bauens stehen sollte?

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