Erinnern oder Geschichte deuten
In dem Wettbewerb National Memorial for Heavenly Hundred Heroes wurde entschieden, wie in Kiew der Toten des Maidans gedacht werden soll.
Text: Kil, Wolfgang
Erinnern oder Geschichte deuten
In dem Wettbewerb National Memorial for Heavenly Hundred Heroes wurde entschieden, wie in Kiew der Toten des Maidans gedacht werden soll.
Text: Kil, Wolfgang
Vom weit ausladenden Maidan Nezaleshnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, windet sich eine eher unauffällige Straße zwischen gepflegten Rasenbanketten den Hügel empor. Die Instytutska Straße ist einer der beiden Verbindungswege zwischen dem quirligen Herzen der Metropole und dem Regierungsviertel, das sich hinter dem riesigen Hotel Ukrajina erstreckt. Ab einer gewissen Höhe sind von hier wundervolle Rundblicke möglich, der Maidan gehört zu den ambitioniertesten und ansehnlichsten Stadtplätzen Europas.
Die untere Hälfte der Instytutska ist seit Jahren für den Autoverkehr gesperrt. Passanten, die zahlreich hier entlang gehen, werden so unversehens zu Pilgern auf einem eindrucksvollen Weg: Beide Seiten der Straße sind dicht an dicht mit Blumen und blau-gelben Bändern drapiert, Porträtfotos und maschinengeschriebene Textblätter hängen an Bäumen oder sind sorgfältig in kleine Mauernischen postiert. Kleine improvisierte Altäre besetzen Gehwege und Rabatten. Weiter oben versucht ein Eisengerüst die spontane Ansammlung von Porträts und Kerzen „designmäßig“ etwas zu bändigen. Als anrührendste Erinnerungsmale bleiben trotzdem jene in Erinnerung, deren mangelnde Professionalität zum Signum unmittelbarer Betroffenheit wird.
Hierher kommen alle, die nach Spuren der „Maidan-Revolution“ suchen. Hier ist der Ort, an dem Hinterbliebene um jene Angehörige trau-ern können, die bei den eskalierenden Straßenschlachten zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften ums Leben kamen. Der 20. Februar 2014 gilt dabei als einschneidendes Datum, als im Feuer von Scharfschützen 48 Menschen den Tod fanden. Die Bilder dieses unvorstellbaren Gemetzels, die damals per Handykameras buchstäblich in Echtzeit um die Welt gingen, gehören zu den grausigsten Dokumenten jüngerer europäischer Geschichte.
Schon im August 2014 votierten Kiewer Bürger in einer Umfrage mehrheitlich für eine Umbenennung, der untere Abschnitt der Instytutska heißt jetzt „Heldenallee der Himmlischen Hundert“. Die pathetische Wortwahl (im Ukrainischen mit martialischem Unterton, Sotnja bedeutet auch Hundertschaft) verweist auf die Bedeutung, die die neuen Eliten den dramatischen Vorgängen im Winter 2013/14 zumessen. Ungeachtet aller bis heute anhaltenden Unklarheiten über sämtliche Abläufe und Hintergründe der wochenlangen Barrikadenkämpfe mit über hundert Toten auf beiden Seiten bemüht sich die offizielle Kiewer Geschichtspolitik, die vielfältigen Zeichen privater Trauer und spontanen Opfergedenkens in einen höheren, gewissermaßen identitätsstiftenden Rahmen zu heben: Bilder von teilweise erschreckender Gewaltsamkeit untermauern den Gründungsmythos einer neuen Ukraine, die sich dem Freiheitskampf eines tapferen und opferbereiten Volkes verdankt.
Der Wettbewerb
Ende 2017 lobten Kulturministerium und Kiewer Stadtregierung einen internationalen Wettbewerb aus. Unter 66 Bewerbern wurden 28 Teilnehmer ausgewählt, von denen eine Gruppe (13 Künstler, Architekten und Landschaftsplaner) Gedenkkonzepte für den Straßenraum entwarf. In engem Zusammenklang mit der so gefundenen Memorial-Lösung sollte danach eine zweite Gruppe aus 18 Architekten ein Museum direkt neben dem historischen Schauplatz entwerfen. Dort werden dann anhand zahlreicher Bild- und Sachzeugnisse die erbitterten Kämpfe von 2014 als nationale „Revolution der Würde“ interpretiert. Die Ausschreibung macht sogar weltgeschichtliche Auswirkungen geltend, wenn etwa der Kiewer regime change „die Auflösung der Sowjetunion vollendet“, neue globale Kräfteverhältnisse verdeutlicht und liberale Aufbruchsbewegungen, etwa im Nahen Osten, inspiriert und ermutigt habe. Das internationale Preisgericht stand also vor der Aufgabe, im Angesicht emotional kaum abgekühlter Vorgänge eine Gestaltidee auszuwählen, die neben sachlicher Faktenvermittlung auch Zeichen politisch-historischer Sinnstiftung zulässt. Eigentlich ein unmögliches Unterfangen, denn solide Geschichtsschreibung setzt immer erst nach dem Ableben der letzten Zeitzeugen ein – statt an „Geschichte“ arbeiten die sich nämlich an persönlichen Erinnerungen ab. Ihnen dieses Recht zu lassen, dafür bietet die Instytutska mit ihren vielen Spontangestaltungen bisher das eindrücklichste Bild.
Der Juryvorsitzende Mathias Sauerbruch ist sich des Dilemmas wohlbewusst, wenn er – unter Hinweis auf Erfahrungen mit der Berliner Mauergedenkstätte – der heutigen „Maidan-Generation“ durchaus privatere Gedenkformen und -inhalte zubilligen möchte als künftig Nachgeborenen. Genau diese Haltung zeigte auch das Juryvotum: Die Arbeit des 1. Preises nimmt sich beinahe minimalistisch zurück. Aus der bisherigen Pflasterstraße soll eine Gedenkpromenade werden, an der jedem der 107 Toten ein Stück Stützmauer gehören wird. An frischen Blumen, Kerzen, blau-gelben Fähnchen wird dort noch lange kein Mangel sein.
Einstufiger internationaler Realisierungswettbewerb
1. Preis MIstudio, Lviv/Rotterdam
2. Blauraum Architekten, Hamburg
3. Preis Atelier Schmelzer Weber, Dresden mit Andreas Theurer, Mittelwalde (PL)
Juryvorsitz
Matthias Sauerbruch, Berlin
Wettbewerbsbetreuung
[phase eins], Berlin
1. Preis MIstudio, Lviv/Rotterdam
2. Blauraum Architekten, Hamburg
3. Preis Atelier Schmelzer Weber, Dresden mit Andreas Theurer, Mittelwalde (PL)
Juryvorsitz
Matthias Sauerbruch, Berlin
Wettbewerbsbetreuung
[phase eins], Berlin
0 Kommentare