Europakorrektur
Fotografische Langzeitrecherche Jan Lemitz
Text: Lemitz, Jan, Düsseldorf/Berlin
Europakorrektur
Fotografische Langzeitrecherche Jan Lemitz
Text: Lemitz, Jan, Düsseldorf/Berlin
Der Eurotunnel stand einst für Mobilität innerhalb Europas. In den letzten Jahren hat Großbritannien den Zugang zum Tunnel auf französischer Seite zu einer massiven Grenzanlage ausgebaut, um Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern. Der Tunnel ist längst kein Symbol mehr für Fortschritt und Beschleunigung, sondern für die Unterscheidung zwischen erwünschter und unerwünschter Mobilität. Der Fotograf Jan Lemitz hat in einer Langzeitrecherche fotografische Spuren vermeintlich nicht miteinander zusammenhängender Ereignisse verknüpft: den Bau des Eurotunnels, die Einrichtung und Auflösung der Flüchtlingsunterkunft Sangatte, die Infrastrukturen des wilden Camps „Dschungel von Calais“. Die Bilder stammen aus öffentlichen Archiven, privaten Beständen oder sind bei seinen Besuchen entstanden. Sie verweisen auf Brüche und Widersprüche an der Oberfläche einer scheinbar gemeinsamen europäischen Identität. Sie erzählen aber auch von der Notwendigkeit, offizielle Darstellungen durch neue, informelle Erzählweisen zu ergänzen.
Der Weg zur französisch-britischen Grenze führt um Calais herum. Die Stadt ist durch den Verlauf der Küste und den parallelen Verlauf der A16 gleichsam eingeschlossen. Hafen und Tunnelterminal sind mit eigenen Zubringern mit der Autobahn verknüpft. So ergibt sich ein ballardeskes, der Infrastruktur gewidmetes Terrain, das als Ausgangspunkt der Grenzüberquerung nach England umkämpft ist. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt dabei weniger auf den jeweiligen Bewegungen und Eskalationen rund um die Zugänge zum Tunnel als um die fotografischen Spuren, die diese wiederkehrenden Ereignisse hinterlassen. Die Fotografien technischer Details in den Tunnelschächten nehmen dabei die Verwandlung des Eurotunnels vom Symbol der Mobilität und Beschleunigung zur Barriere und Grenzanlage vorweg.
Im metaphorischen Sinne nimmt der Tunnel dabei die Rolle eines optischen Mittels der Sichtbarmachung an. Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es die Idee, an der engsten Stelle des Ärmelkanals eine Unterquerung zu bauen. In dieser Zeit sind zahlreiche Skizzen und Illustrationen entstanden – Anfangspunkt einer Reihe von Momenten der Bildentstehung, die sich während der Bauphase (1987 – 1994), während der Margaret Thatcher–Ära, zu Zeiten des Kollaps des Eisernen Vorhangs, der den Kalten Krieg beendete, fortsetzte.
Die kontinuierlichen Umstrukturierungen der Landschaft, die mit der Bauphase des Tunnels begannen, werden in den Luftaufnahmen und Satellitenbildern auch heute noch deutlich. Im Westen der Stadt wurde der Hangar von Sangatte, in dem von 1988 an Tunnelteile präpariert wurden, von der Politik als vermeintlicher Anziehungspunkt für Flüchtlinge stilisiert, bis er 2002 medienwirksam geschlossen und abgerissen wurde. Seit 1999 war das Gebäude vom Roten Kreuz als Flüchtlingsunterkunft genutzt worden.
Der Bau des Tunnels war ein privatwirtschaftliches Megaprojekt und veranschaulicht den Rückzug der öffentlichen Hand aus den bestehenden und neu entstehenden Infrastrukturen. Diese Haltung setzt sich im Umgang mit Flüchtenden in Calais fort. So wurde humanitäre Hilfe von Anfang an von NGOs geleistet. Die Aufnahme der Pressekonferenz im Vorfeld der Schließung des Hangar ist im November 2002 im Rathaus von Calais entstanden. So inszeniert sich die öffentliche Hand an historischer Stelle in die visuelle Landschaft der mediatisierten Bilder zurück. Vom offiziellen Camp des Croix Rouge bis zu den informellen Camps und Jungles gilt es auch Bilder und die damit verknüpften Assoziationen aufzulösen und zu dekonstruieren.
Nach dem Abriss des Hangars verlagerte sich die Präsenz von Flüchtenden in den städtischen Raum und siedelte sich in den heute fast vollständig verschwundenen Industrieruinen in Calais an. Nachdem Besetzungen unmöglich gemacht worden waren und nicht einmal mehr die grundlegende Versorgung von Flüchtlingen durch die NGOs innerhalb der Grenzen Stadt länger toleriert wurde entstand 2014 der Jungle jenseits des Autobahnzubringers. Der Räumung des Jungles im Oktober 2016 ist die Konstruktion einer quasi militarisierten Grenze voraus gegangen. Straße und Anfahrtswege wurden in oberirdische, von Zaunreihen und Mauern eingefasste Röhren und Schächte verwandelt an der Rändern erneut überschaubare Brachen entstehen.
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