Im Land der Pferdestärken
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Im Land der Pferdestärken
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Der Weg ins niedersächsische Schöningen bei Helmstedt ist umständlich. Auf freiem Feld steht ein sonderbares Gebäude, das um einige 300.000 Jahre alte Fundstücke herum gebaut wurde. Es bekam den Namen Paläon. Lohnt sich die Anreise?
1994 nutzte Hartmut Thieme die Reparatur eines großen Kohlebaggers, stieg hinab in den Braunkohletagebau von Schöningen und machte einen sensationellen Fund: Speere, 300.000 Jahre alt. Mit ihnen konnte zum ersten Mal bewiesen werden, dass schon zu dieser Zeit der Urmensch Homo heidelbergensis in der Lage war, Fichten- und Kiefernholz mit Faustkeilen zu bearbeiten, um mit Wurfspeeren auf Großwildjagd zu gehen. Seit diesem Fund nennt sich Schöningen „Stadt der Speere“. Dem Archäologen Thieme gelang es sogar, den Kohleabbau an der Fundstelle vorerst zu stoppen. So konnten insgesamt acht Speere und zahlreiche Schädel und Knochen von erlegten Urpferden, Bären und Auerochsen geborgen werden.
Früher nannte man es Zonenrandförderung. Regionen dicht an der Grenze zur DDR wurden finanziell unterstützt, damit sie nicht veröden. Das niedersächsische Schöningen südlich von Helmstedt befindet sich nur wenige Kilometer von der ehemaligen Grenze entfernt. Den Zonenrand gibt es schon lange nicht mehr, aber nach der Lehman-Pleite stand mit dem Konjunkturpaket II eine andere Förderung bereit. Aus diesem Paket flossen Gelder in die 12.500 Einwohner zählende Stadt, die sich wegen des absehbaren Endes des Braunkohleabbaus in einem Strukturwandel befindet und auf der Suche nach einem „Motor“ war. Man kam auf die Idee eines Ausstellungshauses für die Speere, um Besucher in die Region zu locken. Es gab aber das Problem, dass die Speere, Knochen und anderen prähistorischen Überreste allein nicht genügten. So entwickelte man mit der Ausstellung in heute üblicher Manier ein Erlebniszentrum. Ein guter Draht zum damaligen Ministerpräsidenten Wulff und etwas Glück fügten es, dass das Land die gesamten Baukosten von 15 Millionen Euro für das Gebäude übernahm. Fehlte nur noch der Name für die Vermarktung. Er fand sich: Paläon (von Paläontologie). Und in der Grube wird weiter gesucht. Der jetzige Paläon-Forschungsleiter Thomas Terberger macht es spannend: „Sie werden von der Fundstelle hören – in absehbarer Zeit!“.
Den laufenden Betrieb will man mit Eintrittsgeldern finanzieren. Ob das in dieser Gegend und bei der schlechten Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr gelingt, darf bezweifelt werden. Kommen nicht 70.000 im Jahr wäre es ärgerlich. Denn die Speere und Knochen hätten auch ohne die 15 Millionen Euro in einem Museum in Hannover oder Braunschweig gezeigt werden können. Nicht von ungefähr brandmarkt der Bund der Steuerzahler das Paläon als Verschwendung.
Am 24. Juni wurde das Haus eröffnet. Das Büro Holzer Kobler Architekturen, inzwischen eines der wichtigsten Planungsbüros für Ausstellungsszenografie, konnte hier auch das Gebäude entwerfen. Es setzt sich zusammen aus zwei schräg übereinander gestapelten Blöcken, diagonal mit Aluminium verkleidet und mit ebenso diagonalen Fenstereinschnitten. Sie sollen Bezug auf die verschobenen Erdschichten im Tagebau nehmen. Mit dem polierten Aluminium, in dem sich der Himmel spiegelt, wollte man erreichen, dass man das Gebäude „gar nicht sieht“. Wichtiger seien Inhalt und Landschaft. Tristan Kobler nennt es ein „aus der Zeit genommenes Gebäude“. Bei der Spiegelfassade kann man auch zu einer anderen Einschätzung kommen: Schöningens Bürgermeister Henry Bäsecke nannte das Haus bei der Eröffnung einen „Diamanten der Architektur“. Schade ist, dass der Braunkohletagebau hinter einem Zaun liegt. Wäre es nicht möglich gewesen, den Bau direkt an die Kante zu setzen, mit noch spektakuläreren Blicken in die Grube? Das Büro Topotek 1 gestaltete die Natur; eine altsteinzeitliche Steppenlandschaft mit etwas Wald und einem Wegenetz mit mehreren Erlebnisstationen (u.a. Speere werfen). Man besorgte auch vier braune Przewalski-Stuten. Sie gehören zur einzigen Wildpferdart, die in ihrer Wildform überlebt hat.
Im Gebäude gibt es ein interaktives „gläsernes Labor“ und Räume für die Forschung. Die Ausstellung befindet sich auf der obersten Ebene unter klobigen Deckenträgern. Die „Ausstellungskörper“ – deren Form sollte sich an die Struktur von Pferdeknochen anlehnen – sind mit Kabinetten und Vitrinen bestückt. Gezeigt werden auch Funde aus anderen Regionen. Der Künstler Misha Shenbrot schuf ein 30 Meter langes Wandbild. Die Collage bildet Szenen der Menschheitsgeschichte durch die verschiedenen Epochen der Warm- und Kaltzeiten ab. In einem 280-Grad-Kino kann man eine Gruppe dunkler Männer auf Pferde-Jagd beobachten. Sie machen Kindern Angst. Die Vitrine mit den Speeren ist erst am Ende des Parcours zu sehen. Überraschender Höhepunkt ist etwas gänzlich anderes, ein Werk des Bildhauers Stephan Hüsch. Er gestaltete hinter einem knienden, lebensecht aussehenden Urmenschen aus Wachs ein kantig geformtes Pferd aus der Ursteinzeit, so groß, wie es damals gewesen sein soll. Es übertrumpft alles im Showroom und präsentiert sich aufbäumend als Niedersachsen-Ross vom Landeswappen. Wer auf diese peinliche Idee kam, wurde nicht verraten.
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