Pilsen. Eine Stadt für den zweiten Blick
Böhmens Industriemetropole als Europäische Kulturhauptstadt 2015
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Pilsen. Eine Stadt für den zweiten Blick
Böhmens Industriemetropole als Europäische Kulturhauptstadt 2015
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Viel hilft nicht immer viel. Dass Pilsen unter allen böhmischen Städten den größten Marktplatz besitzt, heißt leider nicht, dass er auch der schönste ist. Nur eben riesig, mit einer kantig aufragenden Kathedrale in der Mitte, die neuerdings nach allen Himmelsrichtungen von rätselhaft vergoldeten Riesenwasserspeiern umstellt ist. Die Platzwände ringsum zeigen die üblichen barocken und gründerzeitlichen Schaugiebel, besonderen Schauwert bietet das Renaissance-Rathaus (1554–59), aufrechte Modernisten werden vielleicht das Hotel Central bestaunen, einen ziemlich mutigen Versuch von 1967–72, im histo-rischen Zentrum Akzente einer neuen Zeit zu setzen. Auf dem Platz finden häufig Märkte statt, Stadtbesucher verlieren sich aber schnell in einer der schmalen Nebenstraßen, wo man nach Norden hin wirklich „Altstadt“ findet, doch schon die ersten Karrees südlich und westlich vom Markt bieten unverkennbar Gründerzeit. Das „historische Pilsen“ ist überraschend klein und in seltener Deutlichkeit umrissen – an drei Seiten von einem gepflegten bürgerlichen Promenadenring, am Westrand von einem einstigen Boulevard, der heute als überbreite Verkehrsschneise die kompakte Innenstadt praktisch in zwei Hälften teilt.
Es braucht womöglich einen zweiten Blick, um zu verstehen, warum Pilsen sich als Kulturhauptstadt Europas durchsetzen konnte. Tschechiens viertgrößte Stadt mit 167.000 Einwohnern verkörpert das europäische Industriezeitalter als Erfolgsgeschichte. Selbst wenn es heute die 1842 gegründete Prazdroj-(Urquell-)Brauerei sein mag, die den Ruf der Stadt in alle Welt trägt, seine wahre Bedeutung erlangte Pilsen mit den Škoda-Werken, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum größten Industriekomplex der Habsburger Monarchie aufwuchsen. Schwerste Kanonen, Turbinen und Motoren, Busse, Flugzeuge, Lokomotiven, Kernkraftgeneratoren – die Liste der Produkte, die Škoda Plzeň unter allen politischen Systemen lieferte (während der deutschen Annexion als Teil der Hermann-Göring-Werke), ist lang. Dieses mächtige Indus-triepotenzial sicherte der jungen Tschechoslowakei ihre soziale und liberale Modernität. Allerdings bescherte es der Waffenschmiede, anders als im sonst verschonten Böhmen, am Ende des Zweiten Weltkriegs auch massive Bombenangriffe der US Airforce. Getroffen wurden hauptsächlich Werks- und Verkehrsanlagen, die Innenstadt blieb bis auf Einzelschäden weithin unzerstört.
Die Industriemetropole hat also bauhistorisch viel zu erzählen, von Kaiserzeit, bürgerlicher Republik, deutschen Besatzern, sozialistischer Planwirtschaft, Prager Frühling und der dann „Normalisierung“ genannten bleiernen Zeit bis 1990. Dass es der Stadt – dank Škoda – nie richtig schlecht, sogar meistens richtig gut ging, dafür stehen viele Zeugnisse: ein imposantes Stadttheater, die zweitgrößte Synagoge Europas, Museen, Bibliotheken, Festsäle in feinstem Wiener Jugendstil, ein „Kaiserbahnhof“ wie aus dem Märchenbuch. In den jeweils einzelnen Fabriken zugeordneten Wohnquartieren stehen auch Vil-len. Zwischen den Kriegen war Boomtown, neusachliche Architektur gab dem Stadtbild großstädtische Züge ohne Schaden für den barocken Kern: Tschechische Moderne hatte Gespür für den Bestand. Für die sozialistische Ära wird heute gern auf das von riesigen Faltungen umkleidete Eisstadion von 1975 verwiesen, weniger stolz ist man auf die Plattenbaugebiete der nördlichen und südöstlichen Peripherie. Von Bilderstürmern hinweggefegt wurde noch 2012 das Kulturhaus der Gewerkschaften (1972–86), eine multifunktionale Stadtkrone im Stil des (international noch zu entdeckenden) „tschechischen Brutalismus“. Der dominante Baukomplex sollte einer Mall weichen, die dann aber an
einer Bürgerinitiative scheiterte; in prominentester Zentrumslage klafft nun eine Riesenbrache, die selbst für urbane Zwischennutzungen alle Verhältnisse sprengt.
einer Bürgerinitiative scheiterte; in prominentester Zentrumslage klafft nun eine Riesenbrache, die selbst für urbane Zwischennutzungen alle Verhältnisse sprengt.
Eine Stadt auf der Suche nach sich selbst
Wie schon vor zwei Jahren beim slowakischen Košice ging auch bei Pilsen der Rang der Kulturhauptstadt an einen Schwerindustrie-Standort ohne ersichtliche Krisensymptome. Die Nachfolger des zerlegten Škoda-Konzerns sind allesamt gut im Geschäft, die lokale Arbeitslosigkeit rangiert bei sechs Prozent, Schrumpfung kennt man hier allenfalls vom Hörensagen. Und die berühm-te Brauerei wirft so reichlich ab, dass sie das Kulturstadtprogramm kräftig mitfinanziert. Als Sitz der Westböhmischen Universität und einiger landesweit bedeutender Kultureinrichtungen kann sich Pilsen zudem auf ein treues und gebildetes Publikum verlassen, zu dessen Gunsten sich die Stadt neben dem traditionsreichen Königstadt-Theater (1897–1902) sogar einen Neubau leistete; das reichlich exaltierte Gemeinschaftswerk eines einheimischen und eines portugiesischen Büros startete 2009 und wurde kurz vor Beginn des Kulturstadtjahres eingeweiht.
Natürlich kommt auch Pilsen nicht um die Umnutzung brachgefallener Industrieareale herum: Am Rande eines fast schon filmreifen Proletarierviertels dicht an den verwunschenen Ufern des Flüsschen Radbusa wurde ein altes Bus- und Straßenbahndepot zum zentralen Ort verschiedenster Veranstaltungsformate. Sowohl die Lage als auch Größe und Vielfalt der nur flüchtig hergerichteten Hallen bieten gute Chancen für eine Kulturadresse von bleibendem Wert (Seite 26). Gleichzeitig sind drei weitere alternative Kulturzentren in Entwicklung – in der Papierfabrik am Fluss gleich gegenüber, im aufwendig restaurierten Südstadt-Bahnhof und in der bescheidenen, aber bürgernahen Bahnstation Zastawka. Auch wenn das Sorgen vor kultureller Überversorgung wecken könnte: Sämtliche Beteiligte schwören, durch genau kalkulierte Zielgruppenarbeit einander nicht in die Quere zu kommen.
Eine hochrangige Attraktion werden sicher die erstmals öffentlich gezeigten Wohnungen bleiben, die in den zwanziger Jahren von Adolf Loos entworfen wurden (Seite 20). Der Löwenanteil an Veranstaltungen in diesem Jahr richtet sich allerdings mit Zirkus, Freiluft-Ballett und Straßentheater, Musikbühnen, Lightshows und Historienspektakeln als vorrangig performatives Festival an ein städtisches Alltagspublikum.
Wenn Pilsen eine Stadt für den zweiten Blick ist, dann gilt das offenbar auch für ihre Bewoh-ner selbst. Man muss es nicht gleich Identitätskrise nennen, die Vielzahl an Selbstbefragungen im Programm fällt aber auf: In der Haupthalle des Depots werden das ganze Jahr über in einer eindrucksvoll kuratierten Schau Fotos aus Pilsener Familienalben gezeigt. Dazu wird aufgerufen, die „Verborgene Stadt“ für sich zu entdecken: Auf Rundgängen unter Smartphone-Begleitung fiktiver „Durchschnittsbürger“ wird man Pilsener Alltag aus garantiert nicht-offizieller Perspektive erleben. Auf andere Weise „verborgen“, nämlich unbeachtet und verlottert, waren bisher die innerstädtischen Ufer der Radbusa, um deren Wiederbelebung sich einige vornehmlich studentische Initiativen mit improvisierten Strandpartys, aber auch mit urbanistischen Lektionen und Ad-hoc-Gestaltungen bemühen.
Und dann sind da jene Ausstellungen, die sich mit der heikleren Stadtgeschichte befassen – etwa mit dem „ganz normalen Leben“ unter deutscher Besatzung (im Stadtmuseum) sowie mit dem besonderen Schicksal Pilsens zum Ende des Krieges (in der Großen Synagoge). „Besonders“ meint hier, dass Pilsen, anders als Prag, von amerikanischen Truppen befreit wurde, weshalb der heldisch verehrte General Patton nach 1990 ein eigenes kleines Museum bekam. Außerdem rollen immer am 6. Mai amerikanische Militärgefährte über den riesigen Marktplatz. Zum Kulturstadtjahr waren letzte noch lebende Veteranen dabei.
Dank an das Goethe-Institut Prag für die wertvolle Unterstützung bei der Recherche
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