Bauwelt

La Maddalena und der Gipfel

Text: Baumeister, Ruth, Rotterdam; Carta, Silvio, Mailand

La Maddalena und der Gipfel

Text: Baumeister, Ruth, Rotterdam; Carta, Silvio, Mailand

Der Gipfel der Mächtigen der Welt auf der Insel La Maddalena vor Sardinien wurde 2008 groß angekündigt. Stefano Boeri baute innerhalb kürzester Zeit den ehemaligen Militärhafen für das Ereignis um. Dann wurde Ende April letzten Jahres entschieden, den Gipfel in die Erdbeben-Stadt L’Aquila in den Abruzzen zu verlegen. Der politische Wind hat sich längst gedreht, und niemand fühlt sich für die Zukunft der Neubauten von La Maddalena zuständig.
La Maddalena, eine kleine, wunderbare Insel nördlich vonSardinien ist einer der schönsten Nationalparks Italiens. Gleichzeitig diente die Insel wegen ihrer strategischen Lage im Zentrum des westlichen Mittelmeers seit dem frühen 19. Jahrhundert als Militärstützpunkt. Heute ließe sich die Situation dort mit der einer „Company Town“ vergleichen, wobei über Jahrzehnte eine einzige wirtschaftliche Kraft nicht nur die Architektur und das Erscheinungsbild prägte, sondern das gesamte Schicksal des Ortes und seiner Bewohner bestimmte. Die Schließung der amerikanischen Militärbasis im Jahr 2008 stürzte La Maddalena in die Krise. Ungenutzte, verlassene Bauten, Arbeitslosigkeit und eine rückläufige Bevölkerungszahl waren die Folge – bis sich eine neue, vielversprechende Per­spektive eröffnete, als Italien zum Gastgeberland des G8-Gipfels 2009 ernannt wurde.

Ein Auftrag nach Maß
 
Es war der damalige italienische Ministerpräsident Romano Prodi, der sich zusammen mit Renato Soru, dem sardischen Gouverneur und Gründer des Tiscali Imperiums, für La Maddalena als Austragungsort des Gipfels entschieden hatte. Für die erforderlichen Neubauten wurde ad hoc Stefano Boeri der Auftrag erteilt. Der Mailänder Architekt, der sich bereits in verschiedenen italienischen Städten mit Hafenarealen beschäftigt hat, wird auch das „Centre régional de la Méditerranée“ am Hafen von Marseille bauen. Der Wahl Boeris ging kein Bewerbungsverfahren voraus, was in Architektenkreisen für reichlich Kritik und Neid sorgte. Nachdem der Architekt, der auch über ein lokales Verantwortungsbewusstsein verfügt (be­reits in den sechziger Jahren baute Boeris Mutter eine Reihe von Ferienhäusern auf der Insel; in einem davon verbrachte er einen Teil seiner Jugend) ernannt war, wurde ein Masterplan für die Umnutzung des Bestands sowie die Errichtung von Neubauten unter Wahrung der natürlichen Ressourcen des Ortes erstellt. Dabei war auch ein Nutzungskonzept nach dem G8-Gipfel von großer Bedeutung. Mit dem Projekt – ein Kongresszentrum mit Hotel und Räumen für Ausstellungen und kommerzielle Nutzungen sowie ein Hafen für Segelboote auf ca. 155.000 Quadratmetern – entstand eine neue Stadt innerhalb der bereits Bestehenden. Eile war geboten. Die Bauzeit betrug nur zehn Monate.

Fischernetz
 
Boeris leichte, transparente architektonische Sprache stülpt sich über das Vorhandene. Durch die Addition eines neuen und die Modifikation eines existierenden großen Bauvolumens fügt er die verschiedenen Fragmente gekonnt zu einer Einheit. Auf den ersten Blick erscheint das Projekt als ein gro­ßes Ganzes und erinnert mit seinen klar definierten, schachtel­förmigen Volumina und der monumentalen, steinernen Piazza an das Lincoln Center in New York. Doch bei genauem Hinsehen handelt es sich hier nicht um eine banale Monumentalität, die Stärke repräsentiert. Das Konferenzzentrum, ein Glaskörper der teilweise über das Wasser hinausragt, erscheint sehr subtil und elegant. Die Balance der Kräfte ist wohl bedacht, und doch erscheint das System äußerst fragil. Boeri bricht die harte Kante des Glasvolumens mit einer netzartigen Fassade, die an ein Fischernetz erinnert. Für die Bewohner von La Maddalena versprach das Projekt eine andere und bessere wirtschaftliche Zukunft. Der Politiker Soru erhoffte sich, mit diesem Projekt in die Liga der Global Players in der Architektur aufsteigen zu können. Diese Absicht ging – gleichsam als deren Symbol – einher mit seiner Reformpolitik auf dem Gebiet der Wirtschaft und Verwaltung. Dies erklärt, warum Boeri wiederholt vom „Maddalena-Effekt“ spricht, während andere den Fall lediglich als eine weitere Episode eines kulturellen und politischen Kolonialismus in der Geschichte Sardiniens kritisieren.

L’Aquila
 
Boeri hatte das Projekt fast abgeschlossen, als eine drastische Änderung den eigentlichen Zweck urplötzlich überflüssig machte. Am 6. April vergangenen Jahres ereignete sich in der Stadt L’Aquila ein verheerendes Erdbeben, bei dem über 300 Menschen getötet und 15.000 Gebäude zerstört wurden. Dies war für den neu ernannten Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi Grund genug, den G8-Gipfel kurzerhand ins Katastrophengebiet von L’Aquila zu verlegen. Schließlich war La Maddalena nicht sein Projekt und verkörperte auch nicht seine Ideen und Visionen für Sardinien. Zweifellos war Berlusconis spontane, großzügige Geste äußerst medienwirksam. Was aber war die Konsequenz? Die plötzliche Verschiebung des Gipfeltreffens war für La Maddalena ein großer Rückschlag. Bemühungen, sofort mit dem Szenario nach dem Gipfel zu starten, werden bis heute von Streitigkeiten unterschiedlicher politischer Lager behindert. Keiner ist bereit, die Verantwortung für das Debakel zu übernehmen, und die Region fühlt sich mit dem Problem von der Regierung im Stich gelassen. Folglich wurde La Maddalena nun auch zum Schlachtfeld der Presse. Einen Artikel, den Rem Koolhaas der Zeitschrift Domus vorschlug, wurde dort abgelehnt. Grund hierfür waren wohl Anspielungen auf Berlusconis skandalöses Privatleben in seiner nur 20 Kilometer von La Maddalena entfernt gelegenen Villa Certosa sowie die Behauptung, Boeris Ambitionen seien für einen Bauherren, der ein Projekt von solch großer Klarheit weder verdient hätte noch damit etwas anzufangen wüsste, wohl zu weitreichend gewesen. Am Ende ist La Maddalena ein exemplarischer Fall für die Reichweite politischer Macht und für ihre Verantwortungslosigkeit. Koolhaas lenkt in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit auf eine subtile und dennoch so vielsagende Eigenschaft von Boeris Projekt. Er schreibt von einem „nostalgiefreien Raum des Anstands und der Leichtigkeit. Als einen Raum, der es vermeidet, sich in die Fänge der Macht zu verstricken in einem Zeitalter, das ohnehin nicht mehr an solche Mächte zu glauben vermag“.
Fakten
Architekten Boeri, Stefano, Mailand
aus Bauwelt 19.2010

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