Berlin und Breslau. Eine Beziehungsgeschichte
So mancher Studie hätte man mehr Tiefe gewünscht, doch in der Gesamtschau überzeugt der Sammelband mit seinem breiten Themenspektrum.
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Berlin und Breslau. Eine Beziehungsgeschichte
So mancher Studie hätte man mehr Tiefe gewünscht, doch in der Gesamtschau überzeugt der Sammelband mit seinem breiten Themenspektrum.
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Wrocławs deutsche Partnerstädte sind Dresden (seit 1959) und Wiesbaden (seit 1987), doch eine viel längere und auch intensivere Beziehung verbindet das frühere Breslau ebenso wie die diesjährige Kulturhauptstadt Europas mit Berlin. Die beiden ehemaligen preußischen Residenzstädte (neben Königsberg) pflegen von jeher einen regen Austausch: an Ideen, an wissenschaftlichen Erkenntnissen, an Kultur und auch schlicht an Menschen, Waren und (Bau-)Materialien. Wobei die Anziehungskraft Berlins meist viel größer war, jener Millionenstadt, der nachgesagt wird, dass jeder zweite Einwohner aus Schlesien oder gar aus dessen historischer Hauptstadt Breslau bzw. aus Wrocław, der heutigen Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesien, stammt.
Nach Jahrzehnten der Abkühlung im Verhältnis beider Städte zu Zeiten der DDR und der ebenfalls kommunistischen Volksrepublik Polen ist das Interesse aneinander längst wieder neu entflammt. Ebenso wie das Interesse der nach 1945 fast komplett ausgetauschten, heute polnischen Bevölkerung Wrocławs am deutschen Erbe. „Wer über Berlin und Breslau nachdenkt, muss auch über das Verhältnis zwischen Wrocław und Berlin nachdenken und natürlich über das von Wrocław zu Breslau“, schreiben Mateusz Hartwich und Uwe Rada. Wie wahr! Der in Wrocław geborene, seit 2003 in Berlin lebende Kulturwissenschaftler und der langjährige taz-Redakteur haben im Rahmen des Projekts „Breslau-Berlin 2016. Europäische Nachbarn“ einen handlichen Band herausgegeben, der fast zwei Dutzend polnischen und deutschen Autoren die Gelegenheit gibt, sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven den vielfältigen Verflechtungen der beiden – eigentlich der drei – Städte zu widmen.
In sehr persönlichen Erinnerungen schildern etwa der 1943 in Breslau geborene, in der DDR aufgewachsene Wolfgang Thierse und der in Polen aufgewachsene Schriftsteller Artur Becker ihre Begegnungen mit der „geheimnisvollen“ Stadt an der Oder. Die Historiker Krzysztof Ruchniewicz und Andrzej Dębski beschäftigen sich mit der „doppelten Stadtgeschichte“ bzw. mit der Filmgeschichte beider Städte, die auch schon mal die Rollen tauschen können (so avancierte Breslau bereits mehrmals zur Filmkulisse Berlins, etwa in Max Färberböcks „Aimée und Jaguar“ und in Steven Spielbergs „Bridge of Spies – Der Unterhändler“). Jerzy Pichler erinnert an die „wiedergewonnene jüdische Geschichte“ Breslaus. Und die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin Roswitha Schieb verfolgt die „schlesischen Spuren an der Spree“ und listet eine erstaunliche Zahl an bedeutenden Persönlichkeiten auf, die zuerst in Breslau und später in Berlin wirkten, etwa August Borsig, Ferdinand Lassalle, Adolphe Menzel, Max Herrmann-Neiße, Alfred Kerr, Georg Heym, Arnold Zweig, Dietrich Bonhoeffer und viele andere. Die Kunsthistorikerin Beate Störtkuhl fokussiert die „Breslauer Moderne 1900–1933“ im Dialog mit Berlin – mit Werken etwa von Hans Poelzig, Max Berg, Adolf Rading und Hans Scharoun. Agata Gabiś lässt Breslaus Wiederaufbau nach dem Krieg Revue passieren, und Uwe Rada vergleicht in „Raum für Pioniere“ den Stadtteil Wrocław-Nadodrze mit seiner ganz spezifischen Geschichte der Revitalisierung mit Berlin-Kreuzberg als Vorreiter der behutsamen Stadterneuerung. So mancher Studie hätte man mehr Tiefe gewünscht – und dem gesamten Buch ein aufmerksameres Lektorat –, doch in der Gesamtschau überzeugt der Sammelband mit seinem breiten Themenspektrum. Zudem eignet er sich als Co-Reiseführer für den nächsten Besuch Wrocławs.
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