Die Città Nuove des Agro Pontino im Rahmen der faschistischen Staatsarchitektur
Architekturführer
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Die Città Nuove des Agro Pontino im Rahmen der faschistischen Staatsarchitektur
Architekturführer
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Als 7. Band der „Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege“ ist die Dissertation von Danila Spiegel nun vom Michael Imhof Verlag publiziert worden – ein unverzichtbares Standardwerk für die Auseinandersetzung mit der Architektur dieser Zeit, das hoffentlich auch eine italienische Ausgabe erleben wird.
Wer in die südlich von Rom gelegene Provinzhauptstadt Latina kommt und dort das Postamt aufsucht, wundert sich nicht nur über dessen seltsam versteckte Lage in zweiter Reihe des Hauptplatzes, sondern auch über den unverständlich T-förmigen Baukörper selbst, der keinen Halt in seiner Umgebung findet, und über den im Ganzen wenig harmonischen architektonischen Aufbau. Unter den vielen Ungereimtheiten, die sich in Latina dem Auge des architekturgeschichtlich Interessierten bieten – unverständliche Maßstabssprünge in der Architektur der Gründungsphase der Stadt, unklare Hierarchien in ihrer räumlichen Struktur, unversöhnlich einander gegenüberstehende formale Haltungen –, ist das Postamt von Angiolo Mazzoni zweifellos die größte Enttäuschung. Dieses Gebilde soll Filippo Marinetti, den Verfasser des Futuristischen Manifests, anlässlich der Einweihung der damals noch Littoria genannten Stadt zu Begeisterungsstürmen hingerissen haben? Unvorstellbar!
Trotzdem: Wer in Rom weilt und neben den Bauten der Antike und des Barock auch die Architektur des Faschismus in den Blick nehmen möchte, dem bietet sich nicht nur ein Besuch der Universitätsstadt, des Olympiageländes oder des später als Stadtteil EUR fertiggestellten Weltausstellungsareals an, sondern unbedingt auch ein Ausflug in den Agro Pontino. Seit Römerzeiten Sumpfgebiet, gelang erst unter Mussolini die Trockenlegung und Urbarmachung dieser weiten Ebene beiderseits der Via Appia, was der italienischen Binnenmigration ebenso diente wie dem Ziel größerer Unabhängigkeit von Getreidelieferungen aus dem Ausland und nicht zuletzt auch dem Kampf gegen die Malaria. Einher ging die „Bonifica integrale“ in den pontinischen Sumpfgebieten mit dem Bau von fünf neuen Städten: Littoria, Sabaudia, Pontinia, Aprilia und Pomezia. Diese Neustädte wurden offiziell als „Centri comunali agricoli“, landwirtschaftliche Gemeindezentren, bezeichnet, um nicht
in Widerspruch zu geraten mit der Ruralisierungspolitik des Duce. Ihre Architekten – Oriolo Frezzotti für Littoria, eine Gruppe um Luigi Piccinato für Sabaudia, für Pontinia die Planungsabteilung des für das Gesamtprojekt Agro Pontino zuständigen Veteranenverbandes ONC und für Aprilia und Pomezia die Gruppe 2PST um den Architekten Concezio Petrucci – sahen sich mit der Anforderung konfrontiert, drei sich einander durchaus widersprechenden Schlagworten zu genügen: „ruralità, modernità, italianità“. Die mal mehr, mal weniger überzeugenden Lösungen, die sich bis auf das im Krieg zerstörte Aprilia bis heute weitgehend erhalten haben, liefern ein anschauliches Bild für die mäandrierende Architekturpolitik im Italien der 30er Jahre.
in Widerspruch zu geraten mit der Ruralisierungspolitik des Duce. Ihre Architekten – Oriolo Frezzotti für Littoria, eine Gruppe um Luigi Piccinato für Sabaudia, für Pontinia die Planungsabteilung des für das Gesamtprojekt Agro Pontino zuständigen Veteranenverbandes ONC und für Aprilia und Pomezia die Gruppe 2PST um den Architekten Concezio Petrucci – sahen sich mit der Anforderung konfrontiert, drei sich einander durchaus widersprechenden Schlagworten zu genügen: „ruralità, modernità, italianità“. Die mal mehr, mal weniger überzeugenden Lösungen, die sich bis auf das im Krieg zerstörte Aprilia bis heute weitgehend erhalten haben, liefern ein anschauliches Bild für die mäandrierende Architekturpolitik im Italien der 30er Jahre.
Dieses Bild wird nun entschlüsselt, mit der ersten systematischen Untersuchung der Planung, Realisierung, propagandistischen Verwertung, zeitgenössischen Diskussion und nicht zuletzt der Verwobenheit der fünf Städte in die politischen und personellen Hintergründe dieser Zeit. Daniela Spiegel hat sich als Doktorandin an der TU Berlin dieser Aufgabe gestellt; als 7. Band der „Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege“ ist ihre Dissertation nun vom Michael Imhof Verlag publiziert worden – ein unverzichtbares Standardwerk für die Auseinandersetzung mit der Architektur dieser Zeit, das hoffentlich auch eine italienische Ausgabe erleben wird: Die Lektüre ist so spannend wie ein Krimi von Camilleri und dazu anschaulich illustriert mit unzähligen Plänen, Graphiken und Fotos, bauzeitlichen wie heutigen. Neben manch anderen Erkenntnissen liefert sie auch die Möglichkeit, das Postamt von Latina beim nächsten Besuch als eines der interessantesten Dokumente der Architektur- und Städtebaudebatte im faschistischen Italien mit anderen Augen zu sehen.
0 Kommentare