Bauwelt

Ein Stück Stadt ergründen

Haus- und Quartiersgeschichte in Berlin-Charlottenburg

Text: Rumpf, Peter, Berlin

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Ein Stück Stadt ergründen

Haus- und Quartiersgeschichte in Berlin-Charlottenburg

Text: Rumpf, Peter, Berlin

Rechts neben der Haustür Roscherstraße 5 in Berlin-Charlottenburg sind vier „Stolpersteine“ ins Gehwegpflaster eingelassen: für Selma Rosendorff, geb. Levi, und ihre beiden Söhne Gerhard und Manfred, ermordet 1943 bzw. 1944 in Sobibor bzw. Auschwitz, sowie für Clara Meyer, ermordet 1942 in Riga.
Mehr als 2000 solcher 10 mal 10 cm großen Messingplatten gibt es allein in Charlottenburg-Wilmersdorf, initiiert 1995 vom Kölner Künstler Gunter Deming.
In dem viergeschossigen Gründerzeit-Wohnhaus in der Roscherstraße 5 wohnt seit neun Jahren Heidede Becker. Durch Zufall wurde sie von einem ehemaligen Kollegen im Deutschen Institut für Urbanistik auf die Berliner Adressbücher 1910–43 aufmerksam gemacht, in denen alle Bewohner aufgelistet sind. Dies war für die Stadtplanerin der Anlass, die Geschichte dieses ihres Hauses – und naheliegend – die der Straße samt Umfeld näher zu erkunden. Herausgekommen ist ein im weitesten Sinne anregendes und aufschlussreiches Buch mit zahlreichen, meist historischen Fotos und Plänen, Zitaten von Zeitgenossen und aus Bauakten, Verfügungen, Briefen, ergänzt durch Fußnoten, deren Anzahl wohl jeden Fußnotenliebhaber zufrieden stellen.
Das „Spannende“ an dieser Chronik ist, dass es sich um ein in jeder Hinsicht normales Mietshaus handelt, wie es straßauf, straßab in Charlottenburg die Hobrecht’schen Blockstrukturen füllt. Auch die wechselnden Besitzer und Bewohner sind alles andere als außergewöhnlich, auch wenn gerade dieser Teil des Neuen Westens zahlreiche Künstler, Sänger, Schriftsteller angezogen hat. Nabokov und Kästner waren sozusagen Nachbarn und „Kafka nachmittags zum Kaffee“ (Tagebucheintrag). Aber gerade wegen seiner „Durchschnittlichkeit“ spiegelt die Roscherstraße, eine nördliche Seitenstraße des oberen Kurfürstendamms, wie in einem Brennglas die erzählenswerte Entstehungsgeschichte rund um den Lehniner Platz seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die Wilden Zwanziger – mit dem Kino Universum und dem Kabarett der Komiker von Erich Mendelsohn, heute Schaubühne, die Nazizeit und ihre „Entjudung“ – Speer brauchte Ersatzwohnungen für seinen Stadtumbau für „Germania“ (siehe oben), dann die Bombennächte, Trümmerbeseitigung, Wiederaufbau – samt Bausünden – bis in die Gegenwart. Eine wahrlich bewegte und bewegende Chronik, in der zuvorderst die Bewohner von Roscherstraße 5 stellvertretend die Hauptrolle spielen. Ihre Lebens- oder Leidenswege lassen vor den inneren Augen des Lesers ein sehr persönliches Panorama entstehen, das mehr von 100 Jahren Berliner Stadtgeschichte vermittelt als manch dickleibiges Werk.
Nachtrag 1: Die Stolpersteine für Familie Davidsohn, 4. Stock links, Familie Wollsteiner, 1. Stock links oder den Rabbiner Julius Grünthal samt Familie, 3. Stock, fehlen (noch).
Nachtrag 2: Der Lehniner Platz, eine Dreiecksfläche gegenüber Mendelsohns „Universum“, heute Schaubühne, immer Abstellfläche für alles und je-des, wurde im Rahmen der 100-Jahre-Kurfürstendamm per Wettbewerb freigeräumt und verschönert. Die Autorin hat den Beginn dieser Aktion mit der „Hoffnung“ begleitet, „dass der Platz endlich Bedeutung als Aufenthalts- und Erlebnisort entwickeln kann“. Entstanden ist jedoch der lebloseste Ort weit und breit. Das einzige Leben in Form eines Zeitungskiosks ist als grauer Blechcontainer an den Rinnsteinrand verbannt. 
Fakten
Autor / Herausgeber Becker, Heidede
Verlag filum rubrum verlag, Nauen 2012
Zum Verlag
aus Bauwelt 46.2013
Artikel als pdf

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