Die Urbanisierung der latinischen Malerlandschaft
Postkarten der italienischen Nachkriegsmoderne
Text: Noeske, Jannik, Weimar
Die Urbanisierung der latinischen Malerlandschaft
Postkarten der italienischen Nachkriegsmoderne
Text: Noeske, Jannik, Weimar
Postkarten üben Faszination aus. Eine Postkarte ist nie unbeschrieben, sie ist schon ein Medium an sich. Welches Bild ihrer Heimat verkaufen uns diejenigen, die sie anbieten? Welche Eindrücke teilen diejenigen, die sie verschicken, mit ihren Liebsten? Und schließlich, was können wir von ihnen in der Rückschau lernen über die gesellschaftlichen wie städtebaulich-architektonischen Veränderungen eines Landstriches?
Die letzte Frage stellt sich auch Ulrich Brinkmann in seinem bei DOM Publishers veröffentlichten Ansichtskarten-Bildband über die Urbanisierung der latinischen Malerlandschaft. Brinkmann sammelt seit seinem achten Lebensjahr Postkarten und kennt sich gut aus im Latium. Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte der Urbanisierung einer Region östlich von Rom, zwischen den Flüssen Sacco und Aniene gelegen, anhand dieses Mediums. Denn nicht immer sind Altstädte oder Landschaften abgebildet, sondern häufig ganz alltägliche Szenen auf den meistens über vierzig Jahre alten Souvenirs. Alltägliche Bauten der Nachkriegszeit reihen sich ein in die mittelalterlichen Szenerien, wenn sie nicht sogar selbst im Zentrum stehen. Die unvermeidliche Staffage dieser Jahre taucht häufig auf: Ape und Vespa, Fiat 600 und Autobus.
Die Postkarten zeugen also von den Verheißungen der Moderne auf dem Land: Industrie, Elektrizität, Mobilität, Mode, Sport oder Bildung. Häufige Motive sind Freibäder, Autobahnen, Schulen und Tankstellen, aber oft werden alltägliche Szenen mit den Menschen vor Ort abgebildet: Spielende Kinder, Spaziergänger und alte wie neue soziale Treffpunkte – beispielsweise eine Bushaltestelle. So findet sich bisweilen auch einfach eine neue Wohnsiedlung auf den Ansichtskarten. Faszinierend sind die Karten aus Colleferro, einer Industriestadt, die die industrielle und städtebauliche Entwicklung der Stadt eindrücklich abbilden. Die Postkarten werden zum Sprachrohr der Verheißung auf Fortschritt und Wohlstand für alle. Die damit einhergehenden Probleme wie Zersiedelung und Umweltverschmutzung kann nur erahnen, wer sie aus heutiger Perspektive betrachtet.
Brinkmann gliedert seine über Jahre angefertigte Postkartensammlung in zwölf Kapitel. Auffällig – und erfreulich – ist, dass alle Texte auch ins Italienische übersetzt wurden. Der Autor findet eine lebendige Sprache, die zwischen der Erzählung von Alltagsgeschichte und einem moderaten architektonischen Fachvokabular oszilliert. Belebend wirken die Verweise auf kulturelle oder technische Erscheinungen: Hier ein Vergleich der Postkarten mit der Genre-Malerei des frühen 19. Jahrhunderts in dieser Region, dort ein Verweis auf die Beschreibung des Verhältnisses von Bahnhof und Ortschaft bei Carlo Levi.
Herzstück der Publikation sind indes die Postkarten selbst. Der Autor hat 132 aus seiner Sammlung ausgewählt. Die Motive sind so unterschiedlich wie die Ortschaften selbst. Die Bandbreite reicht von Landschaftsaufnahmen über Eindrücke des Alltagslebens bis hin zu Architekturfotografie, von professionellen Arbeiten bis zu Schnappschüssen. Die Postkarten selbst sindliebevoll großzügig gesetzt, die Angabe der Vergrößerung beziehungsweise Verkleinerung in Prozent zeigen die Sorgfalt, mit der Autor und Verlag mit diesen Dokumenten umgegangen sind.
Schon in diesem Buch zu blättern, verrät dem aufmerksamen Betrachter ungeheuer viel über die vermeintliche Urbanisierung dieser bis heute ländlich geprägten Orte. Die begleitenden Texte sind hilfreich bei Verständnis und Diskussion der Motive, doch die Ansichtskarten stehen im Mittelpunkt. So bleibt es ein Buch zum Blättern und Querlesen. Italien- und Postkarten-Liebhaber kommen voll auf ihre Kosten, doch überfordert wird niemand. Im Gegenteil, die Betrachtung von Postkarten erweist sich als niederschwellige Methode der Historiographie des Alltags.
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