Bauwelt

Die Hauptstadt der Kommunalkas

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

Die Hauptstadt der Kommunalkas

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

Kommunalkas waren zu Sowjetzeiten die am weitesten verbreitete Wohnform in den
Innenstädten. Seit den neunziger Jahren hat sich die Zahl solcher „Gemeinschaftswohnungen“ zwar verringert, aber auch zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wohnen in Sankt Petersburg noch mehr als eine halbe Million Menschen in unfreiwilli­ger Gemeinschaft, meist unter für sie unakzeptablen Zuständen. Jeder träumt von einer eigenen Wohnung. Doch die „Privatisierung“ einzelner Zimmer hat die Lage nicht vereinfacht und macht schon einen simplen Umzug zu einem absurden Lehrstück des real existierenden Kapitalismus russischer Prägung.
In einer Kommunalka ist jedes Zimmer eine Wohnung en miniature, für Einzelpersonen bis zu ganzen Familien. Küche und Bad werden gemeinsam genutzt. Die sich daraus ergebenden beengten Verhältnisse sind sicher auch in anderen Ländern zu finden, das soziale Gefüge der Kommunalkas ist jedoch einzigartig. Denn die Bewohner leben nicht freiwillig unter einem Dach und haben sich ihre Zimmernachbarn auch nicht aussuchen können. Das macht die Kommunalkas zu einem spezifisch russischen Phänomen, das in Sankt Petersburg weit verbreitet ist. Die meisten dieser Wohnungen liegen im historischen Zentrum der Stadt, ihre Genese ist nur aus der bewegten Geschichte des Landes heraus begreifbar.

Die Paläste den Arbeitern

Die Geschichte der Kommunalkas reicht zurück bis zur Oktoberrevolution von 1917. Im Zuge der „Machtübergabe“ an die Arbeiter wurde ein Beschluss zur „Wohnungsumverteilung“ gefasst. Jeder Bürger, der in einer Wohnung lebte, in der nicht bereits mehr Menschen wohnten, als Zimmer zur Verfügung standen, wurde als wohlhabend und somit als potentieller Ausbeuter der Arbeiterklasse eingestuft. Er war gezwungen, eine bestimmte Zahl „Proletarier“ bei sich unterzubringen. Nach der Enteignung allen privaten Immobilienbesitzes in den Städten im August 1918 verteilte der Staat den Wohnraum an die Bürger, die für ihr Zimmer lediglich ein geringes Wohngeld in Höhe der Nebenkosten zahlen mussten. Jeder Person wurde entsprechend Alter, Beruf, Familienstand, Kinderzahl, gesundheitlichen Beschwerden etc. eine bestimmte Quadratmeterzahl zugeteilt.
Erfolgte die Umverteilung zu Beginn eher aus ideologischer denn aus praktischer Notwendigkeit, etablierte sich die bei allen Beteiligten unbeliebte Wohnform spätestens ab den dreißiger Jahren in der Innenstadt aus schierem Platzmangel. Auch Erwachsene wohnten oft noch Jahrzehnte im Zimmer der Eltern, bis ihnen ein eigenes Zimmer zugeteilt werden konnte. Ein Umzug war nur durch Zimmertausch möglich, den die „städtische Wohnraumtauschbehörde“ organisierte. Studien belegen, dass sich 1936 ein Viertel der Familien sogar das eine Zimmer mit einer weiteren Familie teilen musste. Als Reaktion darauf erklärte die Regierung Mitte der Dreißiger eine eigene Wohnung für jede Familie zu einem zentralen Ziel ihrer Wohnungspolitik. Trotzdem lebten im Stadtzentrum Leningrads 1990 noch 80 Prozent der Familien in einer Kommunalka. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ermöglichte die russische Regierung den Bewohnern, ihr Zimmer kostenfrei als Eigentum zu übernehmen (während das Haus als solches im Besitz des Staates verblieb). Der Wechsel der Eigentumsverhältnisse änderte an der Grundsituation jedoch nicht viel, war das zugeteilte Zimmer doch schon zuvor als eine sowjetische Art des Privateigentums empfunden worden, das einem nicht wieder weggenommen werden konnte. 2008 wohnten in Sankt Petersburg noch fast 700.000 Personen in einer Kommunalka.

Die Kunst der Gerechtigkeit

Hartnäckig hält sich der Mythos, die Bolschewiken hätten die Kommunalkas erfunden, um durch das kollektive Zusammenleben den „neuen Sowjetmenschen“ zu formen. Auch wenn dies sicher nicht zutrifft, hat die kommunale Wohnform tatsächlich einen prägenden, wenn auch zweifelhaften Einfluss auf die Bewohner. Der Ethnologieprofessor Ilja Utechin, der an der Universität Sankt Petersburg zum sowjetischen und postsowjetischen Alltagsleben forscht, beschreibt treffend, wie das erzwungene Zusammenleben das soziale Verhalten der Menschen beeinflusst: „In Kommunalwohnungen sind die Bewohner ständig dazu gezwungen, irgendetwas untereinander aufzuteilen. Es geht um Zentimeter in den gemeinschaftlich genutzten Räumen, um das Recht auf die Nutzung des Was­serhahns, der Wanne, der Toilette, um den Arbeitsaufwand der Wohnungsreinigung und um die Stromrechnung. Der ewige Kampf um Gerechtigkeit an allen Fronten folgt der Logik des Kuchens, den es gerecht aufzuteilen gilt: Bekommt der eine mehr, so bedeutet dies automatisch die Dezimierung der Anteile aller anderen. Aus diesem Grund muss man immer genau wissen, wie viel dem Nachbarn zuteil wird, und akribisch darauf achten, selbst nicht zu kurz zu kommen.“

Dieser Logik folgend wird nicht etwa geteilt, was man gemeinsam nutzen könnte. Vielmehr hat, trotz des Platzmangels, jeder seinen eigenen Kühlschrank, wenn möglich seine eigene Waschmaschine, bis hin zu seiner eigenen Klobrille, die nach der Benutzung fein säuberlich an den Haken gehängt wird. Auch mehrere Glühbirnen in einem Raum, die an eigene Stromzähler angeschlossen sind, stellten zur Hochzeit der Kommunalkas keine Seltenheit dar. Aus seiner Feldforschung in Petersburger Kommunalwohnungen berichtet Utechin von einigen Geschehnissen, die eindrücklich die zwischenmenschlichen Blüten einfangen, die eine solche Organisation im Alltag treibt: „Ein fast unglaubliches Beispiel einer Forderung nach Gerechtigkeit im permanenten Kommunalka-Verteilungskampf stellt folgende Beschwerde einer älteren Frau dar: An der Eingangstür ihrer Wohnung gab es nur eine Klingel, deswegen wurde ein Regime befolgt, in dem die Bewohner auf die Anzahl der Klingeltöne horchten. Draußen war auf einer kleinen Tafel unter der Klingel vermerkt: Petrow – einmal läuten, Iwanow – zweimal läuten, Sidorow – dreimal läuten. (Verbreitet war auch ein System, in dem jede Familie ihre eigene Klingel besaß.) Die ältere Dame forderte, dass der Anteil an der „gemeinsamen Nutzung“ (die Stromrechnung für den gemeinschaftlich genutzten Raum) eines Nachbarn vergrößert würde, da dieser ihrer Meinung nach zu viele Gäste empfing, die folglich viel zu oft die Klingel benutzten. Darüber hinaus war den seltenen Gästen der Frau das einmalige Klingeln ausgewiesen, denen des Nachbarn jedoch das dreimalige. So argwöhnte sie, dass das häufige dreifache Klingeln weit mehr Strom verbrauchte als das gelegentliche einmalige. In Anbetracht der Tatsache, dass sie und ihr Nachbar an der Stromrechung einen gleichen Anteil bezahlten, lag also eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit vor.“

In einer anderen Geschichte, die Utechin ebenfalls in Petersburg erzählt bekam, hatte ein Bewohner während der Abwesenheit seines Zimmernachbarn dessen Streichhölzer benutzt, die auf dem Küchentisch lagen. „Nach der Rückkehr des Nachbarn wurde der Verlust sofort entdeckt, da dieser vor seiner Abfahrt die in der Schachtel verbliebenen Streichhölzer abgezählt hatte. Dabei muss man wissen, dass es zu Sowjetzeiten wohl keine billigere Ware gab als Streichhölzer – eine Schachtel kostete damals eine Kopeke (heutzutage ca. 0,025 Euro-Cent – Anm.d.Red.). Im Verlauf des lautstarken Streits, der sich in der Küche entspann, gestand der Angeklagte das ganze Ausmaß seiner Schuld und bot eine volle Schachtel Streichhölzer als Kompensation des von ihm verursachten moralischen und materiellen Schadens an. Der Geschädigte nahm jedoch die dargebrachte Schachtel und warf sie mit den Worten aus dem Fenster: ,Ich will deine verdammten Streichhölzer nicht. Ich will, dass meine Sachen in Ruhe gelassen werden.‘ Es ist anzunehmen, dass der Geschädigte diesen Vorfall bewusst provoziert hatte. Er wusste, dass sein Eigentum womöglich entwendet werden würde, und traf auch anderswo Vorkehrungen: Töpfe und Kühlschrank wurden beispielsweise mit Vorhängeschlössern verriegelt. Doch der unbedeutende Gegenstand der Provokation und die Emotionalität der Reaktion verraten das eigentliche Problem, das die Menschen bewegt: die Furcht um das Eigene, das zur Beute des Nachbarn werden könnte, die Angst vor der Verletzung des Privaten.“

Der Umbau einer Wohnung

Die Petersburger haben sich zwar notgedrungen mit der Wohnsituation arrangiert, der sehnlichste Wunsch jedes Kommunalka-Bewohners ist und bleibt aber eine eigene Wohnung – oder zumindest die Nutzung mehrerer Zimmer. Was früher nur durch komplizierteste Tauschgeschäfte, Ausscheiden eines Mitbewohners, Kinderreichtum, Hochzeit bzw. Scheidung, erfundene Krankheiten und andere Tricks erreicht werden konnte, wird heute, nach der „Privatisierung“ der Zimmer, durch den Markt geregelt.

Den langwierigen Prozess, eine Kommunalka in den Besitz einer Person zu überführen, hat Christiane Büchner in ihrem Film „pereSTROIKA“ so exemplarisch wie unterhaltsam dokumentiert. Zunächst kann eine Wohnung nur verkauft werden, wenn alle Bewohner ihre Zimmer „privatisiert“ haben, wozu sie nicht gezwungen sind (die geringfügig höheren Betriebskosten bei Eigenbesitz halten ärmere Bewohner davon ab). Die nächste Hürde ist die Bereitschaft aller Parteien, ihr Zimmer zu verkaufen und umzuziehen. Dabei möchte sich jeder verbessern: Der eine erhofft sich einen Gewinn durch Kauf eines günstigeren Zimmers, andere wollen vor allem mehr Quadratmeter. Auch der Umzug gestaltet sich schwierig: Wer in der Innenstadt bleiben möchte, dem ist mit der Auszahlung des Kaufpreises nicht gedient. So hat sich ein System etabliert, in dem die Makler nicht nur einen Käufer für die Wohnung, sondern zugleich ein neues Zimmer für jeden Bewohner organisieren. Nach einem halben Jahr Maklertätigkeit und zähen Verhandlungen sieht das für ein Zimmer der „Filmwohnung“ am Ende so aus: Eine Familie verkauft ihr Zimmer und kauft dafür einer Dame, die zwei Zimmer besitzt, diese ab. Die Dame kauft von dem Erlös einer Mutter mit Sohn deren Einzimmerwohnung ab. Diese erwirbt ein Kommunalka-Zimmer und lässt sich die Differenz ausbezahlen. Der Verkäufer des letzten Zimmers in der Kette lässt sich den Kaufpreis bar auszahlen, er zieht wahrscheinlich an den Stadtrand oder zu seiner Partnerin. Je mehr Zimmer die Kommunalka hat, desto komplexer wird das Puzzle von Kauf und Verkauf – so komplex, dass fast alle, die heute als Makler in diesem Bereich tätig sind, den Beruf nicht konventionell erlernt haben, sondern nach dem Verkauf ihrer eigenen Kommunalka einen Spezialistenstatus erreicht haben, der sie in den Augen ihrer Kunden für den Beruf ausreichend qualifiziert.

Das Geschenk an ihre Bürger hat der Stadt einige Probleme eingebracht. So verfügen die Bewohner mit den Zimmern zwar über Besitz, dem aber kein Eigenkapital zugrunde liegt, das für den Erhalt oder die Sanierung der Wohnungen genutzt werden könnte, die immer weiter verfallen. Der Stadt ist darum an der Auflösung der Kommunalkas gelegen. Im Dezember 2007 hat sie ein Programm verabschiedet, das durch finanzielle Zuschüsse die Zahl der Kommunalkas in Sankt Petersburg bis 2016 um 80 Prozent reduzieren soll.

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