Bauwelt

Als ich zum ersten Mal in die Stabi gekommen bin, fühlte ich mich sofort zuhause

In Deutschland gibt es mittlerweile eine gut vernetzte Community syrischer Architektinnen und Architekten. Wie erleben sie den Berufsalltag? Welche Erfahrungen bringen sie mit?

Text: Kleilein, Doris, Berlin; Meyer, Friederike, Berlin

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    Mada Saleh (links) und Tony Al-Arkan
    Foto: Sascha Kellermann

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    Mada Saleh (links) und Tony Al-Arkan

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    Café Bravo von Johanne Nalbach mit Dan Graham (Berlin, 1999)

    Foto: Stefan Müller

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    Café Bravo von Johanne Nalbach mit Dan Graham (Berlin, 1999)

    Foto: Stefan Müller

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    Blick von der Zitadelle auf die zerstörte Altstadt von Aleppo im Januar 2016

    Foto: DGAM Syria

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    Blick von der Zitadelle auf die zerstörte Altstadt von Aleppo im Januar 2016

    Foto: DGAM Syria

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    Architekturfakultät Damaskus, die größte der fünf Architekturschulen Syriens
    Foto: Wikipedia Commons

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    Architekturfakultät Damaskus, die größte der fünf Architekturschulen Syriens

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    Syrische und arabische Geschäfte in Berlin-Neukölln
    Fotos: Florian Thein

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    Syrische und arabische Geschäfte in Berlin-Neukölln

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Als ich zum ersten Mal in die Stabi gekommen bin, fühlte ich mich sofort zuhause

In Deutschland gibt es mittlerweile eine gut vernetzte Community syrischer Architektinnen und Architekten. Wie erleben sie den Berufsalltag? Welche Erfahrungen bringen sie mit?

Text: Kleilein, Doris, Berlin; Meyer, Friederike, Berlin

Frau Saleh, Herr Al-Arkan, wie sind Sie nach Deutschland gekommen?
Mada Saleh Ich hatte 2009 einen Artikel über das Bravo-Café in den Berliner Kunstwerken gelesen. Als Architektur- und Archäologiestudentin hat mich diese Haltung überzeugt: ein Gebäude, das modern ist und gleichzeitig das historische Erbe reflektiert. Auch die deutsche Erfahrung mit dem Wiederaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg fand ich interessant. Im Februar 2011 habe ich ein DAAD-Stipendium bekommen und bin ich nach Deutschland gegangen. Drei Monate später begann der Krieg in Syrien. Ich war eine der letzten, die ihr Visum von der Deutschen Botschaft in Damaskus bekommen haben.
Tony Al-Arkan Vor dem Krieg wollte ich nach Deutschland, nach Kriegsbeginn musste ich. Ich wäre eigentlich bereits 2012 über ein Austauschprogramm der TU Cottbus gekommen, aber zwei Wochen vor dem Termin wurde die Deutsche Botschaft in Damaskus geschlossen. Im Mai 2015 konnte ich endlich als Student über Beirut ausfliegen. Vorher habe ich an der Universität in Damaskus mein Studium abgeschlossen und einen deutschen Sprachkurs gemacht. Wie viele Syrer musste ich irgendeinen Weg aus dem Land finden, sonst wäre ich zum Militärdienst eingezogen worden und hätte kämpfen müssen.
Wie haben Sie die Ankunft hier erlebt?
Tony Al-Arkan Ich hatte am zweiten Tag eine Stelle in einem Berliner Architekturbüro.
Das ging aber schnell.
Tony Al-Arkan Ich hatte Glück. Ein Freund, der bereits vier Jahre in Deutschland gearbeitet hatte, half mir bei der Bewerbung. Aber nehmen Sie mich nicht als Beispiel. Syrische Architek­-ten in Deutschland sind permanent auf Arbeitssuche. Das läuft hier anders als in Syrien, viele wissen nicht, wie man die Unterlagen vorbereitet. In Syrien bewerben wir uns mit Entwurfsport­folios, mit Ideen, hier will man konkrete Projekte sehen. Viele ziehen von Stadt zu Stadt, um Ar­beit oder einen Studienplatz zu finden.
Was sind die größten Hürden im Berufsalltag?
Tony Al-Arkan Die Sprache lernen dauert lange, das deprimiert viele. Ich habe zunächst als technischer Zeichner gearbeitet und dabei Deutsch gelernt. Dann habe ich gelernt, wie man einen deutschen Bauantrag stellt, eine Bauaufnahme und eine Dokumentation macht. Wenn es tiefer ins Baurecht geht, muss ich fragen. Auch die Bauleitung war bisher wegen der Sprache schwierig für mich, aber meine Chefin nimmt mich mit auf die Baustelle und bringt mir das bei. Am Anfang haben wir Englisch gesprochen und sie hat für die Handwerker übersetzt.
Gibt es Unterstützung von der Architektenkammer?
Tony Al-Arkan Bisher nicht. Wir haben der Architektenkammer vorgeschlagen, dass sie einen Kurs für geflüchtete Architekten macht: Wie die Baupraxis hier läuft, Baurecht, Fachsprache. Aber das kommt wohl erst mit der Zeit.
Mada Saleh Die Sprache ist eine große Mauer für uns. Erst denkt man, dass die deutsche Sprache wie Lego ist, dass man Teile zusammensetzen kann, doch dann kommt das Bauen, und man muss wieder raten, was Fachbegriffe bedeuten. Als Syrer haben wir allerdings den großen Vorteil, dass wir sehr fit bei digitalen Anwendungen sind, von AutoCAD bis 3d-Max. Das ist Teil unserer Ausbildung. In Syrien war ich nicht immer die Beste, doch als ich nach Deutschland kam, hatte ich durch meine Computerkenntnisse sofort einen Platz im Team. So habe ich auch 2012 meinen ersten Job in einem deutschen Archi­tekturbüro gefunden: Ich habe handgezeichnete Pläne digitalisiert.
Im Vergleich mit deutschen Kolleginnen und Kollegen – fühlen Sie sich gut ausgebildet?
Tony Al-Arkan Ja, vor allem, wenn es um die schnelle Umsetzung unter hohem Zeitdruck geht. Aber ich höre immer wieder, dass es wenig Vertrauen in die Professionalität syrischer Archi­tekten gibt und Skepsis, ob wir hineinpassen. Viele Freunde haben drei oder vier Monate kostenlos oder für wenig Geld gearbeitet. Mit Prak­tikum wird es dann einfacher.
Mada Saleh In manchen Dingen ist es ein Rückschritt für uns, wenn wir sehen, mit welch ver­alteten Programmen deutsche Architekten arbeiten. Ein Nachteil unserer Ausbildung ist allerdings der fehlende Praxisbezug: Entwürfe werden nicht verortet, wir planen im luftleeren Raum. In Deutschland werden die Studierenden losgeschickt und müssen ein Baugrundstück suchen und für einen spezifischen Ort entwerfen, bis ins Detail hinein – das ist eine Heraus­forderung für Studierende aus Syrien. Wir haben zwar sechs Semester lang gelernt, Betonkon­struktionen wie Bauingenieure zu rechnen, aber nicht, wie man Fensterprofile zeichnet. Mit praktischen Dingen wie Brandschutz beschäftigt man sich auch nicht an der Uni. Dass ein Flughafen wie der BER wegen des Brandschutzes nicht eröffnet, das würde es in Syrien nicht geben (lacht).
Wie ist das Architekturstudium in Syrien ausgerichtet? Woran orientiert man sich?
Mada Saleh Die Architekturtheorie ist westlich und international ausgerichtet. Als ich in Berlin zum ersten Mal die Staatsbibliothek betreten habe, fühlte ich mich sofort zuhause, da ich das Gebäude ja aus dem Neufert kannte. Wir haben viele Beispiele aus dem Neufert analysiert, von den Villen Frank Lloyd Wrights bis hin zum Städtebau. Die Golfstaaten sind für uns Plastikstaaten: erst vor kurzem gebaut und ohne eigene Architektursprache. Die islamische Architektur haben wir nur ein Semester lang behandelt.
Die islamische Baukultur spielt keine Rolle?
Mada Saleh Moscheen und Kirchen sind keine beliebten Themen, das hat viele Gründe. Obwohl in der syrischen Verfassung der Islam als Staatsreligion steht, ist Syrien in vielen Bereichen sä­kular, wie etwa im Bildungssystem, das stark durch das französische Völkerbundmandat für Syrien (Anm. der Red.: 1922–1946) geprägt ist. Und wir sind offiziell noch immer eine sozialistische Republik, viele Professoren kommen aus Polen und Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Wie kann man sich eine typische Entwurfsaufgabe in Syrien vorstellen?
Mada Saleh In den ersten Studienjahren beschäftigen sich viele mit der Identitätsfrage: Man will modern bauen, aber arabisch. Es gibt panarabische Ideen: Die Studierenden sollen Hochhäuser planen, aber man soll erkennen, dass sie im Nahen Osten stehen. Wenn es darum geht, die arabische Identität zu zeigen, baut man ein Fenster mit Rundbogen. Es gibt wirklich diese Art von Kitsch, zumal Rundbögen ja eher in der Tradition der romanischen Architektur stehen.
Sind die syrischen Universitäten noch in Betrieb?
Mada Saleh Ja, sogar in Aleppo. Viele Syrer, die ihr Studium abschließen, bewerben sich jetzt um Visa in Deutschland. Im Gegensatz zu Frankreich ist der deutsche Staat da noch großzügig.
Gibt es noch akademischen Austausch?
Mada Saleh Nur auf privater Ebene. Das Auswärtige Amt erlaubt derzeit natürlich keinen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern, das wäre zu gefährlich. Stattdessen gibt es eine deutsch-jordanische Universität in Amman, wo mit Hilfe des DAAD und mit Unterstützung von deutschen Universitäten wie der TU Berlin und der RTWH Aachen ein Masterprogramm aufgebaut wird. Mindestens die Hälfte der Stu­dierenden sollen dort syrische Flüchtlinge sein,
Im November 2016 fand in Leipzig die ICOMOS-Konferenz „Nach der Stunde Null“ zum Wie­deraufbau syrischer Städte statt. Kann man jetzt schon den Neuanfang planen?
Mada Saleh Die „Stunde Null“ ist nur ein Begriff. In Afghanistan ist seit 14 Jahren Stunde Null, in Syrien sind viele skeptisch, wann diese Stunde kommen soll. Wer sich die Kriege im Nahen Osten ansieht, weiß, dass sie lange dauern: 35 Jahre Bürgerkrieg im Libanon, 10 Jahre Bürgerkrieg im Irak, der Krieg gegen die Kurden. Meiner Meinung nach ist jetzt bereits Stunde Null in Syrien, denn der Wiederaufbau beginnt mit der Dokumentation dessen, was zerstört wurde.
Tony Al-Arkan Alle syrischen Architekten denken über den Wiederaufbau nach. Keiner will mehr Ausführungsplanung oder Innenausbau studieren, alle beschäftigen sich mit dem großen Maßstab, um nach dem Krieg helfen zu können.
Mada Saleh Vor dem Krieg war das beliebteste Abschlussprojekt an der Architekturfakultät eine Shoppingmall, heute ist es der Wiederaufbau zerstörter Stadtviertel. An allen fünf Architekturschulen des Landes werden jetzt städtebauliche Pläne gezeichnet. Mehrere Master für Denkmalpflege werden angeboten, denn dafür gibt es eine Finanzierung. Viele deutsche Universitäten trauen sich nicht, mit syrischen Universitäten direkt in Kontakt zu treten, weil nicht klar ist, ob man dann mit dem Regime arbeitet. Aber es gibt auch in Deutschland Workshops zur Stadtplanung in Syrien.
Syrische Städte sind stark segregiert, es gibt regimetreue Viertel und Rebellenviertel, sunnitische, alawitische und christliche Viertel. In einigen Stadtteilen geht das Leben normal weiter, andere sind großflächig zerstört. Wie kann man sich den Wiederaufbau vorstellen?
Mada Saleh Die Situation syrischer Städte ist sehr unterschiedlich. In Damaskus wurden vor allem die informellen Siedlungen der Suburbs zerstört, der historische Stadtkern ist noch intakt. In Homs ist die Altstadt zerstört. Der Krieg ist dort wirklich zu Ende, und die Menschen wollen in die Stadt zurückkehren. Der Fokus der Wiederaufbaudebatte liegt auf Aleppo, dort sieht es schlimm aus, sowohl die Altstadt als auch die neuen Wohnviertel sind zerstört.
Welche Rolle spielen die syrischen Architekten im Exil?
Tony Al-Arkan Es gibt viele Planungen für Syrien, doch die syrischen Architekten in Deutschland spielen nur eine kleine Rolle. Dabei könnten sie Investoren und Firmen, die in Syrien bauen wollen, helfen, weil sie das Land kennen. Die Frage ist: Wer hat die Kontrolle? Wer macht den großen Plan? Die Syrer selber können das nicht. Wenn das syrische Regime gewinnt, können wir alle Pläne in die Mülltonne werfen. Das Regime hat bereits Pläne aus China für den Wiederaufbau gekauft, zum Beispiel für Joubar in West-Damaskus – vor dem Krieg hatte der Stadtteil eine Million Einwohner, jetzt wohnt dort keiner mehr. Wenn das Regime nicht gewinnt, wissen wir nicht, was danach kommt. Wir können eigentlich nur noch denken und schreiben, nicht mehr planen.
Ist die Rückkehr nach Syrien eine Perspektive?
Mada Saleh Ein Großteil der Professoren und Mitarbeiter syrischer Architekturfakultäten haben das Land verlassen und sind jetzt irgendwo in Europa. Von den Studierenden, die nach Deutschland kommen, wollen die wenigsten hier bleiben. Sie wollen den Bezug zu Syrien nicht verlieren und sich die Rückkehr offen halten. Man trennt sich ja nicht von seinem Land, und hier ist alles in der Schwebe. Und an dem ers­-ten Tag, an dem man 30 Minuten bei Regen und Kälte auf den Bus wartet, will man nach Syrien zurück.
Tony Al-Arkan Alles ist offen. Ich baue hier etwas auf, aber wenn es eine gute Gelegenheit in Sy­rien gibt, mein Wissen weiterzugeben, als Architekt, als Lehrer, dann gehe ich zurück.
Ihre Familien sind noch in Syrien. Haben Sie Angst um sie?
Mada Saleh Ja, aber ich begegne meiner Angst nicht. Als ich in Frankreich war, hat mich mein Vater aus Damaskus angerufen, wo täglich Bomben fallen, und hat gesagt, er habe große Sorge um mich wegen der Terroranschläge. Meine Eltern können mich nicht besuchen, weil sie kein Touristenvisum bekommen. Ich müsste eine Familienzusammenführung beantragen, aber ich verdiene zu wenig, da mein Stipendium nicht als Einkommen zählt. Meine Eltern müssten also losschwimmen und Asyl beantragen.
Tony Al-Arkan Meine Familie lebt in Tartus am Mittelmeer, das ist weit weg vom Krieg. Ich kann nicht nach Syrien reisen, weil ich vor der Armee geflohen bin. Wenn ich meine Familie sehen will, dann treffen wir uns im Libanon.
Integration in Deutschland. Was heißt das für Sie?
Mada Saleh Ich verbinde damit deutsche Frauen, die mit Flüchtlingen kochen. Die Männer sind ein wenig benachteiligt. Alle kümmern sich um Frauen und Kinder, sie lernen schneller Deutsch, und die Männer hängen herum und rauchen (lacht). Für viele Flüchtlinge ist es schwer, sich in Deutschland zu integrieren. Man sitzt mit anderen Ausländern im Integrationskurs: Ich frage mich, wie man da etwas über die Kultur lernen soll. Wenn man mit der Familie kommt, bleibt man in der Familie. Die älteren Leute integrieren sich am besten über ihre Kinder, sie lernen schnell Deutsch und übersetzen. Zum Teil erpressen sie ihre Eltern und übersetzen nur, wenn sie Süßigkeiten bekommen. Aber die Schulen haben Willkommensklassen nur für Ausländer – wie sollen sie sich da integrieren?
Tony Al-ArkanIntegration ist für mich ein positiver Begriff: Meine Lebensart aus Syrien mitbringen, aber mich in die Art integrieren, wie die Gesellschaft hier lebt. Ich kann mich entwickeln, die neue Situation nutzen. Wir haben in der syrischen Gesellschaft viele Grenzen, die man nicht überschreiten darf. In Deutschland fange ich bei null an. Ich habe in einer WG mit sechs deutschen Studenten gewohnt, die mir die Sprache beigebracht haben, aber auch gesellschaftliche Details, zum Beispiel, was tabu ist.
Was ist hier tabu?
Tony Al-Arkan Meine erste Lektion war: Man darf nicht „diese Leute“ sagen, sondern wählt eine Umschreibung, damit man keine Gruppen ausgrenzt oder Menschen in eine Schublade steckt. Im Arabischen sagen wir oft „diese Leute“, es hat keine negative Bedeutung. Auf Deutsch geht das nicht.
Ist Deutschland ein kompliziertes Land?
Mada Saleh Das Problem ist, dass es viel Bürokratie in einer fremden Sprache gibt. Was ich nicht verstehe: Berlin ist eine internationale Stadt, aber auf der Ausländerbehörde spricht keiner Englisch. Dann gibt es die Krankenversicherung, ein System, das wir in Syrien nicht kennen. Es ist ein Teufelskreis: Für die Krankenversicherung brauchen wir die Aufenthaltsgenehmigung, für die Aufenthaltsgenehmigung ein Bankkonto, für das Bankkonto die Aufenthaltsgenehmigung. Wir werden zwischen den Behörden hin- und hergeschubst, und jedes Jahr gibt es neue Regeln.
Hat die Bürokratie nicht auch ihr Gutes?
Mada Saleh Natürlich, aber es fehlt an Absprachen, an Flexibilität. Ich finde es richtig, dass man die deutsche Sprache lernen soll. Aber wir kommen aus dem Krieg. Warum können wir nicht erst einmal mit der englischen Sprache in einem neuen Land ankommen?
Geht die Integration im Studium leichter?
Mada Saleh Ich habe positive Erfahrungen gemacht, aber viele meiner Bekannten nicht: Sie sind seit zwei Jahren hier, haben alle Unterlagen für die Universität gesammelt, und seit kurzem müssen Sie einen Intelligenztest machen (Anmerkung der Red.: TestAS-Test für ausländische Studierende). Die Anmeldefrist liegt hinter der Anmeldefrist für das Semester, dann müssen sie wieder warten.
Müssten die Universitäten sich stärker engagieren?
Mada Saleh Die Universitäten warten, bis die Studierenden zu ihnen kommen. Es gibt zwar Gasthörerprogramme, aber ein Flüchtling, der in der Notunterkunft Tempelhof lebt, hat keine Ahnung, wie er Zugang zur TU Berlin oder zur FU findet. Studierende, die aus Syrien geflüchtet sind, haben ihre Papiere nicht dabei, das macht Probleme. Minderjährige, die vor dem Abi gekommen sind, werden einige Klassen zurückgestuft, auf die Realschule geschickt oder sollen eine handwerkliche Ausbildung machen, wollen das aber gar nicht. Ich rate allen: Flüchte nicht, bevor du dein Abi gemacht hast. Doch auch, wer studieren will, hat es schwer. Als Flüchtling bekommt man das Geld vom Amt, als Student muss man Bafög beantragen – viele wissen nicht, wie, und haben Angst vor den Schulden.
Die Rolle der Frau in arabischen Gesellschaf­-ten wird in Deutschland als Integrationshindernis diskutiert. Würden Sie dem zustimmen?
Mada Saleh Die Frauen hatten in Syrien das Wahlrecht, bevor sie es in der Schweiz bekommen haben (Anmerkung der Red.: Syrien 1956/Schweiz 1971). Es gibt Frauen im Parlament seit der Un­abhängigkeit Syriens 1946. Man muss allerdings unterscheiden zwischen Frauen, die aus den Städten kommen und Frauen vom Land oder aus sehr konservativen Familien. Die Frauen aus den Städten sind nicht benachteiligt, zumindest nicht mehr als hier. Man muss nur sehen, wie viele Frauen Kopftuch tragen in Berlin-Wedding wie wenige an der TU Berlin.
Von Rechtspopulisten wird vor allem die Reli­gion der Flüchtlinge problematisiert.
Mada Saleh Wie viele Syrer komme ich aus der arabischen Kultur, aber ich bin keine religiöse Person. Nicht die Religion an sich, sondern die islamistischen Organisationen sind das Problem. Die Flüchtlinge haben alles hinter sich gelassen und werden hier von konservativen islamischen Gemeinden empfangen, die betonen, dass wir ja alle Muslime sind. Sie sind sehr gut organisiert. Moscheen werben in den Flüchtlingsunterkünften mit Veranstaltungen in arabischer und deutscher Sprache. Ein befreundeter Architekt hat in Syrien immer gerne Alkohol getrunken. Seit er in Deutschland ist, macht er das nicht mehr. Aber auch die Zeugen Jehovas stehen übrigens sehr lieb in den Flüchtlingsunterkünften herum.
Wie beurteilen Sie die Flüchtlingsunterbringung in Deutschland?
Mada Saleh Man hat ein Dach über dem Kopf, es gibt viel Hilfe. In Tempelhof fehlt allerdings Privatsphäre, weil viele zu lange dort sind. Man darf wegen des Denkmalschutzes keine festen Küchen bauen, hat monatelang nur einen Vorhang, muss sich mit Taschenlampe anziehen, wenn man früh aufsteht. Andererseits ist man mitten in Berlin, es gibt viele Sozialarbeiter. In Eisenhüttenstadt verlassen die Mitarbeiter des Roten Kreuz jeden Abend die Unterkunft. Wenn Kinder sich verletzen, müssen sie bis zum Morgen warten. Das Sicherheitspersonal spricht Russisch und Deutsch, nicht Arabisch.
Also mehr Selbständigkeit für Flüchtlinge?
Tony Al-Arkan Alle Architekten, die ich kenne, können es kaum erwarten, endlich arbeiten oder studieren zu dürfen.
Im Gegensatz zu anderen Ländern werden ethnische Communities in Deutschland eher skeptisch betrachtet. Wie sehen Sie das?
Mada Saleh Die Sonnenallee in Berlin-Neukölln ist Klein-Syrien, Klein-Libanon, Klein-Palästina, das begann ja schon mit dem Libanonkrieg. Eine Straße ist in Ordnung, aber ein ganzes Viertel? Womöglich noch neu gebaut? Das finde ich nicht gut, man hat in Belgien gesehen, wohin das führt. In Paris und Marseille gibt es viele Communities, in denen die Menschen vor allem Arabisch sprechen und schlecht Französisch. Die Flüchtlinge kommen dorthin, viele mit Depres­sionen, und sie kommen nicht mehr heraus. Die Verteilung von Flüchtlingen, wie sie in Deutschland stattfindet, finde ich keine schlechte Idee. Das ist zwar ein großer Eingriff in die Rechte der Menschen, aber für die ersten zwei oder drei Jahre finde ich das in Ordnung.
Werden „Arrival Cities“ also verklärt?
Mada Saleh Für mich sind Arrival Cities eher die Camps in Syrien, in Libanon, in Jordanien – in Deutschland kann man davon nicht sprechen, weil die Flüchtlinge in bestehenden Stadtvier­teln ankommen, in Arbeiterstadtteilen wie Wedding und Kreuzberg. Dort kommt nur eine wei­tere Schicht Bewohner dazu. Für mich könnten eher verlassene Orte wie Eisenhüttenstadt
Arrival Cities werden.
Wie sollen schrumpfende Städte „Arrival Cities“ werden, wenn es dort keine Arbeit gibt?
Mada Saleh Man muss Anreize schaffen: eine günstige Ladenmiete in Marzahn und die Leute würden kommen. Eine bezahlbare Wohnung und ein Sprachkurs in Eisenhüttenstadt oder Frankfurt/Oder, warum nicht? Die syrische Gesellschaft ist gut vernetzt, man kann sich darauf verlassen, dass Leute nachziehen.
Sind Sie hier mit Rassismus konfrontiert?
Mada Saleh Rassismus ist das falsche Wort. 2013–2015 gab es die „Adopt a Syrian“-Phase. Alle fanden es toll, den Syrern zu helfen, und haben auf Facebook Sachen gepostet wie „su­per Tag mit Flüchtling“. Das ist keine Benachtei­ligung, aber eine Art versteckter Rassismus. Menschen werden nicht mit ihrem Namen genannt, sondern auf ihren Status reduziert.
Tony Al-Arkan Nein, Berlin ist besonders, es ist eine multikulturelle Stadt. Wir laufen selbst­bewusst durch die Straßen, wir leben hier. Es ist leicht, in der Gesellschaft anzukommen.
Wie wirkt die Berichterstattung der Medien über Flüchtlinge auf Sie?
Mada Saleh Medien wie BILD lieben Fotos von allein reisenden jungen Männern mit Bart. Sie stehen für die Gefahr, die nach Deutschland kommt. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, dann heißt es: „Aus Syrien? Wirklich? Du bist etwas Besonderes!“ Nein, ich bin sehr normal. Ich sehe sofort ein Fernsehbild in den Augen dieses Menschen. Man kann vieles machen hier, es ist ein tolles Land, aber man muss permanent gegen die Bilder der Medien ankämp­-fen: Nicht jede Flüchtlingsfamilie besteht aus einem Sohn, der zur Schule geht, einer Tochter, die heiraten soll, einer Mutter mit Kopftuch im Hintergrund und einem Vater mit Schnauzer, der stolz auf dem Sofa sitzt. Das ist, als würde man eine bayerische Frau in Tracht zeigen und sagen: Das sind die deutschen Frauen.
Fakten
Architekten Saleh, Mada, Berlin; Al-Arkan, Tony, Berlin
aus Bauwelt 41.2016
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