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„Wir hatten die Vorstellung, dass der Stadtraum ein Zuhause ist“

Text: Kleilein, Doris, Berlin

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Frederiek Vande Velde

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Frederiek Vande Velde


„Wir hatten die Vorstellung, dass der Stadtraum ein Zuhause ist“

Text: Kleilein, Doris, Berlin

Interview mit Marie-José Van Hee und Paul Robbrecht
Ein Neubau wie dieser mitten in der Altstadt wäre in Deutschland heute schwer durchzu­setzen – die Tendenz geht zur Rekonstruktion historischer Gebäude. Auch die Stadt Gent wollte anfangs nur eine Platzgestaltung. Wieso haben Sie auf dem Neubau bestanden?
Paul Robbrecht | Uns war von vornherein klar, dass man den Platz zwischen dem Belfort und der St. Niklaaskerk nur mit einer Gebäudemasse neu organisieren kann. Eine Pflasterung und Grün wären nicht genug gewesen. Da das historische Ensemble in zwei Phasen zerstört wurde (S.14), hatte der Außenraum eine unklare Kontur. Der Platz ist aber sehr wichtig für die Stadt, da er eine Verbindung zu den anderen Plätzen ringsum darstellt, aber auch in die Einkaufsstraße und zum Rathaus. Das ist kein Ort, an dem die Leute einfach nur im Park sitzen.
Ein Gebäude ohne ein klar definiertes Programm – gab es da nicht Vorbehalte, dass es ein un­genutzter, ein leerer Raum werden würde?
PR | Ja, die Leute sagten: Da passiert doch nichts. Es gab viel Widerstand. Wenn es nach mir geht, muss dort auch nicht jeden Tag etwas stattfinden. Wenn man zum Beispiel unter den Arkaden irgendeines anderen Platzes läuft, muss auch nicht immer ein Event organisiert sein.
Mit Elementen wie dem öffentlichen Kamin schlagen Sie eine Art neues städtisches Ritual vor. Wird das angenommen?
Marie-José Van Hee | Ja, wir hatten die Vorstellung, dass das Stadtzentrum eine Art Zuhause ist.
PR | Manche stellen Tische auf und essen dort; es gibt Straßenmusik, Hochzeiten. Gent ist eine Festivalstadt, im Sommer findet hier das Gentse Feesten statt, das größte Volksfest Europas. Wir haben uns von Anfang an die Frage gestellt: Wie können wir einen Innenraum schaffen, der komplett öffentlich ist? Es soll sich nach einem Innenraum anfühlen, aber eine offene Situation bleiben. Das ist schwer zu definieren. Man hätte nicht einfach eine Art Bahnhofsgebäude machen können, wir wollten etwas anderes. Wir wollten eine Art Wohnraum mit einem edlen Kamin, der dennoch eine starke Verbindung zu den umgebenden Außenräumen hat.
Wie hat die Feuerwehr auf das Lagerfeuer unter dem Holzdach reagiert?
MVH | Das ist doch einfach nur ein Kamin, wie in einem normalen Haus.
PR | Zigaretten und Abfall sind viel gefährlicher als Brandursache. Wenn das Feuer an ist, steht immer jemand dabei.
Sie arbeiten seit langer Zeit immer wieder an diesem Projekt. In den ersten Entwürfen war der Baukörper geschlossen.
MVH |  Die erste Idee war tatsächlich ein geschlossenes Volumen mit Glaspaneelen, die man nach oben klappen konnte wie ein Vordach. Aber das war zu komplex, zu viel Technik war nötig. Wir haben uns dann entschlossen, alles ganz offen zu lassen.
Die architektonische Sprache der Stadthalle formuliert eine gewisse Zeitlosigkeit. Wird ein Besucher, der in 100 Jahren in die Genter Altstadt kommt noch sagen können, aus welcher Zeit das Gebäude stammt?
PR | Es ging uns um ein architektonisches Grundmotiv, eine grundlegende Haltung zum Bauen, die nicht an eine bestimmte Kultur oder Zeit gebunden ist. Während des Entwurfsprozesses wurde die Form komplexer, wir haben sie verdoppelt. Es ist kein Sakralraum, weil ihm die zentrale Achse fehlt – ein Doppelgiebel, das gibt es nicht in einer Kirche. Durch die Doppelung wird das Gebäude auch zu einer Art Tor, einem Durchgang. Es markiert eine historische Verbindung, den Handelsweg zwischen Köln und Brügge.
MVH | Es gibt sogar eine zweifache Doppelung: Die vier Pilotis bilden zwei Tore, es gibt zwei Giebel, zwei Fassaden. Durch die Öffnungen sind sehr spezielle Blicke auf den Belfried möglich. Auch die Wahrnehmung der St. Niklaaskerk wird verstärkt.
Wie kam die Gebäudehöhe zustande?
MVH | Die Höhe leitet sich aus der Umgebung ab. Wir wollten nicht höher gehen als die Häuser der Nachbarschaft, aber eben auch nicht darunter bleiben.
PR | Die Umgebung hat wirklich alles definiert: den Fußabdruck, die leichten Drehungen im Gebäude, die Proportionen. Wir haben viele städtebauliche Kanten einbezogen. Es war eine Übung in Renaissance.
Ist das Gebäude eine Abstraktion des Wohnblocks, der im Mittelalter dort stand?
MVH | Es verweist auf die Geschichte des Ortes, natürlich.
PR | Wir haben den Platz allerdings mit einem einzigen großen Volumen neu organisiert. Ein Wohnblock ist ja viel kleinteiliger und komplexer. Alles sollte in Ordnung kommen durch eine große Geste (schlägt auf den Tisch), mit einem Ding, das genau die richtige Größe hat für diesen Ort.
Durch die Kleinteiligkeit des Materials wirkt das Volumen nicht besonders groß.
MVH | Für uns ist es wie ein Schrein, ein Möbelstück, das gleichzeitig auch ein Gebäude ist.
PR | Wenn man sich einen Schrein genauer ansieht, stellt man fest, dass es ein ziemlich selt­samer Gegenstand ist. Er sieht aus wie ein Stück Architektur, ist aber eigentlich das Gegenteil davon, einfach nur eine kleine Kiste. Das ist ein surrealsitisches Prinzip. Man macht etwas Kleines sehr groß und etwas Großes sehr klein. Die Stadthalle hat vier kleine Füße, wie ein Schrein.
MVH: Als wir das Gebäude entwickelt haben, wurde uns klar, dass wir diese Füße sehr gut nutzen können für eine ganze Reihe von Funktionen: zwei Aufzüge sind darin untergebracht, die Lüftungsrohre für das Café im Untergeschoss, der Kamin. Die Füße sind quasi durch die Plattform gesteckt, sie verbinden den Platz mit dem Untergeschoss.
Die Stadthalle steht an einigen Stellen sehr nah an den benachbarten Gebäuden. Gab es da keine Probleme mit der Denkmalschutzbehörde?
MVH | Es gab ein paar kleine Auseinandersetzungen, aber erst nach der Fertigstellung. Die Modelle, die wir im Vorfeld präsentiert haben, hat anscheinend keiner so genau angeschaut. Das hat uns schon ein wenig überrascht.
MVH | Und es gibt ja noch diesen Anbau an die Kirche, der vom Abriss verschont wurde. Der ist auch kein „Original“, aber deswegen nicht weniger wichtig als die Kirche selbst.
PR | Man darf nicht vergessen, dass im Mittelalter sehr nah an die Kirchen heran gebaut wurde. Buden, Wohnhäuser, alles war um die Kirche gedrängt. Die Wohnhäuser standen sogar noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dann wurden sie abgerissen.
Hat das Argument der tradierten Enge den Denkmalschutz überzeugt?
PR | Wir haben darüber geredet, dass die Enge sein musste (demonstriert mit Besteck und Kaffeetassen die gewünschten und richtigen Abstände). Es ist wie bei einem Gemälde von Morandi: Wenn man die Gegenstände auf Abstand hält, entsteht keine Spannung, es passiert nichts.
Der Glockenturm aus Sichtbeton, der direkt vor der Fassade der St. Niklaaskerk steht, war dennoch für viele eine Provokation.
PR | Der Glockenturm ist wichtig, er ist wie ein fünfter Fuß des Gebäudes. Und er ist eine Geschichte für sich. Er kam erst relativ spät dazu. Dem Belfried fehlt ein bestimmter Ton, das tiefe „Mi“. Eine Gruppe Engagierter hat die fehlende Glocke eigens in den Niederlanden gießen lassen. Dann stellte sich heraus, dass die neue Glocke zu schwer und zu groß ist, um sie auf den Turm zu heben. Man hätte ein Stück der historischen Belfried-Fassade herausnehmen müssen! Das wollte wiederum die Denkmalschutzbehörde nicht. Doch als wiederum die Glockenfreunde unser Gebäude sahen, wollten sie die Glocke sowieso nicht mehr hergeben. Und so trägt unser neuer Glockenturm eine ganz andere Glocke.
Und was ist mit der eigens produzierten Glocke?
PR | Die hat jetzt irgendjemand im Vorgarten stehen.
Abgesehen von der Glocke wurde der Bau der Stadthalle in vielerlei Hinsicht kontrovers diskutiert. Der Belfried gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe „Belfriede in Belgien und Frankreich“. Auch die UNESCO hat sich kritisch zu dem Neubau geäußert.
PR | Bei der Kritik ging es nicht um das Projekt selbst, sondern darum, dass die Stadt Gent die UNESCO zu spät von dem Bauvorhaben unterrichtet hat. Im Prinzip wurde die UNESCO vor vollendete Tatsachen gestellt.
Gab es nicht Problem mit dem Material Holz in der steinernen Altstadt?
PR | Ja, aber wir wollten ja gerade ein Material, das „minderwertiger“ konnotiert ist als Stein. In der Hierarchie haben wir uns mit einem fragilen, temporären Material quasi unter dem Belfried und den beiden Kirchen eingeordnet.
Warum?
PR | Weil wir bescheidene Leute sind (lacht). Das Gebäude wird hoffentlich die kommenden hundert Jahre an diesem Ort stehen, aber es hat etwas von einem Zelt, einer Holzkiste.
Das Dach wirkt aber keineswegs temporär, sondern sehr haltbar: Über dem Holz ist ein zweites Dach aus Glas angebracht. Warum dieser Aufwand?
MVH | Das hat mit dem Entwurfsprozess zu tun. Am Anfang hatten wir die vielen kleinen Öffnungen im Dach, das waren wirklich Löcher. Dann kamen die Brandschutzauflagen hinzu, und wir haben das Dach mit einer Glashaut versehen. Aber die Grundidee ist noch immer die gleiche.
PR | Wär das Dach nur aus Holz gebaut, müsste man es alle 20 Jahre erneuern, wie einen japanischen Tempel. Das wollten wir nicht. Außerdem sieht das Glasdach je nach Sonnenstand und Lichteinfall anders aus: Es wechselt die Farben wie ein Chamäleon.
Ist die Stadthalle ein Modell für andere mittelalterliche Stadtkerne?
MVH | Sie ist ausschließlich für diesen Ort entworfen.
PR | Sie ist maßgeschneidert, und daran haben wir lange gearbeitet. Das kann man nicht einfach wiederholen. Sie ist keiner dieser architektonischen Pilze, die überall aus dem Boden sprießen.
Ich dachte nicht an einen Nachbau, sondern an den Entwurfsansatz.
PR | Ich kann mir vorstellen, dass man auch an anderen Orten schwierige Räume mit einem einzigen, präzise gesetzen Baukörper neu organisiert. Dafür gibt es ja auch Beispiele, etwa das Monument von Rachel Whiteread auf dem Judenplatz in Wien. Das ist auch ein sehr starker Eingriff, der die Umgebung strukturiert.

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