Spielerisch die Welt vermessen
Wie das Smartphone-Spiel „Pokémon Go“ Augmented Reality aus der Nische geholt hat
Text: Höffken, Stefan, Kaiserslautern
Spielerisch die Welt vermessen
Wie das Smartphone-Spiel „Pokémon Go“ Augmented Reality aus der Nische geholt hat
Text: Höffken, Stefan, Kaiserslautern
Der enorme Erfolg von „Pokémon Go“, einem standortbasierten Smartphone-Spiel, hat innerhalb kürzester Zeit das Phänomen der Augmented Reality (AR) für die breite Masse bekannt gemacht. Das vom Computerspielentwickler Niantic in Kooperation mit Nintendo entwickelte Spiel Pokémon Go wurde bereits über 500 Millionen Mal heruntergeladen. Die Spieler können Tiere, die Pokémons, finden und fangen, diese großziehen und gegeneinander kämpfen lassen. Der besondere Reiz des Spiels liegt darin, dass die Spieler ihren Avatar nur bewegen können, wenn sie sich in der echten Welt bewegen. Denn die Spielwelt basiert auf Karten der realen Umwelt, womit virtuelle und reale Welt miteinander gekoppelt sind.
Über Geolokalisierung durch GPS und Wlan wird der Standort des Nutzers erkannt, so dass er selbst durch die Stadt laufen muss, um im Spiel zu den virtuellen Orten zu kommen. Diese Orte, Pokéstops (vereinfacht Einkaufsorte) und Arenen (zum Austragen von Kämpfen), liegen in „echten” Parks, vor Gebäuden oder Denkmälern. Immer wieder lassen sich Menschen beobachten, die auf ihr Smartphone blickend Plätze und Parks durchstreifen.
Eine solche Nutzung verändert natürlich auch die Wahrnehmung der Städte, in denen besonders viele Pokéstops und Arenen zu finden sind. Der digitale Layer, der an den physischen Raum gebunden ist, fördert neue Verhaltensweisen und Bewegungsmuster. Auch wenn das Spiel selbst im Vordergrund steht, führt dies dazu, dass Menschen durch ihre Städte streifen und neue Gegenden erkunden.
Die Bedeutung der Karten
Das Spiel funktioniert in einer beeindruckenden Genauigkeit und das auf der halben Welt. Die zugrundeliegende Technologie geht auf die Firma Keyhole zurück, die die Grundlage für Google Earth schuf und von Google 2004 aufgekauft wurde. Der frühere Geschäftsführer John Hanke arbeitete bei Google und gründete dort Niantic Labs. Das inzwischen eigenständige Unternehmen Niantic entwickelte das Spiel Ingress, der Vorläufer von Pokémon Go, das weltweit von einer technik-affinen Community gespielt wird. Aufgeteilt in zwei Gruppen, müssen die Ingress-spieler virtuelle Aufgaben lösen und Portale verteidigen.
Da die Nutzer selbst neue Portale vorschlagen können, und diese mit Gebäuden, Kunstwerken oder Parks verbinden, entsteht eine umfangreiche Datensammlung von Orten auf der Welt. Zur Erstellung des Kartenmaterials und zur Identifizierung von besonderen Orten flossen auch Informationen von geolokalisierten Fotos ein. Mittels der millionenfachen Empfehlungen und Bewegungsdaten aus Ingress konnte sichergestellt werden, dass die Orte in Pokémon Go auch von den Spielern erreicht und angenommen werden. Die Spieler helfen also mit, die Daten zu erstellen und zu verifizieren.
Eine neue Anwendung wie Pokémon Go hat natürlich auch unerwünschte Nebeneffekte. Weil am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin eine Arena entstanden war, hat die verantwortliche Stiftung ihre Entfernung gefordert. Und die Bundeswehr führt Gespräche mit Nian-tic über die Entfernung von Pokéstops und Arenen an militärischen Liegenschaften. Nicht nur weil Spieler sich auf Truppenübungsplätze verirrt haben, sondern auch weil damit das Risiko steigt, ausgespäht zu werden.
Mehrwert für den öffentlichen Raum
Pokémon Go ist gelungen, was trotz der immer wiederkehrenden Prognosen zur steigenden Bedeutung von Augmented Reality bisher nie wirklich gelang: AR-Anwendungen über die technik-affinen Zirkel hinaus bekannt zu machen.
Aufgrund der guten Technologie hat es das Spiel geschafft, viele Millionen Menschen zu motivieren, sich vom Sofa zu erheben und die Umgebung zu erkunden. Diese Aktivität fördert die Bewegung und ist gesund. Das ist banal – gleichzeitig sind aber die über 4,6 Milliarden zurückgelegten Kilometer der Spieler nicht ganz unerheblich. Dies wiederum wirkt sich auch auf den öffentlichen Raum aus, der verstärkt genutzt wird. So werden insbesondere Arenen zu gut besuchten Orten, wo Menschen sich treffen und öffentliches Leben entsteht. Der alte Vorwurf, dass die Virtualisierung die Menschen in ihren Wohnungen vor den Bildschirm gefesselt hält, kehrt sich um: digitale Interaktionen beleben den öffentlichen Raum.
Manch ein Nutzer lernt dabei seine Stadt besser kennen, da er zu wichtigen Orten der Stadtgeschichte oder interessanter Street-Art geführt wird – und einen neuen Blick auf die alte Umgebung entwickelt. Dies machen sich bereits Firmen und Kultureinrichtungen zu Nutze und bieten Pokémon-Go-Touren an. Pokémon Go wird damit im besten Falle ein Ortsführer, wie z.B. bei der Pokémon-Tour der Schenectady County Historical Society in New York City, bei der Pokémons gesucht wurden und gleichzeitig Stadtgeschichte vermittelt wurde. Möglicherweise entwickeln sich hierbei neue Formen des Tourismus.
Bedeutender ist die Tatsache, dass Pokémon Go der vielfach erhoffte Türöffner für AR-Anwendungen sein wird. Basierend auf dem Erfolg werden andere Spiele nachziehen und die Bedienbarkeit stetig verbessern. Hierdurch eröffnen sich neue Möglichkeiten zur Kommunikation von stadtraumbezogenen Informationen. AR und in Ergänzung die Virtuelle Realität (VR) – die aktuell mit dem für Smartphones entwickelten Virtual- Reality-Headset „Daydream“ von Google große Medienaufmerksamkeit erfährt – sind mächtige Werkzeuge zur Vermittlung von 3D-Inhalten wie Architektur- und Städtebauentwürfen – gerade in der Kommunikation mit Laien. Zukünftig wird man neue Quartiere erleben, vor Ort die virtuell geschlossene Baulücke anschauen und zwischen mehreren Varianten zur Straßenraumgestaltung entscheiden können. Die 3D-Visualisierung von Bauprojekten mittels AR und VR wird voraussichtlich ebenso selbstverständlich werden, wie es heutzutage Renderings sind.
Das Smartphone als Infrastruktur
Auch der motivierende Gamification- Aspekt ist nicht zu unterschätzen. So werden die Nutzer belohnt, wenn sie Aufgaben lösen, sie können Schritt für Schritt neue Levels erreichen oder Auszeichnungen erhalten. Hier könnte ein Spiel wie Pokémon Go eine interessante Basis-Infrastruktur bilden, auf der neue Anwendungen möglich werden. Beispielsweise Micro-Partizipations-Ansätze, also die kurzweilige, niedrigschwellige Teilhabe, wie etwa das Melden von defekten Ampeln.
Je besser die Darstellung wird, desto höher wird der Anspruch an umfassende und detaillierte Daten. Es ist daher davon auszugehen, dass die Bedeutung von Building Information Modelling (BIM) größer wird. Betrachtet man Projekte wie Google Tango, die mittels Smartphone eine 3D-Echtzeit-Erfassung der Umwelt ermöglichen, und damit höchst präzise Daten der physischen Welt erzeugen, dann ist eine noch genauere und präzisere AR nicht mehr weit entfernt. Bereits jetzt sind die überall verbreiteten Smartphones die Infrastruktur, die perspektivisch eine noch genauere Vermessung der Welt befördert. Pokémon Go hat Menschen auf die Straße, in den öffentlichen Raum gebracht. Seien wir gespannt, was als nächstes passiert.
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